Ädäschä

Offene Neugier liess mich vor einigen Jahren hinfahren. Mit der Vespa durch die Schluchten und die Ebenen im Schwarzwald, Erinnerungen an die schnellen Kurvenfahrten mit der Laverda 750 SF. Dort beim Gemeindehaus Todtnauberg war offensichtlich, dass die Gemeinde stolz auf den Philosophen Martin Heidegger ist und ihn als einen der Ihren touristisch nutzt. Mit dem ausgeschilderten und bebilderten Rundweg zu seinen Ehren wird eine akademische Andockstelle für New-Age-Existentialisten betrieben. Ich stieg hoch bis unter die Heidegger-Hütte, wo er sein ekstatisches Werk Sein und Zeit geschrieben hat, das einem die Möglichkeit der Selbsttranszendenz nahe bringt. Er hat die Philosophie selbst zur existentiellen Erfahrung gemacht und ist damit auch Ausgangspunkt des französischen Existenzialismus. Aus den Fenstern der eher schäbigen Hütte hängt das Bettzeug, Heideggers nachfahrende Kinder tollen sich vor dem Idyll. Der sechszackige Holzstern auf der stämmigen Brunnensäule neben dem Haus ist weg. Paul Celan soll bei seinem Besuch 1967 „Herr Heidegger, den Stern lasse ich Ihnen nicht“ gesagt haben, worauf der den Zimmermann für die Motivwahl verantwortlich machte.

Heidegger hatte versucht, die eigene seynsphilosophische Terminologie mit den politischen Entwicklungen zu verknüpfen. Sloterdijk hat auf seinen Denkfehler hingewiesen. Wenn eine subjektive und individuelle Selbsttranszendenz möglich ist, heisst das nicht, das ein politischer Körper so etwas vollziehen könnte. Der Wettersoldat Heidegger, französich genäselt „ädäschä“, hatte schon an der Westfront von der Wiedergeburt des Geistes, der Wahrhaftigen und des Volkes gelallt. Er diente sich den Nazis als Rechtsphilosoph an. Er wurde Führer-Rektor und scheiterte am ersten akademischen Lager.

Pilger wollen ihr Leben in Ordnung oder durcheinander bringen. Ordnung und Fürsorge machen den guten Chef aus. Redbull ist für solche, die der Mama entkommen wollen, erfahre ich aus der Eigenwerbung.

Das Meisterwerk Sein und Zeit ist auf dem Liebesgipfel mit Hanna Arendt entstanden, oben in der Hütte. Sie war allerdings nie dort oben. Sie trafen sich in ihrer Studentenmansarde oder in seiner Freiburger Dienstwohnung. Auf beiden Seiten durfte niemand etwas von ihrer intimen und geistigen Erhebung erfahren. Sie war einfach umwerfend: Eine umfassende Geistesgrösse in jugendlicher Pracht, modische Kurzhaarfrisur, das saftiggrüne Kleid und diese Augen, in die sich die Welt verliebte. Sie verhalf ihm durch die Meisterprüfung, hielt sich auf seinen Wunsch von ihm fern, liess sich aber doch immer wieder heimsuchen. Später wirft sie ihm existentiellen Solipsismus vor. Er verkenne die conditio humana: Der Mensch könne alles mögliche sein, ein „eigentliches Selbst“ aber vermutlich nie. Sie schreibt „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Heidegger, der „doch so notorisch immer und überall lügt“, hat vor seiner Frau Elfriede nie geleugnet, dass Hanna „die Passion seines Lebens“ sei, so dass „die Frau, solange ich lebe, bereit sein wird, alle Juden zu ersäufen.“ Ein Schweizer Komponist hat einen Heidegger-Marsch mit der Motivfigur h-e-d-e-g-g-e komponiert, von der Stadt-Kapelle in Messkirch aufgeführt.

Auch der japanische Kaiser veröffentlichte ein anzügliches Waka-Gedicht als yomihitoshirazu, zu Deutsch Verfasser unbekannt. Selbst die japanische Nationalhymne ist ein yomihitoshirazu, das im Jahr 905 erstmals publiziert wurde. Japan liebt die Anonymität; sie hilft, das ich zu nichten. Ken Mogi, Nagomi.

Der Glaube, das Tor zu Gott lasse sich nur von innen öffnen, kann als gesichertes Wissen gelten. Jeder und Jede kann nachschauen. Es steht offen.

In der Manesse-Reihe ist Platons Apologie des Sokrates in Neuübersetzung erschienen, Kurt Steinmann hat im Pfauentheater den Vor- wie den Nachspann selbst vorgetragen. Michel de Montaigne über die dramatische Urszene der abendländischen Philosophie: Wenn ich die Weisheit des Sokrates und verschiedene Umstände seiner Verurteilung betrachte, so wage ich fast zu glauben, dass er ihr durch gewollte Fahrlässigkeit selber Vorschub leistete, da er mit seinen siebzig Jahren schon nahe daran war, das Erlahmen der mächtigen Schwingen seiner Seele und das Erblinden seiner gewohnten Klarheit erleiden zu müssen.

Im Rahmen der universitären BrainFair degustiere ich Brain Food. Vor mir zwei Mütter mit ihren schulpflichtigen Kindern, die sich mit einem Block Papier und einem Kugelschreiber zu unterhalten versuchen. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung, etwas mehr Männer als Frauen, werden als Alexithymiker diagnostiziert: Sie haben keine Sprache für Gefühle, sie zeigen Körpersymptome statt Emotionen. Sie weisen einen Mangel an Phantasie und Vorstellungsvermögen auf. Neurologisch zeigen sie rechtshemisphärische Dysfunktionen an. Die Forschung arbeitet dabei mit einem Modell, bei dem nur zwei (Freude, Zuneigung) von acht Gefühlen positiv sind.

Der nächste Forscher behauptet, Sprache verstehen heisse, Sprache vorherzusagen. Im Frontallappen arbeite ein Sprachmodell. Das Gehirn arbeite mit Wahrscheinlichkeiten zur Vorhersage, genau wie GPT. Äussert sich ein Subjekt in schwer vorhersagbarer Sprache, deute das auf psychische Störungen, z.B. gelockerte Assoziationen bei Schizophrenie, wie schon Bleuler wusste.

Ich schluckte noch eine dritte Pille. Schlechte Wortfindung bei Hauptwörtern, oft rasch mit wortreichen Umschreibungen überspielt, weist auf Neurodegeneration im linkshemisphärischen Sprachzentrum hin. Diese alzheimerpathologische Demenz wird verursacht durch fehlgefaltete Proteine. Deren Ursächlichkeit wird zur Zeit erforscht.

Der Schweizer Theologe Karl Barth nannte Hegel einen Philosophen des Selbstvertrauens aus Gottesvertrauen. Hegels Imperativ lautet: Werde, der Du bist – ein mit dem Geist Gottes begabtes Wesen. Beat Wetters letzte Worte: Ich will werden, der ich bin. Früher war Theologie ein Aufbaustudium nach Abschluss des Philosophiestudiums. Seit gut zweihundert Jahren aber weigert sich die protestantische Theologie, Metaphysik zum Thema zu machen. Gott muss vor dem Forum der Vernunft nicht mehr erscheinen. Gott ist ins erkenntnistheoretische Abseits gelangt, obwohl er nichts anderes macht, als sich unablässig zu offenbaren. Eine merkwürdige Theophobie breitet sich selbst in den Kirchen aus. Der Gebrauch des Begriffs Gott wurde allmählich peinlich. Jon Fosse meint, Schreiben sei nicht Kommunikation, sondern eine Art Kommunion. Ein Subjekt hat dann Geist, wenn es erkennt, dass es als Einzelnes zugleich ein Allgemeines ist. Das Zum-Staat-Werden einer religiösen Gemeinschaft schafft immer Probleme, so wird auch Simone Weil gegenüber dem Pater argumentieren, der ihr die Taufe schmackhaft machen will. Am Himmel Space-X-Spiralen. Tanze so lange, bis du eine paarungsbereite Partnerin gefunden hast. Gott entäussert sich an seine Schöpfung, also an die Natur und die Geschichte, und lässt sich damit auf eine Bewegung ein, deren Ziel es ist, dass er zu sich selbst zurückkehrt, um schliesslich „Alles in Allem“ zu sein.

Zwar sei es richtig, dass in der Religion der Mensch in ein Verhältnis zu Gott trete, aber ebenso trete Gott in ein Verhältnis zum Menschen – als Geist. Darum muss Gott nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt gefasst werden, so Hegel. In der Sündenvergebung vernichtet Gott unsere Nichtigkeit. Hegel verteidigt Anselm von Canterburys ontologischen Gottesbeweis gegen Kant, obwohl er den affirmativen Realitätsbegriff dialektisch erweitert sehen will: Das Sein soll als das vom Begriff immer schon Negierte begriffen werden.

Simone Weils philosophische Theologie fokussiert stärker auf die Offenbarung. „Es ist nicht meine Angelegenheit, an mich zu denken. Meine Angelegenheit ist es, an Gott zu denken. Es ist Gottes Sache, an mich zu denken.“ An Pater Perrin, der sie zur katholischen Taufe führen will, schreibt sie: „Und es ist mein innigster Wunsch, nicht nur jeden Willen, sondern jedes Eigensein zu verlieren.“ Die Kirche verteidigt heute die Sache der unverjährbaren Rechte des Individuums gegen die kollektive Unterdrückung. Aber die Triebfeder des Totalitarismus keimte in der Kirche selbst: Der Gebrauch dieser beiden kleinen Wörter: anathema sit (Kirchenbann, Ausschluss aus der Gemeinschaft und von den Sakramenten – katholische Form der Asebie, wegen der Sokrates zum Tode verurteilt wurde). Die Unvollkommenheit der Orthodoxie liegt in der Anhänglichkeit an die Kirche als ein irdisches Vaterland. Man muss wissen, dass die Liebe eine Richtung und nicht ein Zustand der Seele ist. Die Trinität und das Kreuz sind die beiden Pole des Christentums – vollkommene Freude und vollständiges Unglück.

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