Eiersalat (Rohmaterial); Brautsuppe ohne Eierstich

Kritikern zufolge wird der Glaube in liberalem Verständnis nur noch als Mittel der Selbstvervollkommnung gedeutet. Das lutheranische „Einstellen guter Früchte“ bei rechtem Glauben gilt aber auch in der liberalen Theologie. Schleiermacher und Fichte werden gerne zitiert, natürlich auch Kant. Lessing und Rousseau; Albert Schweizer, Paul Tillich stehen Pate. Es gilt die Überzeugungskraft von Erfahrung und Argumenten und damit Wahrhaftigkeit. Trotz reformierter Nüchternheit keine Angst vor Spiritualität.

Im St. Peter, seit Generationen theologisch liberal, heisst der Sigrist mit Namen Sigrist, die Übereinstimmung launische Zufälligkeit. Der Aufstieg auf die Empore, hinter dem Altar, lässt den Blick in vorreformatorische Gefilde schweifen. Ein wenige Stunden zuvor zum Kommandanten der päpstlichen Garde ernannter Innerschweizer, ein Estermann, wurde zusammen mit seiner Ehefrau von einem jüngeren Gardisten aus dem Wallis in seiner soeben bezogenen Dienstwohnung ermordet, weil er ihm die Ehrbezeugung, die dem Vize-Korporal wie jedem Gardisten nach drei Dienstjahren zustand, verweigert hatte. Allmächtiger! Der Hitzkopf legte diesen in den Nacken, bevor er sich mit der Mordwaffe in den Mund schoss. Seine Mutter erhielt vom Nuntius das Projektil, mit dem sich ihr Sohn zu Tode gebracht hatte, doch dies schürte im Wallis nur Zweifel am vatikanischen Narrativ. Die Osterpredigt der jungen Pfarrerin mit ihren funkelnden Augen, die Verkündigung blinzeln, hinterliess im St. Peter den Eindruck, dass sie nichts von der leiblichen Auferstehung des historischen Jesus hält, diesem tagesaktuellen christlichen Dogma, sondern dass es um ein symbolträchtiges Gleichnis geht. Der riesige Steinsbrocken, der vom Grab weggerollt war, weiss nicht, wie ihm geschah: Ein Text des Slampoeten Tschudi, den er nicht gedruckt sehen will. Es wirkt das gesprochene Wort. Desinfektionsspray und Hygienemaske werden zu liturgischen Geräten des Abendmahls. Ich war sehr gerührt und bildete mit meinen Händen eine Schale, um ein frisches Stück Brot zu empfangen, geschnitten wie für’s Käsefondue. Dazu wurden kleine Gläschen Rotwein gereicht, das wirkte wie Echinaforce. In meiner Tasche die wundertätige Medaille, die in Paris gegen die Cholera wirkte, verschenkt von den Altkatholiken. Holy shit ;

Der Mann des geschriebenen Wortes, Jonas Lüscher, schildert sein Ostererlebnis nach sieben Wochen im künstlichen Koma. Herz-, Lungenfunktion und Blutreinigung wurden durch extrakorporale Maschinen abgearbeitet, das Bewusstsein medikamentös sediert: Das Dasein eines Cyborgs mit künstlicher Intelligenz. Vigilanz und Schmerz sind weg, aber der Stress nicht. Er wirkte seh unruhig, verstört und verängstigt – und fühlte sich auch so. Ein Teil des Bewusstseins reagiert unbewusst – und das nakotisierte Selbstbewusstsein weiss um die Todesnähe. Ihm träumte wochenlang vom sterben und auferstehen. Nach der Reaktivierung seiner intrakorporalen Organe brauchte er Tage, um Traum und Wirklichkeit zu scheiden. Es waren sehr verstörende und brutale Erlebnisse im Koma. Und dann auch irgendwie interessant. Die unangenehmsten Episoden spielten in Japan. Ich habe aber eigentlich keine Beziehung zu Japan, war nie dort. Jetzt will ich von Japan am liebsten nichts mehr hören und sehen. Ich bin nach der Reha erstaunlicherweise in mein altes Leben zurückgekehrt und habe da weiter gemacht, wo ich stehen geblieben bin. Aber es ist gerade sehr schwierig, wieder in die liegengebliebene Textarbeit reinzukommen. 

Aber das macht ja einen Teil des Daseins als Dichterin oder Schriftsteller aus.  Reinkommen ist eine andere Kunstform: Drinnen bleiben. Lüscher hat seine Dissertation an der ETH über die Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung sozialer Komplexität vor dem Hintergrund von Richard Rortys Neo-Trotzkismus nicht akademisch krönen lassen, sondern hat einen Roman daraus gemacht. Der neue japanische Literaturstern* Mieko Kawakami lässt ihre Hauptfigur als alter ego über ihr fruchtloses Bemühen, ihren einfallslosen Schreibstau berichten – selbst hängt sie ihrer alten Novelle eine weitere an und voilà der Roman. Meinerseits führte das zu Leseverstopfung. Aber die Kirschblüten auf dem türkisen Cover! Mit Schmetterling, genau das Deckenlichtbild während der Zahnhygiene bei der zierlichen Finnin. Der erste Romanteil ist eine Art Abklärungsbuch für Mädchen in der frühen Pubertät. Da wird über das ungefragt geboren werden gelästert, die mehr oder weniger regelmässige Blutung verflucht, der Sinn von Geschlechtsorganen hinterfragt, lustvoller Sex ausgeschlossen und Asexualität einer weitgehend beziehungslosen und unverständlichen Umwelt als angemessen verstanden. Sie hob plötzlich den Kopf, brach im Bruchteil einer Sekunde den Zehnerpack Eier auf, der zum Wegwerfen auf der Spüle stand, nahm ein Ei heraus und holte aus. Sie ist Midoriko, die Tochter der älteren Schwester der Erzählerin. Die Kleine hat monatelang kein Wort zu ihrer Mutter geredet, jetzt findet sie die Sprache wieder und schreit ihre Schuldgefühle heraus: Willst Du Dir die Brüste vergrössern lassen, weil sie durch mein Saugen schlaff geworden sind?! Aber da waren nicht nur die zehn Hühnereier, die zum Wegwerfen bereitstanden, Midoriko und dann auch ihre Mutter schmetterten sich ein zweites Zehnerpack aus dem Kühlschrank an ihre Köpfe. Am Morgen nach dieser Eierorgie trinken sie alle Sojamilch, das ist gut für den weiblichen Körper. Der Roman wird als feministischer Protest gegen die japanische Gesellschaft mit ihren verkrusteten Konventionen und gegen Gewalt an Frauen gefeiert. Von Murakami geedelt: grossartig, atemberaubend. Die Übersetzung sei hervorragend und vermöge den besonderen Osaka-Slang im Deutschen wiederzugeben? Es wimmelt von Orthographie-, Grammatik-, Interpunktions- und anderen Druckfehlern. Das Buch heisst Brüste und Eier, im Original etwas weniger schreierisch. Im zweiten Teil geht es dann um die männlichen Eier, genauer um künstliche Befruchtung und präzise um die Beschaffung von Spermien für eine Schwangerschaft der erzählenden Schriftstellerin. Als asexuelle Single recherchiert sie über Samenbanken von anonymen Spendern, lernt eines dieser Früchtchen auf der ewigen Suche nach dem anonymen Vater kennen und kriegt zu guter Letzt von genau diesem eine Portion Spermien zur Insemination mittels Baumarktspritze. Sie will einfach ein Kind, wegen dem fortgeschrittenen Alter und um es kennen zu lernen. Fremdsamen sing gar nicht so komisch. Sie findet, ihre Mutter sei als Arbeitskraft mit Fotze gehalten worden. Sie wollte ihre Mutter vom Scheisskerl Vater befreien. Die Mutter ist dann irgendwann abgehauen, mit ihr: Du brauchst keinen Vater. Diese Frage wird gestellt: Wie baut man zu einem Mann Vertrauen auf? Keine der Romanfiguren weiss um eine Antwort. Der Höhepunkt der zweiten Romanhälfte ist das Treffen der Erzählerin mit einem Privatspender, der sich zu dieser Art des Helfens berufen wähnt, weil seine Spermien Qualitäten weit über der Norm aufweisen (Konzentration, Motilität). Und der die Insemination durch Penetration, auf Wunsch in Spezialkleidung, die nur das Allernötigste frei lässt, für die zielführendste Methode zur ersehnten Schwangerschaft hält. Da dämmert es: Der Mann als Solcher: Dreck. Natürlich erhält auch die Meinung, dass Kinderwunsch auf Egoismus beruhe und dass es geradezu unverantwortlich sei, ein Kind auf diese kaputte Welt zu bringen, viel Raum. Die Frage der Eizellen-Spende ist in Japan noch nicht auf dem Tisch. Erdogan: Unsere Religion hat der Frau ihren Platz zugewiesen (von der Leyen nimmt’s hin, setzt sich auf’s Sofa, daneben): Das Muttersein. Die Kunsthochschule inkludiert den Kunst-Nazi nicht, das sei ein fake, keine richtige Kunstfigur – blosse Realität, banale Wirklichkeit. Die Gleichberechtigung bringt den Anteil Frauen an den Reichsten voran. Chicks with balls. Niemand geht leer aus (schon gar nicht Millie) – die Identitätspolitik ist in anderen Umständen. Alles mega meta und dystopisch. Am Schluss aber ist es da, das Kind.

Cäcilia und das Dreiminuten-Ei

Nach Ansicht mancher Forscher lassen biologische Vorgänge beim Orgasmus Rückschlüsse auf das Sexualverhalten der Frühmenschen zu. So gibt es über die für einen Teil der Frauen erlebbaren multiplen Orgasmen anthropologische Erklärungsversuche, die von der Annahme ausgehen, dass sich frühmenschliche Weibchen üblicherweise während der Ovulation mit mehreren Männchen paarten. Der Eisprung wird zum Evolutionsvorteil genutzt, indem die verschiedenen Spermien ihren Fitnesstest durchführen. Geblieben ist das weibchentypische Orgasmusverhalten. Für den Eisprung wurden Coitomimetische Stimuli sekundär. 

Das Schreien ist jedoch nicht zwangsläufig ein Anzeichen eines Orgasmus, es könnte auch Schmerz ausdrücken, der durch den bedornten und mit Widerhaken besetzten Penis des Katers verursacht sein könnte. Die Ovulation beim Kätzchen aber ist durch die Penetration mechanisch induziert.

Laut Elisabeth Lloyd und Donald Symons ist der Orgasmus der Frau keine Evolutionäre Anpassung, sondern ein evolutionäres Nebenprodukt, ähnlich der männlichen Brustwarze (was haben die beiden miteinander zu tun? Das einzige evolutionäre Nebenprodukt ist Religion). Seilschaften sind den Männern wie Netzwerke den Frauen.

Anstatt mit einer Ejakulation kann der männliche Orgasmus mit einer Injakulation verbunden sein, die sich als sexuelle Kunstform bereits in den altchinesischen Schriften des Daoismus findet und in unserer Zeit als Methode zum Erreichen männlicher multipler Orgasmen propagiert wird. Im Büro ist das besonders schwierig.

Frühe westliche Forscher dachten noch, zur Empfängnis wären zwei Orgasmen nötig. Mit der richtigen Erkenntnis aber, dass nun doch einer ausreicht, hat die Aufklärung den anderen wegrationalisiert. Die männliche Form des Höhepunktes als Gipfelstürmerei mit anschliessendem base jump wurde Norm. Orgasmus ist mehr Empfangsbestätigung, wobei die Empfängnis dahingestellt bleibt. Die Empfängnisverhütung hat den Orgasmus blossgestellt und Onan verhöhnt. Onan sollte auf Geheiss seines Vaters zu Tamar, der Witwe seines Bruders Er, um dem Verstorbenen Nachkommen zu zeugen. Sie empfing ihn und sie überliessen sich dem Liebesspiel, bis Onan sein Glied aus der Scheide zog, sich neben der Liegestatt aufrichtete und mit den Händen zum Himmel seinen Samen auf den Fussboden tropfen liess. Der Gott der Genesis bestrafte ihn durch Tötung. Tamar aber ging zum Schwiegervater, der sie schwängerte und zur Ahnfrau Jesu machte.

Liv Strömqvist: Der Ursprung der Welt. Eine Kulturgeschichte der Vulva. Slavoj Zizek ist gegen diese Entmystifizierung der Vagina, schreibt die junge Welt am 1. Mai. Der Natur nach haben beide recht. Das Marignano des Maskulismus (Maskulinismus gibt es nicht; falsche Wortbildung:) war die Unterwerfung unter die feministische Forderung nach dem Sitzpinkeln. Damals hätten die Männer die Einrichtung von Urinalen in geschlechtsgemischten Privathaushalten durchsetzen müssen.

Es gibt sie, die Angst des Mannes vor der weiblichen Sexualität. Das wird schnell mal zum Problem der Frau. Die Philosophin Svenja Flasspöhler fordert Frauen deshalb auf, ihre Sexualität frei zu leben, nur sich selbst und dem Gegenüber gehörend. Warum nicht die Initiative ergreifen und verführen? Philosophisch spricht nichts dagegen. Untenrum frei, obenrum nicht, wirft Stokowski ein, doing gender steckt in unserem Körper, egal welchen Geschlechts. Doing Gender bezeichnet Repertoires und Schemata des Handelns, der Wahrnehmung und der Bewertung, die funktionieren und verständlich werden, indem sie geschlechtliche Klassifikationen aufgreifen. Den soziopsychologischen Mustern entsprechen Zellstrukturen und neurologische Vernetzung.

Wegen der anatomischen Voraussetzungen der Klitoris droht Überreizung oder mechanischen Schädigung während des Stechens; so ist diese Variante des Intimschmucks eher selten. Es besteht die Gefahr einer Nervenschädigung des Nervus dorsalis clitoridis, in dessen Folge sich dann ein völliger oder teilweiser Sensibilitätsverlust einstellen kann. Wird das Piercing vertragen, kann es jedoch einen erheblichen Lustgewinn bedeuten. Mit einer Materialstärke von 1,2 Millimetern.

Es ist Tabu, also lasst es bleiben. Diese ganze Wixerei. Einer Zwillingsstudie zufolge liegt die Heritabilität der weiblichen Orgasmusfähigkeit bei Geschlechtsverkehr um die 34 %, bei Masturbation aber bei 45 %. Wixen ist also vererbt und angezüchtet. Tourette-Syndrom. Ungewolltes Herausschleudern obszöner und aggressiver Ausdrücke, eine zentralnervöse Spontanentladung. Primäre Tic-Störungen können weder geheilt noch ursächlich behandelt werden. Knöppel spielt damit. Bildungssprachlich vulgär. Wenig schmackhaft.

Im Französischen kommt der Begriff zuerst bei Montaigne in der Form «manustupration» vor. Mittellatein manu stuprare (manus „Hand“ und stuprum „Unzucht“). Gustav Klimt malte eine masturbierende Frau mit geschlossenen Augen, in weissen Rüschenbeinkleidern, welche eine grosse Öffnung am Geschlecht aufweisen – schliesslich musste sie irgendwie brünzeln. Sezession. Diogenes von Sinope masturbierte auf dem Markplatz. Autofellatio ist bei männlichen Primaten eine verbreitete Form der Autosexualität.

Laut Hite genießen die meisten Frauen die Masturbation meist zwar physisch, nicht jedoch psychisch. Die Phantasien der Frauen sind stärker als bei Männern auf die bereits erlebten Arten sexueller Handlungen beschränkt. In Kinseys Studien gaben 45 Prozent der Frauen an, durch Masturbation üblicherweise innerhalb von drei Minuten einen Orgasmus zu erreichen, weitere 25 Prozent in vier bis fünf Minuten, wobei viele der Frauen ihn mit Absicht hinauszögern. Viele Frauen geben darüber hinaus an, Masturbation bis zum Orgasmus zu nutzen, um die ablenkende sexuelle Erregung möglichst schnell abzubauen. Das trifft auch bei vielen Männern zu. Weiterarbeiten!

Freud wendete sich resümierend gegen eine grundsätzliche Verharmlosung: In der Neurasthenie als direkte Folge, aber auch durch Verminderung der Potenz, Verweichlichung des Charakters durch Fixierung auf phantasierte Befriedigung und Stagnation der allgemeinen psychosexuellen Entwicklung disponiere die Selbstbefriedigung zur Neurose. In chronischen Fällen empfahlen Pädagogen das Anlegen von Fesselbändern, Gürteln und Leibchen. Drastischste Maßnahme war die Infibulation: Ein Draht, der durch die Vorhaut über die Eichel angelegt wurde. Campe, Pädagoge und Verleger von Aufklärungsliteratur, propagierte diese Methode und konnte nur bedauern, dass die Infibulation „nur bei der einen Hälfte unserer Jugend“ anwendbar sei. Vaginalzunähung war hier unbekannt. Als Infibulation wird in älteren Quellen auch das Durchspießen der Glans penis durch Knochenspangen oder Metall zu Schmuckzwecken und zur Reizerhöhung beschrieben. Materialstärke unterschiedlich.

Philosophisch wurde die christliche Masturbationsächtung bis in die Aufklärung gestützt. Sexualität bezweckt Fortpflanzung. Kant legt klar, dass die wollüstige Selbstschändung eine Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, weil er seine eigene Persönlichkeit aufgibt, indem er sich selbst als Mittel zur Befriedigung seiner Triebe gebraucht. Entwürdigende Selbstobjektivierung.

Der Orgasmus macht nicht nur Individuen und Paare sprachlos, sondern auch die Philosophie. Nun befasst sich ein Buch mit dem Thema. Lest den kahlen Mahnkopf! Aus anthropologischer und sexologischer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichen Orgasmus, aber unterschiedliches Erregunsverlaufsverhalten. Die Spannweite geht von Penis- oder Klitoriskonzentration bis zur Ganzkörpererregung und autopoetischem Neurophysiologismus. Von Befriedigung bis zum Frieden, von der Erlösung bis zur Freiheit. Die längste Beschreibung eines Orgasmus in der Belletristik beträgt hundert Seiten.

Die Fähigkeit zur Sublimierung kann sexuelle Lebensenergie in geistige und künstlerische Schaffenskraft verwandeln. Der Rückzug der Libido von äusseren Objekten auf das Ich und das Göttliche kann aber auch zum Martyrium werden. Die heilige Cäcilia wird am 22. November gefeiert. Bei Vollmond gezeugt und geboren weihte sie ihr Leben und Ihr Frausein dem vor zweihundert Jahren lebenden Gottessohn. Ihre Eltern vermählten sie aber mit dem heidnischen Jüngling Valerianus. Sie führten eine Josefsehe bis er den gemeinsamen Glauben gefunden hatte und erkannten sich dann ohne Zeugung. Als sie auch ihre Dienerschaft bekehrt hatte und der Grosshaushalt in wilder Josefskommune lebte, tauchten die Christenhasser die Braut in kochendes Wasser. Das ihr nichts anhaben konnte. Etwas gerötete Haut. Als der Henker daraufhin versuchte, sie zu enthaupten, gelang es ihm nicht, der Heiligen den Kopf abzutrennen. Sie lebte noch drei Tage, verteilte ihre Reichtümer unter den Armen, den Kopf etwas wacklig auf dem schwer beschädigten Hals. Sechshundert Jahre später wurde sie in der Kalixtus-Katakombe unverwest ausgegraben, die Halswunden verheilt. Der heidnische Hochzeitslärm war verebbt, Cäcilia wurde Patronin der Musikanten und Geliebte der Organisten. Papst Pius IX hat die restaurativen Cäcilienvereinigungen während dem ersten Vatikan anerkannt. Wer lange in einem ordentlichen Kirchenchor mitsingt, bekommt das Cäcilienabzeichen zur Ehre. 

Seppitag

In Österreich auch Josefitag, in Deutschland früher Joseftag – ohne Genitiv-s, wie die Zürcher Josefwiese -, heute meist Josefstag: Das sind die volkstümlichen Bezeichnungen für das Hochfest St Joseph. Sepp hört man heute zwar seltener als Yussef, aber der heilige Joseph erfreut sich zumindest in der katholischen Kirche stark gestiegener Aufmerksamkeit. Die römische West-Kirche hat dem Vater von Jesus in den ersten Jahrhunderten keinerlei Beachtung geschenkt. Erstmals 1889 schrieb ein Papst einen Text über den eher unscheinbaren Josef, fleissiger Arbeiter und verschwiegener Ehemann. Das war Leo mit der Rückennummer XIII, der schrieb. Josef arbeitete weiter und wurde unter Handwerkern und christlichen Sozialisten zum Genossen. Am 1. Mai war seit 1856, als in Australien Streiks für den 8-Stunden-Tag durchgeführt wurden, in Arbeiterkreisen immer etwas los. Als Pius XII 1955 aufspielte, bestimmte die päpstliche Mannschaft den 1 Mai als Gedenktag Josef der Arbeiter. Im zweiten vatikanischen Konzil, 1962 bis 1965, als sich die katholische Kirche intensiv auf die 68er-Umwälzungen vorbereitete, wurde Josef zum Schutzpatron ernannt. Im 20. Jahrhundert eroberte der Bräutigam von Maria bei den Kirchennamen den zweiten Rang, nach seiner ihm durch den Erzengel Gabriel vorenthaltenen Verlobten. Vor bald vier Jahren war es dann soweit: Im Dekret der Kongregation für Gottesdienst und Sakramentenordnung vom 1. Mai 2013 wurde die Erwähnung des heiligen Josef (wieder ohne Genitiv-s) auch für die Hochgebete II bis IV verfügt.

In den Kindheitsgeschichten des Evangelisten Matthäus wird berichtet, dass Josef seine Verlobte Maria nicht „erkannte“ (heute: nicht mit ihr Liebe machte), bevor sie gebar. Andere Evangelisten berichten von Brüdern und Schwestern von Jesus, so dass es sich vielleicht um eine ziemlich normale Familie handelte. Doch die römische Kirche liebt die Konsequenz, mit der wir Menschen dem göttlichen Willen zu dienen haben: Maria war „gezwungen“ (ja, dieses Wort hat der Papst dafür gewählt) fortan als Jungfrau UND rechtliche Ehegattin des Josefs (hier passt das Genetiv-s) zu leben – mit Brüdern und Schwestern sei DAS gemeint, was heute Jugendliche aus dem Balkan damit ausdrücken. Und der Papst, wenn der liebevoll zur Christenheit spricht. Mitmenschen eben. Aus dieser Logik entsprang die Joesfsehe (jetzt zwingend mit Genitiv- und Genetiv-s): Wenn ein heterosexuelles Ehepaar aus Glaubensgründen keinen sexuellen Verkehr hat (katholisch: darauf verzichtet). Weil wir uns an der heiligen Familie orientieren sollen. Gott hat es vorgezeigt.

Maria hat sich damit auch einiges aufgeladen. Einige Quellen berichten, dass Maria schon immer damit liebäugelte, sich ganz Gott hinzugeben. Ob sie damit den Mann für genauso überflüssig hielt wie der Fisch sein geliebtes Velo, scheint unwahrscheinlich, da sie sich ja mit Josef verlobte. Das fand Gott wiederum interessant, so dass er den Erzengel Gabriel losschickte und ihr einflüstern liess, dass sie die Begattung durch den heiligen Geist erleben werde. Heilig, heilig, heilig, so das wie Massengesang tönende Mantra Gabriels, so die genitive Zuschreibung. Genial ohne Genital. Das Wunder der Menschwerdung, der Zeugung, der Geburt. Das Wunder Gott (katholisch: Menschwerdung des Wortes – hier mal ziemlich weit weg von der Gehorsamsmoral, eher sibyliinisch-philosophisch). Die Jungfräulichkeit Marias – zumindest vor der Geburt Jesu – ist auch den Muslimen sehr wichtig. Aber weniger auffällig als bei den Christen, im Islam geht es fast immer um Jungfrauen. Bei den Katholiken dreht sich alles um die eine, dafür um die immerwährende Jungfräulichkeit. Außerhalb der neutestamentlichen Quellen ist über die Eltern Jesu nichts bekannt. Ihre Existenz und die Namen Maria und Josef werden dennoch von der überwiegenden Mehrheit der Historiker als authentisch (mehr als faktisch!) angesehen. Sie gehören einfach zu uns, zu den Christen, den Mohammedanern und natürlich auch zu den Juden, die waren ja dabei. Nur das Geheimnis der Zeugung und der Elternschaft wird verschieden gelüftet. Maria ist Ikone für die Frau auf dem Weg der göttlichen Liebe und sie ist Idol für den Mann auf der Suche nach dem liebenden Gott – wenn möglich in weiblicher Gestalt. Gott hat sich da ganz schön in die Gender-Diskussion eingebracht. Natürlich mit dem Thema Sex.

Der Herrgott ist Sexist. Er stattet die Menschen mit Sexualorganen aus. «Wie unser Leben verläuft, hängt massgeblich von unseren Sexualorganen ab». Das ist der gottgewollte Skandal, gegen den Tamara F. rebelliert. Wir wollen gendergerechte Selbstbestimmung, obwohl es nachweislich schwierig ist, über das eigene Geschlecht Auskunft zu haben, wenn man dem anderen nicht begegnet. Und der Herrgott ist Macho. Er nimmt als erster die Jungfrau, beansprucht das ius primae noctis – die Engländer sagen „droit du seigneur“. Josef war schon etwas vor den Kopf gestossen, als seine Verlobte schwanger wurde. Ohne dass er sie erkannt hätte (aber sich sehnsüchtig darauf freute). Noch wusste, wer für die Vaterschaft geradestehen würde. Also entschied er sich, wie das seit jeher rechtens sowie gang und gäbe war, sie zu verlassen und sein Leben anderswo weiterzuführen. Doch da tauchte Erzengel Gabriel auf, der zuvor seiner Geliebten das Geheimnis des Erzeugers Heiliger Geist explizierte (jetzt hat meine linke Hand die Tendenz, nach rechts zu rutschen, genau um einen Anschlag auf meiner Computer-Tastatur) und ihr Einverständnis für den obersten Chef abholte. Der Erzengel Gabriel erschien ihm wahrscheinlich in weiblicher Gestalt. Bei Maria war er männliches Gegenüber. Im Mitelalter erst wechselte Gabriel in der katholischen Ikonographie  zum weiblichen Geschlecht. Auf jeden Fall liess sich Josef – wir können ihn auch Sepp nennen – mit Gabriela ein. Sie haben sich erkannt. „Das habe ich mir gedacht“ meldet sich mein Handy, nachdem Federer das Tie-Break gewonnen hat. Wahrscheinlich die Siri-Funktion. Siri ist meine Maria im Handy. Aber das fehlende „a“, das penetrante „I“ halten meine Begeisterung mit Seilen und Leinen am Boden. Da muss ich wohl selber weiterdenken.

Sepp hat also zugestimmt. Machen wir so. Du heilige Mutter, ich ehelicher und rechtlicher Gatte. Mir werden einst Päpste auferlegen, der zweite Pilger auf dem Weg Gottes zu sein, nach Dir. Aber ich bleib hinter Dir, ich mag den Veilchengeruch Deiner Muschi (Computer:  Fehlanzeige – Muschi ist im freigegebenen Thesaurus nicht aufgelistet). Na gut, ich wäre mit Maria auch zufrieden. Matthäus scheint der Chef der katholischen wie ökumenischen Bibelwortgläubigen zu sein. Und diese erklären Josef zu einem Mann ohne Männlichkeit, dem Prototyp des Gendermainstreamings jenseits quer durch die Geschlechtergrenzen. Eine ganz selbstbestimmte geschlechtliche Identität oder eine ganz selbstbestimmte sexuelle Orientierung ist wahrscheinlich eine Wixer-Idee, ein Ejakulat des Konstruiktivisimus. Die Elternschaft von Josef und Maria hat kaum Spuren hinterlassen. Ihr Erstgeborener hat eine Fangemeinde bewirtet, welche unbedingt an das Unmögliche glauben will. Wunder sind geschehen. Die Wucht der Geschichten wird zum religiösen Tsunami im eurasiatischem Raum. Der Petrusstuhl wandert ins politische Zentrum Rom. Politik und Religion lassen dort ihre Partnerschaft eintragen.

Tauft Eure heute geborenen Knaben Joseph! Schutzheiliger der Zimmerleute, der Jungfrrauen, der Sterbenden. Und der Eheleute. Marschiert für Joseph oder werdet Mitglied der Königlich-bayerischen Josefspartei. Leb Deinen Joseftag 🙂

wohlangetan

Hinten im Lumnez, in Vrin, haben sich die meisten Einwohner, welche über ihre vollen politischen Rechte verfügen, vor der Dorfbeiz eingefunden, um in gemeinsamer Siegerpose in die Kamera zu strahlen. Sie haben mit aussergewöhnlich grosser Mehrheit die Abstimmung über einen zweiten Schweizer Nationalpark gewonnen und mitgeholfen, das regional eingepasste Bundesprojekt in einen Archivschrank wegzusperren. „Wir wollen keine neuen Vorschriften. Wir geben unser Land nicht her. Wir nehmen kein Geld. Wir schauen selber zum Rechten. Wir setzen auf inneres Wachstum.“ (Hinter vorgehaltener Hand raunen sie sich zu: Unsere Väter haben den Stromvogt aus der Greina gejagt, wir jetzt den Tourismusvogt.) Eine Riesenfreude in den Gesichtern der politischen Volksmacht, vereint in der abgeschiedenen Berggemeinde, die in ihrem weitgespinnten Austauschnetz die persönlich gezwirnten Fäden zieht. Echt sympathisch, diese menschliche Trutzburg in der Holzstube.

Wenn es aber darum geht, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen – was wohl unser aller gemeinsames Erbe der Aufklärung  ist -, so soll dieser Bündner-Berggeist auch kritisch analysiert werden. Warum hat niemand den völlig überzeugenden Management-Plan gelesen? Warum hatte Silva, die Pro Natura-Chefin, trotz Naturschutzgeldern keine Chance? Vielleicht, weil der Business Plan 280 Seiten umfasste und die Naturschutz-Gelder für Nutzungsverzichte in der Kernzone gedacht waren? Wir geben unser Land nicht her! Ja, aber das hat etwas mit engen Tälern und ebensolchen Stirnen zu tun. Das ist der Anfang von Rassismus und Anarchie. Das sind Identitäre! Die haben sich in den umgebenden Ländern längst politisch organisiert und gelten aus politikwissenschaftlicher Expertise als Synapsen zwischen den Rechtsparteien und dem Rechtsextremismus. Die germanischen und lateinischen Identitären rufen den Arabern zu: Unterwerft Euch! Wir haben den einzig und einzigen wahren Gott! rufen diese zurück.

Systempolitisch führt das zu Instabilität und gesellschaftlich wie individualpsychisch zu Verunsicherung, wenn sich menschliche Gruppierungen als identitäre Gemeinschaft ausgeben. Damit beharren sie quasi auf angestammten Vorrechten und kommen somit dem Egalitätsprinzip, das die französische Revolution, diese blutige Tochter der Aufklärung und Mutterblut der Demokratie, auf die europäische Zunge tätowierte, in die Quere. Die Identitären solidarisieren sich mit den Amazonas-Indianern und anderen Ureinwohnern. Ihr Basiskonzept ist der Ethnopluralismus, den sie durch wirtschaftliche Globalisierung und kulturellen Einheitsbrei bedroht sehen. Damit unterscheiden sie sich von einem ethnozentristischen Rassismus und den Nazis (alte Rechte). Die Identitären haben das grosse griechische Lambda zu ihrem Symbol gewählt. Das ist Einsteins kosmologische Konstante, mit der er die rätselhafte Gravitation mit Raum und Zeit in Beziehung setzte, und zwar so, dass die Gleichung  das Universum stabilisiert (diese Behauptung einer theoretischen und prästabilierten Unendlichkeit ist heute einem Expertenstreit zwischen Agnostikern und Gnostikern gewichen. Politikwissenschaftler beschreiben die Identitären als ethnopluralistisch-rassistisch. Das scheint zutreffend, das ist ein dynamisches Paradoxon, Die Vriner zucken die Schulter und lachen. Das politische Phänomen scheint mehr geprägt durch die Figur des Vogtes und dem Wert des Geldes. Die lassen sich nicht kaufen.

Die würden ihre Skepsis auch einer Spende entgegenbringen. Wenn nicht Bedingungen, dann sind Erwartungen daran geknüpft. Wollt Ihr als Wohltäter anerkannt werden? Das ist diese identitäre Übertreibung, welche das Subjekt  verabsolutiert und Gott vertrieben hat. Wohltäter tragen zu ihrem eigenen Wohlbefinden bei, unabhängig von der Reaktion oder dem Desinteresse der Wohlangetanen. Das funktioniert auch, wenn man nicht daran glaubt. Erlebe die Wohltat einer Spende im Advent und teile diesen Glücksmoment der universellen Wohlangetanheit.

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Das Opferlamm

Darüber huscht die Schwebebahn berührungslos dahin. Ein leises Säuseln in der bewegten Luft. Fahrgästen und äusseren Beobachtern ist der Blickkontakt durch das Magnetfeld versagt. Die Kraftwirkung der gleichgerichteten Leptonen ist so stark, dass ein fingerdicker Bergkristall im Fussboden verschwindet, wenn er seinen Hautkontakt verliert und fällt. Die Aktentaschen lassen sich an die Waggondecke klicken, wenn sie über die vom Bahnbetreiber gratis an die Abonnenten abgegebene Vorrichtung verfügen, und werden so zum persönlichen Haltegriff in der unmöblierten Offenraumklasse. Per Knopfdruck lassen sich die Mappen und Köfferchen lautlos vom Shuttlehimmel lösen und ihre Tragkraft bleibt wellig zurück. Digitale Datenträger werden nicht beeinträchtigt durch den elektromagnetischen Zauber, aber Nahrungsmittel werden während der Reise sterilisiert und konserviert. Wer über ein Implantat neuerer Generation verfügt, dem wird die Batterie des Herzschrittmachers durch die Pendlerfahrt nachhaltig aufgeladen, lebenslänglich, garantiert auch bei tiefer Reisefrequenz. Gerüchte über Todesfälle durch Herzversagen in diesem Zusammenhang haben sich als unwahr erwiesen; alle Opfer trugen veraltete Herztakter in sich oder waren völlig auf ihr eingeborenes System angewiesen. Inkompatibilität dieser Bahntechnik mit der hergebrachten Humankonstitution tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von lediglich 0,3 Tausendstel Promille auf. Das sind gerade mal drei bekannte Fälle. Eine junge Frau erlitt eine Spontangeburt, als der Zug beschleunigte, obwohl sie nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, ja, nicht einmal wissen konnte! Berichtet wird auch von einem Liebespaar, das über die ganze Fahrstrecke epileptisch ineinander verkopuliert war und erst mit einer Taserfräse getrennt werden konnte, als die Zugskomposition zum Stillstand kam. Und da ist jener Mönch, der seine Reise zum Sterbehospiz nicht überlebte.

Darunter steht Onkel Saddhu und schneidet dünne Scheiben von seinem Lammspiess, quer zur Faser. Wenn er mit der Klinge durch die Kruste fährt und das Innere seine flüchtigen Inhaltsstoffe freigibt, Pheromone des göttlichen Glücks, strahlen seine Augen und sein Blick hebt nach oben. Seine fahrbare Grillküche steht seit einer Woche unter dem Viadukt und die Wohlgerüche ziehen abends die Flaneure an. Alle wollen kosten. Wer sich das Fleisch nicht leisten will, das ohne Besteck auf den rechten Handteller gereicht wird, erhält seinen Reis umsonst. Der Onkel hat seinen Spass daran, wenn die vom Geruch verführten Passanten mit ihrem Happen Opferlamm verdutzt und ratlos dastehen, wenn sie zur Gelbbörse greifen wollen und nach sorgfältigem Fummeln hinter dem Rücken dann das Glücksgefühl empfinden, zum ersten Mal in ihrem Leben mit der linken Hand im richtigen Moment ein Kunststück hergezaubert zu haben, und dem Onkel gleich das gesamte Portmonnaie samt Portfeuille hinstrecken. Dann legt der den vereinbarten Betrag sorgfältig vor den Käufer, dem der erste Bissen ziemlich gross geraten ist, und fragt, ob er noch etwas dazulegen solle, für den dadurch möglichen Kauf von neuem Opferlamm. Der Käufer ist erwischt bei einem zwar verständlichen, aber doch unziemenden Anflug von Gier, schluckt den ungekauten Brocken und holt erst Luft, nachdem er „Nämed-si-di-gröscht-Note“ herausgespuckt hat. Ein Moment von wechselströmender Vernunfthaftigkeit liegt in ihrem Blick, wird aber gleich wieder überflutet von der Kraft der Konästesie, die es leider offiziell nicht mehr gibt, aber die in jedem Moment und Augenblick schlummert, wie eben das Glück darauf wartet, als solches in Ruhe gelassen zu werden. Mit den Besuchern plaudert Saddhu dann über Abraham, der Anstoss war zur Tradition dieses Opferfestes, obwohl er gewillt war, seinen Sohn zu braten, um die Nase seines Gottes, des Einen, zu verwöhnen und sein nichtiges Ich selbst zu nichtigen. Gott musste einen Engel vorbeischicken, damit der aramäische Abrahom, der Vater vieler Völker, keine Dummheit machte. Er hat die Schandtat nicht begangen, aber die Dummheit war in die Familie geraten. Die Nachfahren von Isaak behaupten, ihr Vorfahre sei auf den Rost gebunden worden, diejenigen von Ismael beharren darauf, dass es der Ahne ihres Mohammed betroffen hätte. Alle wollen wegen dem Engel dasein. Bringen wir noch die Mütter, die Herrin Sara und die Magd Hagar ins Spiel, so wird die Geschichte so schön verwirrlich, dass man guten Grund hat, das Opferfest zu feiern, so wie jeder Feiertag ein Grund ist, den Tag zu feiern und jeder Tag das Zunderzeugs hat zu einem Feiertag.

Seine Frau, die Tante, liegt oben in der Nähe seines Vaters, hinter vorgehängten Laken, ihre Schwestern um sich, auch ihre Mutter, die berufene Hebamme, in Händen ein kristallenes Fläschchen mit Wunderbaums Rizinusöl. Mitten im Mitternachts-Glockengeläut reisst die Fruchtblase und die Frauenblicke treffen sich schirmhaft über der hoffnungsprallen Wölbung. Oxytocin überschwemmt die Empfindungen der umfassenden Gemeinschaft; sie fasst die Hände ihrer Schwestern und spitzt den Muttermund zum Kusse. Es soll ein Junge werden; Isaak („Gott hat gescherzt“). Im gegenüberliegenden Wohnhaus haben sich Partygemeinschaften eingemietet. Die Zimmerwände im Erdgeschoss mit Bildern bespielt, Schriftzügen und Symbolen, angestrahlt von bewegtem Licht in sirrenden Frequenzen, die Fenster stehen weit offen und trichtern die Bässe und Beats auf die Strasse. Über die Fensterbankgesimse beugen sich Köpfe, um die andere Hälfte nicht zu verlieren. Flaschen klatschen, zugeschäumt der Brandherd kühlt. Die Leiber flanschen, flutschen feucht und aufgewühlt. Die Zusammenhänge zerhackt zu stroboskopischen Hautfetzen. Die dunkle Luft zieht sich zusammen und plötzlich steigt aus dem oberen Fenster eine faustgrosse Feuerkugel, sinkt langsam zu Boden und zerstiebt als funkensprühender Derwisch. Vater hat die Augen geschlossen, er öffnet sie kaum noch. Die ersten drei Tage hat er ruhig mit gekreuzten Beinen dagesessen, auf seiner Bettstatt, die Wärme der Öllichter in seinem Lächeln, die Seele sein Schwerpunkt. Stumme Besucher suchen die Nähe zu seiner Ruhe und betrachten die betenden Hände. Saddhu stellt ihm jeden Abend ein frisches Glas Wasser zur Seite, das er nie angerührt hat. Der Geruch des gebratenen Schafes markiert im Hirn die vegetative Ewigkeit, des Schlafes Bruder. Saddhu hebt die Schultern und die Brauen vor den fragenden Augen, um dann zu lachen und erkennen zu geben, dass seine Gesichtszüge nun denen seines Vaters ähnlich geworden sind. Das Lächeln der Ahnen mischt sich in den Duft des Opferlammes, umwogt das Geheimnis der Liebe. Die Schwebebahn hat sich lautlos hingesetzt. Über die Laken blinzelt die Geburt.

Es geschieht am 30. August!

An diesem Datum ist letztes Jahr Oliver Sacks, der die Neurologie in literarischen Kreisen salonfähig gemacht hat, gestorben, in New York City. Seither wissen wir alle, dass es mindestens einen Mann gibt, der seine Frau  mit einem Hut verwechselt. Den gleichen Todestag wählte Charles Bronson, nachdem ihn Sergio Leone endlich für einen Western engagieren konnte, für den unsterblichen Streifen „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die evangelische Kirche feiert an diesem Tag den reformatorischen Maler Matthias Grünewald. Warren Buffett, der Finanzweltrekordler, feiert Geburtstag. Genau hundert Jahre früher kam im südfranzösischen Beaucaire ein Knabe, getauft auf den Namen François-Marie-Anatole auf diese unsere Welt, der später Bischof von Montpellier und päpstlicher Kardinal wurde, und darum kaum mehr Zeit zum Boulespiel fand. Am 30. August brach ein Stück des Allalingletschers los und verschüttete alle 88 Bauarbeiter, welche die Staumauer des Mattmarksees errichteten – Vater hat uns Fotos davon gezeigt, Militär wurde aufgeboten. Der französische Passagierdampfer Natal rammt vor Marseille einen Tanker und versinkt innert weniger Minuten – die Scheinwerfer waren aus, weil Weltkrieg war. Am selben Tag, ein Jahr später, schoss Fanny Kaplan zwei Kugeln auf Lenin ab, weil sie ihn für einen selbstherrlichen Verräter der Revolution hielt. Fanny traf die Schulter und den Hals. Erst 1922 wurde die Kugel in Lenins Hals operativ entfernt, nachdem ein deutscher Arzt urteilte, Lenins Kopfschmerzen seien vom Blei verursacht, das das Gehirn vergifte. Die roten Telefone in Washington und Moskau wurden 1963 an diesem schicksalstriefenden Spätsommertag installiert, nachdem die Kubakrise alle sprachlos machte. 1978 landete ein polnisches Verkehrsflugzeug auf dem West-Berliner Flughafen Tempelhof statt im realsozialistischen Schönefeld, weil eine Paar aus der DDR eine Spielzeugpistole gezückt hatte. Die britische Band Oasis veröffentlicht ihr Debüt-Album Definitely maybe, das war am 30. August 1994. Der 30. August wird auch als internationaler Tag der Verschwundenen, unter dem Patronat des Genfer IKRK, begangen.

An diesem Kalendertag ist auch die süsse blonde Nola verschwunden, noch keine sechzehn Jahre alt. Für immer. Adieu, allerliebste Nola. Diese Worte stehen auf einem Manuskript, das 33 Jahre nach ihrem Verschwinden zusammen mit den Überresten der Leiche des verschwundenen Mädchens gefunden wird. Ausgerechnet im Garten von Harry, dem berühmten Schriftsteller, der sich, damals 33 Jahre alt, unsterblich in das Mädchen verliebte. Er kann Lola nicht loslassen und belehrt seinen Schüler Markus, dass es im Leben eines Schriftstellers darum geht, sich fallen lassen zu können. Es geht um Lola, nicht um Lolita, auch wenn Nabakow auf dem Altar des Genfer Jung-Autors Joël Dicker steht. Nabakow wurde Ende fünfzig mit der Erotikgeschichte berühmt und berüchtigt, so dass er später noch ein Meisterwerk, Fahles Feuer, nachschieben konnte. Harry hingegen wird durch den Fund der ermordeten Nola erledigt, obwohl er sich die körperlichen Anteile seiner Liebe für später aufgehoben hatte. Lola ihrerseits ist ins Büro des Polizeipräsidenten gegangen, hat die Tür hinter sich geschlossen, ist unter den Tisch gekrochen, hat den Reissverschluss der präsidialen Hose geöffnet und dem Ordnungsmann eine höllisch himmlische Fellatio beschert, nur um ihn danach darauf hinzuweisen, dass er nun ein Verbrecher sei (sie habe sich vor diesen Worten den Mund abgewischt, das mit dem Spucken steht nirgends im Buch). Natürlich nur, um ihren geliebten Harry vor den Machtspielen der Polizei zu bewahren. Harry kann die Wahrheit nicht aussprechen, weil er das gefundene Manuskript als sein eigenes Buch herausgibt – der halbfiktive Briefwechsel zwischen Nola und einem durch eine Schlägerbande verunstalteten Maler Caleb, der die Briefe von Nola abfängt und an Harrys Stelle schreibt und dessen Liebesgeschichte mitspielt. Das Schicksal setzt sich am Schluss immer durch, meint Harry auf Seite 716. Ziemlich vertrackt, die ganze Geschichte von Joël Dicker, der Jura studiert hat, weil er in Mathe und Schreiben schwach war. Sein Stil ist eine mathematische Schreibe, da ist alles genau kalkuliert, geht flüssig auf, geht rasant in die Breite.

Fiktionalisierung und Realisierung halten sich in Schwebe. Das Unmögliche, Undenkbare wird dank empirischen Tatsachen und Beweismitteln real; das Objektive und die Wirklichkeit werden zur Fiktion, weil die subjektive Sicht die Dinge verändert und zu neuer Wirklichkeit treibt. Dann übertreibt die Wirklichkeit und die Simpsons mischen sich unter die Gäste. Selbst ein psychiatrisches Gutachten, das für die seit 33 Jahren tote Lola nachträglich eingeholt wird, fehlt nicht, nachdem sich in deren Kindheit ein evangeliakanischer Teufelsaustreiber vergeblich mit dem besonderen Kind abgemüht hat (Schläge auf den Körper und Kopf unter – geweihtes? – Wasser halten. Die neunjährige immerfröhliche Blondine hatte  das Schlafzimmer der strenggläubigen Mutter und gestrengen Hausherrin in Brand gesteckt und auf dem Balkon gesungen, während Mama verbrannte, was den Pastorpapa etwas verunsicherte und Hilfe beim befreundeten Pfingstgemeindechef nachsuchen liess). Nola hätte nach dem unglücklichen Brandopfer an schizophrenen Schüben gelitten, vermutete das Gutachten, nämlich immer dann, wenn sie sich selber und die Rolle ihrer Mutter abwechselnd personifizierte und dialogisierte, währenddem sie sich selber mit einem Eisenlineal auf alle erreichbaren Stellen schlug und mit sich selbst am Haarschopf Guantanamo spielte. Kein Wunder, hat sich der Schriftsteller-Star Harry in die Kleine verknallt. Welch sonderbare weibliche Ausstrahlung muss das blonde Wesen besessen haben: Mutter und Tochter in einem! Würde man einen Psychologen über die Figur Harry befragen, würde der Sätze mit den Signalmarkern erfolgsorientiert und auch einsam aus seiner empirischen Werkzeugkiste klauben und stolz Schriftstellphänomen nachschieben. Ein erfolgsverwöhnter Schönling, der immer Angst hat, als Bluffer enttarnt zu werden und hervorragend im Roman mitspielt. Wie auch der Ich-Erzähler, der Schüler von Harry. Und Boxpartner. Und gegenseitig einziger Freund. Beziehungskisten wie Comix-Boxen. Der treue Schüler Markus befolgt Harrys 31 schriftstellerische Lehrsätze und schreibt im Roman an dem Roman, den man in Händen hat. Alles ist möglich. Daran hat Joël Dicker geglaubt, als er diesen Roman schrieb, in dem es eigentlich nur um den Erfolgsroman und das Schreiben geht, der Rest ist ein rasend vergnüglicher Krimi. Und dem Autor Joël Dicker widerfährt, was Markus widerfährt, nachdem es Harry widerfahren ist: Der Erfolgsroman. Gut drei Millionen Leser haben das Buch gekauft. Literarische Bundesliga. Markus‘ Verleger plädiert in der Geschichte dafür, Schriftsteller mit Erfolgsaussichten mit einem Vorschuss wie einem Fussballer-Top-Salär zu bezahlen – so komme man frühzeitig in die Schlagzeilen und daher sei das eine rentable PR- und Werbeinvestition, die sich schnell auszahlt. Alles ist möglich. Nur eines scheint sehr schwer möglich zu sein: Das graphologische Gutachten einzuholen, das Harrys Untersuchungshaft beenden und die Anklageerhebung verhindern könnte. Das ist der einzige Moment im Plot, wo die Protagonisten nicht das Heft in die Hand nehmen und die ganze Geschichte kraftvoll vorantreiben. Sie warten tagelang, ohne einmal nachzufragen oder nachzusehen, wie sie das ununterbrochen machen. Nach ein paar hundert Seiten entlastet das Gutachten Harry und belastete den Maler und Schriftstellerneuling Caleb, der seinen Liebesbriefwechsel mit Lola kopierte und Harry überreichte mit der Frage, ob das Literatur sei?. Aber der Mörder ist der Fellatio-traumatisierte Polizeichef vom Provinznest, wie es eben in Amerika so ist. Marcus, der Harry-Schüler und Ich-Erzähler verabschiedet sich im letzten Satz des Romans: Ich mache mich auf die Suche nach der Liebe.

Die Sternschnuppe

Am Tag des heiligen Laurentius schauen die gläubigen und gutinformierten Menschen im Kloster Ittingen hoch zu ihrem Schutzheiligen, spähen gen Himmel, erst spätnachts, die strenggläubigen genau zwischen Abend- und Morgengebet, nordostwärts, in Richtung Sternbild Perseus (bei den Griechen der Heroe göttlicher Abstammung mit dem Schwert in der einen Hand und dem Haupt der Medusa in der anderen). Der kanonheilige Laurentius ist Schutzpatron von Berufen, die mit offenem Feuer zu tun haben oder hatten: Köchen, Bierbrauern, Brandstiftern und Feuerwehrsleuten. Bei Hexenschuss und Ischias kann man ihn auch anrufen. Laurentius war Finanzchef des Papstes, wurde aber vom Kaiser Valerian verhaftet und schliesslich auf einem Rost ganz langsam gebraten. Laurentius hat den Kirchenschatz unter die Mitglieder der Christgemeinde und den Rest an Bedürftige verteilt, statt ihn dem Kaiser auszuhändigen. Seitdem wird Laurentius als Grillmeister dargestellt. Der Meteorstrom der Perseiden wird zu Tränen des Laurentius.

Dier Perseiden erreichen eine Intensität von achtzig Meteoren pro Stunde. Die kosmischen Teilchen treten mit 60 Km pro Sekunde in unsere Atmosphäre, die verglichen mit dem Weltall so viele – weltliche – Partikel enthält, dass die kosmischen Körper rotgeschmirgelt werden und verglühen (Umkehrprozess der solaren Ionisation; Rekombinationsleuchten!). Der perseide Meteorstrom seinerseits ist nicht als Staub eines riesigen Kometen, feste Bestandteile in dessen kosmischen Abgasen. Die Sternschnuppen trösten uns über das irdische Fest-Feuerwerk hinweg, dem etwas von einer vorpubertären Erektion anhaftet. Im russischen Ural ist vor drei Jahren ein Jahrhundert-Meteor in die Atmosphäre geraten und hat in den vereisten See ein Loch von sechs Metern Durchmesser geschlagen. Die Fenster im 80 Km entfernten Tscheljabinsk lagen in Scherbern auf den Strassen. Unerklärlich war das Ereignis in Tunguska, gut hundert Jahre früher; daraus entstand viel Literatur. Einen Krater von 180 Km hinterliess der Meteor, der im Norden von Yucatan niederging. Die Dinos auf der ganzen Welt lagen tot am Boden. Ein deutlich kleinerer Meteor schlug dann in der libyschen Wüste ein und tropfte danach als kosmisch-geologisches Glashybrid vom Himmel. Tutanchamum hat sich daraus einen Skarabäus machen lassen, den er bis ins Grab als Glücksbringer umklammerte. Der Käfer vermehrte sich nach dem Rückgang des Nils derart schnell, dass man davon ausgehen musste, dass sich diese Kot-Pillen-Dreher nicht fortpflanzten, sondern direkt von Gott aus dem Nilschlamm geschöpft wurden. Den antiken Griechen bescherte der Himmel auch einen heiligen kosmischen Brocken, den aber die Römer mit ihren fuhrwerkstechnischen Möglichkeiten mitlaufen liessen. Im Westen wird der schwarze Stein der Kaaba in Mekka als Meteorit gehandelt, die Muslime sagen aber, den habe Adam aus dem Paradies mitgenommen, andere sind der Ansicht, Erzengel Gabriel habe ihn Abraham in die Hand gedrückt, als er Adams Tempelchen restaurierte.

Meteoroiden sind vorwiegend interplanetare Teilchen, grösser als der sonnensystemische Staub, kleiner als Asteroiden, die ihrerseits auf einer keplerschen Umlaufbahn um die Sonne ziehen, aber kleiner als Kleinplaneten sind. Die Meteoroiden werden zum Meteor, wenn sie die Erdatmosphäre erreichen. Das Ursprungsmaterial von Sternschnuppen ist höchstens ein Millimeter gross, darüber spricht man als Astrologe von Boliden (Volksmund: Feuerkugeln, wurde später auf brennende Rennautos übertragen). Es braucht ein geschultes Auge, um da am Nachthimmel die kategoriale Grenze mit Sicherheit zu bestimmen. Bei Feuerkugeln funktionieren Wünsche nicht, da sollte man die Gelegenheit nutzen, die Verdauung zu unterstützen. Kometen sind wie Asteroiden Überreste aus der Entstehung des Sonnensystems, bestehen aus Staub, Eis, Stein. Kern und Koma bilden den Kopf des Kometen, der Rest ist Schweif. In den Mond krachte 1179 ein Komet, die Mönche von Canterbury schauten zu. Der Krater bekam später den Namen von Giordano Bruno, dem mönchischen Philosophen, der von der Kirche im Jahre 1600 den römischen Lokalbehörden übergeben wurden, welche die Bestrafung durch Verbrennung vollzogen (Giordano lachte den Henker aus: „Du Schisshas“!). Kometen bleiben meist am Himmel und beeinflussen die Menschen von oben. Das Kometenkind ist als biblisches Motiv bekannt und taucht auch in der Gegenwartsliteratur auf. Clemens Setz, der Jung-Kafka aus Graz, zeigt in seinem Roman Indigo einen Frakturtext mit gravierter Illustration seiner Kometenkindgeschichte als Hebel-Geschichte „Die Jüttnerin von Bonndorf“. Das Faksimile ist natürlich ein Fake. Immerhin wurde Bonndorf 1811 vor der Ankunft des Leibhaftigen, des teuflischen Faktenverdrehers, bewahrt.

Unten am Flussufer, etwas entfernt von dem malerischen, kaum beleuchteten Dörfchen, sieht man den Nachthimmel am klarsten. Am besten liegt man spätabends, nach ausgiebigem Blaue-Stunde-Trinken und reichlichem Abendmahl, am oberen Strandufer auf den Rücken und schliesst die Augen soweit, dass die Sterne nicht mehr blenden. Wenn Du in Begleitung bist, so lass Dich in wohliger Gemeinschaft nieder. Wenn jemand ruft: „Da, eine Sternschnuppe!“ und Du bist in Begleitung einer einzigen Person, so sag einfach: „Wünsch Dir was!“. Falls noch jemand bei Euch ist, halte auf jeden Fall Deinen Mund. Es gibt Menschen, die wünschen sich tatsächlich etwas, wenn sie eine Sternschnuppe erhaschen, die haben immer Instant-Wünsche dabei. Und hoffen, dass der Wunsch in Erfüllung gehen wird, weil sie wie Orgasmusverweigerer fähig sind, den Wunsch nicht gleich auszuplappern und damit zu versauen. Behalte den Nachthimmel im Auge und halte Ausschau nach der schönsten Schnuppe der Nacht; behalte das Geheimnis für dich, dass man den Augenkontakt mit der himmlischen Schnuppe für sich behält, wenn man Hoffnung hat. Aus der aufsehenerregenden Korrelation von Augenkontakt mit Sternschnuppen einerseits und zuversichtlichen Gegenwartsgefühlen andererseits lassen sich keine Kausalzusammenhänge ableiten, aber immerhin die Gewissheit, dass der Anblick einer meteorischen Himmelserscheinung objektiv schön ist und wahrscheinlich sogar beglückend wirkt. Der Rest ist schnuppe.

#GodAndNation

Die in liberaler Tradition stehenden Zürcher haben sich immer etwas geärgert, dass Pater Alberik Zwyssig in der Innerschweiz mit diversen Monumenten als Schöpfer der Schweizer Nationalhymne gefeiert wurde. Zwyssig hatte ja nur seine 1835 im Kloster Wettingen komponierte Messe „Diligam te Domine“ (www.schweizerpsalm.ch/Hoerbeispiele/Diligam%20te%20Domine.mp3) etwas zurechtgestutzt, um die Hymne zu vertonen. Der lateinische Text passt much better. An der Ecke Eugen-Huber-/Rautistrasse in Altstetten wird Zwyssig entsprechend bescheiden gefeiert. Im fin de siècle wurde dann der fortschrittsgeistige Dichter Leonhard Widmer als Urheber lanciert. Das Schweizerpsalm-Denkmal, das seit 1910 auf dem Zürichhorn steht, wurde dann aber dank stadträtlicher Konkordanz sowohl dem Textautor als auch dem Komponisten geweiht. Das etwas martialisch geratene Jugendstil-Monument erhielt vom Volksmund die Bezeichnung „Rakete“. Nach dem letzten grossen Krieg erhielt der Lyriker Widmer neben dem Meilemer Bahnhof, auf dem Grundstück seines Geburtshauses, ein eigenes Denkmal: Vorerst kniete die Knabenfigur neben dem Geleise und hält Ausschau nach dem geröteten Alpenfirn, später steht sie, weil ihr der neue Bahnhof die Sicht in die Alpen versperrte. Der Doppelspurausbau überrollte dann die standfeste Figur, so dass sie die Politiker ans Seeufer zügelten. Die Bahnkunden werden nun mit einem Gedenkstein neben den Parkplätzen abgespiesen. Seither fahre ich alljährlich am Nationalfeiertag zu diesem kurzbehosten und lang vogelbekackten Jüngling zum pique-nique patriotique am Gestade. Am Buss- und Bettag, der 1832 durch die Tagsatzung proklamiert wurde und dessen christlich-nationalen Rituale damals die politischen Kantonalbehörden zu vollziehen hatten, besuche ich das Eidg. Boule- und Pétanque auf dem Zürcher Lindenhof.

Die konservativ-liberale Kooperation von Zwyssig und Widmer ist eine historische Unregelmässigkeit in der Regenerationszeit, in der sich die beiden Parteien nichts schenkten. Zwyssig, mit 13 Jahren aus dem Uri in die Klosterschule Wettingen versenkt, musste 1841 aus den Klostermauern zurück in die Innerschweiz flüchten, weil Widmers Gessinnungsgenossen im Aargauer Grossrat gerade beschlossen hatten, sämtliche Kloster unter staatliche Verwaltung zu stellen (hier zweigt die Geschichte der Monstranz aus dem Kloster Muri in der Aussersihler Mutterkirche ab!). Der Aargauer Oberst Frey-Herosé, späterer Generalstabschef im Sonderbundskrieg und Mitglied des ersten Bundesrates (ja, mit Schneider-Ammann verbindet ihn der eheliche Doppelname, den sich Fritz zugelegt hatte, um unverwechselbar zu werden – noch später wurde daraus wider ein Kurzname: Chocolat Frey), verlangte den Schlüssel zu den Kirchenschätzen und verjagte die Mönche reussaufwärts. Der eher geschäftliche Kontakt der beiden Musikliebhaber Widmer und Zwyssig – Widmer betrieb eine Lithographie und gab Notenblätter heraus – brach für ein gutes Jahr ab. Zu dieser Zeit schrieb Widmer den originalen Schweizerpsalm. 1833 war Widmer wegen einer Stelle als Schönschreiblehrer, die er dann doch nicht erhielt, zum zweiten Mal in die Limmatstadt gezogen, als Kostgänger der Witwe Huber am Stüssihof, deren Tochter Louise hervorragend kochte und seine Frau wurde. Eines Tages erhält Zwyssig Post, die von wackeren Männern überbracht wurde: Den Schweizerpsalm von Widmer, mit der Bitte um Vertonung. Zwyssig liest den Brief ein zweites Mal, schaut auf den Zugersee und denkt an sein „Diligam te Domine“. Über die editorischen Verhandlungen der beiden ist leider nichts bekannt; auf jeden Fall gelangte die gemeinsame Version unabhängig voneinander im September 1841 in Zug und Zürich erstmals zur Aufführung. Am eidgenössischen Sängerfest in Zürich, keine zwei Jahre später – und gleichzeitig mit der Herausgabe der ersten kontinentaleuropäischen Briefmarke durch den Staate Zürich -, wurde am 26. Juni das Lied in der ersten Abteilung des Hauptprogrammes durch den gastgebenden Gesangsverein Harmonie aufgeführt. Begeisterungsstürme. Schüsse in die Luft.

Das Blatt mit der „Hymne für unsere Erde“ (©1989), aus dem Romanischen vom Autor Flurin Spescha selbst hilfsübersetzt (das ist sein Wort), ist handschriftlich mit der Widmung „Per Gieri“ versehen. Die metaphorische Abfolge der Strophen entspricht fast Widmers Werk: Morgenrot (das sich in Widmers Urversion auf Gott reimt!), Sternenhimmel, Meer (bei Widmer lediglich: Nebel), Sturm. Flurin drückte mir die One-world-Version („Meine Seele weiss, dies ist unsere einzige Welt“) in die Hand, nachdem ich am Vortag von Widmer erzählt hatte. Flurin hat 1993 mit „Fieu e Flomma“ (Feuer und Flamme) den allerersten Roman in Romantsch Grischun geschrieben. Als ich eine neue berufliche Position übernahm, blieb er bei Mägi im Hinterzimmer des stadtpräsidialen Vorzimmers. Er heiratete und starb kurz darauf. Sein Grabmal im Sihlfeld D – von Heinz Häberli – ist ein durchsichtiger, filigraner und doch stürmischer Kubus aus ehernen Buchstaben, das Original seiner Welt-Hymne liegt unbeachtet in seinem Nachlass. Anderen Gegenentwürfen zum Schweizerpsalm erging es nicht besser. Nachdem der Bundesrat 1961 – erstmals überhaupt, vorher hatten die Kantone die Kompetenz, irgendeine Landeshymne zu singen (beliebt war „Rufst Du mein Vaterland“ von Hansrüedu Wyss, der ein Jahr später mit seinem Vater, dem gleichnamigen Münsterpfarrer zu Bern, den „Schweizer Robinson“ schrieb und damit das Original von Defoe in der europäischen Hitparade hinter sich liess. Wyss hatte sein Lied zur Melodie „God save the queen“ getextet, was gemäss Pro Helvetia an internationalen Treffen für Verwirrung sorgte) – den Schweizerpsalm für die Armee und diplomatische Vertretungen provisorisch zur Nationalhymne erklärte, ging gleich das Hickhack über das veraltete Lied los. Zwanzig Jahre nach dem ersten Bundesratsenscheid zur Landeshymne folgte der zweite BRB: Die Landeshymne ist definitiv geregelt, lasst die Sache auf sich beruhen. Denkste! Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, älter als der helvetische Bundesstaat, machte sich 1859 mit dem Kauf der Rütliwiese, welche sie der Eidgenossenschaft schenkte, einen Namen. Die 1- August-Feierlichkeiten auf dem Rütli sind noch heute Sache der SGG, vor wenigen Jahren hielt mein Doktorvater von Matt die Festrede. Derweil stellt der Vorstand der Gemeinnützigen fest, der Text der Nationalhymne entspreche nicht mehr der Realität, weil neben der Frömmigkeit keine anderen Werte erwähnt würden. Lanciert einen Wettbewerb: Die bekannte Melodie soll beibehalten werden, ein neuer Text sich inhaltlich an der Präambel der neuen Bundesverfassung von 1999 orientieren. Denkste! Der mit einem online-voting gekürte Siegerbeitrag von Werner Widmer, Gesundheitsökonom vom Zollikerberg, vermeidet das Wort Gott, weil sich in unserem Land über ein Viertel der Bevölkerung „zu keinem religiösen Glauben bekennt“. Die Bundesverfassung aber beginnt mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“

Nun, Kindergarten und Primarschule Nuolen (ein St. Galler Dörfchen Nähe Amriswil) werden den neuen und kindergerechten Kehrreim singen: „Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund…, singen alle wie aus einem Mund“ – obwohl das Kompetenzzentrum zu Fragen rund um den Schweizerpsalm den Lehrkräften hervorragende Arbeitsblätter zu Verfügung stellt. Die freisinnige Lilo Lätzsch vom Zürcher Lehrerverein empört sich, dass es im Glarnerland Schulleiter geben soll, die in ihren Schulhäusern die neue Hymne nicht gesungen haben wollen. Chris von Rohr hingegen bezichtigt die Kritiker der herkömmlichen Hymne hochnäsiger Arroganz und kultureller Verblendung. Differenzierter argumentiert das reformierte Kirchenblatt und stellt fest, das der alte Text auch auch für Nichtchristen akzeptabel sei und durchaus auch von „grossmütigen Atheisten“ gesungen werden könne. Der Schweizerpsalm ist das einzige Lied, das zu lernen sich wirklich lohnt“, sagt der studierte Grundschullehrer Ludovic Magnin, „das habe ich mir schon in der Schule gut überlegt – für den Fall, dass ich einmal in der Fussball-Nati spiele“. Nur Streller hat noch schöner gesungen. Seit die beiden weg sind, verziehen die Tschütteler kaum mehr eine Miene, wenn der Schweizerpsalm im Stadion daherscheppert und die Fans den Refrain grölen. Gott sei Dank haben wir jetzt ein Frauen-Nati, die das Liedchen mit geschwollener Brust und voll Inbrunst singt.