Der Jesuit und die Bärin

Du bist tot und täglich kommen neue Wellen von Generationen, so Dillard auf der letzten Seite ihres schmalen Bändchens. Lange Wochen habe ich immer wieder darin gelesen, ihre Welt- und Selbstsicht nachvollzogen, ebenso radikal rational wie metaphysisch.

Die Leiterin der Notgrabung am alten Spitalfriedhof, soeben abgeschlossen, referierte sachlich und trocken Geschichte und Befunde. Ich verfolge die Veranstaltung per Videoübertragung, was sie noch etwas langweiliger erscheinen lässt. 1844 konnte das Kantonsspital am heutigen Standort den medizinischen Regelbetrieb aufnehmen, bis dahin war das Spital, wo schon die Predigermönche Kranke pflegten und die Ärmsten versorgten. Als erster Neubau wurde das Absonderungshaus 1842 eröffnet, da gerade wieder einmal Typhus die Runde machte. Als nächstes musste direkt daneben ein Spitalfriedhof angelegt werden. Vergrössert wurde er, als nebenan die Pathologie eröffnet wurde. Jetzt gab es eine neue Grabkategorie, die chirurgischen Gräber – das waren Särge voller Leichenteile verschiedener Verstorbener. Seziert werden durften nur die Leichen von Verbrechern, Personen mit seltsamen Erkrankungen und solchen, die das Spitalgeld nicht bezahlen konnten. Nach gut vierzig Jahren wurde der Friedhof aufgelassen. Die Skelett-Funde zeugen von der grossen Neugier, mit der die Mediziner den Toten unter den Schädel gekuckt hatten. Ein Foto zeigt Reihengräber, bei denen allen die Schädelkalotte, sauber abgetrennt, nach hinten gefallen ist. Sieht aus wie eine Horde Mofa-Jungs, die ihren Vollvisier-Helm als Käppi tragen.

Die gebotenen Freuden sind fast ausschliesslich geistiger Art, schreibt Dillard in ihrer Vorbemerkung. Es sind Antworten auf die Frage, wie ein einzelner Mensch, sowie die Dinge hier liegen, leben soll? Sie heftet sich an die Fersen des französischen Paläontologen Teilhard de Chardin, wie er in China dem Pekingmenschen und der unterirdischen Terracotta-Armee des ersten Kaisers Qin Shihuangdi begegnet. Höhlen in Lösssteilwänden, noch heute von Menschen bewohnt. Als jesuitischer Naturwissenschafter und Lehrbeauftragter an der katholischen Hochschule Paris musste er in Konflikt mit der kirchlichen Lehre geraten. Ihm wurden sechs dogmatische Lehrsätze vorgelegt. Die Abstammung aller Menschen von Adam wollte er so nicht bestätigen. Der Ordensgeneralober schickte ihn nach China in die Verbannung, er erhielt Lehr- und Publikationsverbot. Das Gehorsamsgebot wiege schwerer als das Keuschheitsgebot, berichtete er seiner amerikanischen Freundin. Er wurde erst posthum rehabilitiert, am 2. vatikanischen Konzil, der katholischen Reformation. Pro heute lebender Mensch kommen etwa vierzehn Verstorbene. Wir sind ungefähr die fünfhundertste Generation, gezählt ab vor zehntausend Jahren, als wir sesshaft wurden.

Der eidgenössische Inland-Sicherheitsdienst wurde aufgefordert, die Staatsverweigerer besser zu überwachen, nachdem jemand, der in dieser Kategorie geführt wird, gewalttätig geworden war. Als Beweis für das Gefährdungspotential dieses Staatsverweigerers wird ein Schreiben vorgelegt, in dem dieser die politische Staatsförmigkeit der Eidgenossenschaft verneint, weil der Staat als Wirtschaftsunternehmen mit Gewaltmonopol anzusehen sei. Tatsächlich scheinen die Nationalstaaten immer mehr nach den Grundsätzen kapitalistischer Unternehmen geführt zu werden und auch die EU-Kommissionspräsidentin sucht nach vorteilhaften Deals. Dabei hat die politische Staatlichkeit den Vorteil, dass Überschuldung nicht zum Konkurs führt. Sondervermögen entstehen durch Geldschöpfung und Verschuldung, was der Währung natürlich sind sonderlich gut kommt.

Teilhard bekannte, dass er nicht wegen der in den Evangelien berichteten Wunder glaube, sondern trotz dieser Geschichten. Wunderlich bleibt vieles. Lange habe ich mit einer Jerusalemreise geliebäugelt, nachdem ich die Monografie von Montefiore gelesen hatte. Tempelberg, Geburts- und Grabeskirche, Felsendom, Ölberg – die geballte Geschichte fasziniert. Doch nun bin ich froh, dass ich die Reise nicht angetreten habe, obwohl die Reiseleitung von der Paulus Akademie ein verlockendes Programm ausgeschrieben hatte. Annie Dillard war für mich dort und hat sich in der Geburtskirche hingekniet und mit den Fingern über das Wachs gerieben.

Die Allmacht Gottes wurde schon von Thomas von Aquin auf das in der Natur der Dinge liegende zurückgestutzt. Aber die Idee von einem Deus otiosus, einem Schöpfergott, der sich nach vollbrachtem Werk müssig zurückzieht (zentraler Gedanke des Deismus), fand Teilhard hassenswert. Gott ist vielmehr das Bewusstsein des Unendlichen in jedem von uns. Um die Erde bilden die Seelen gewissermassen die hell leuchtende Oberfläche der in Gott eingetauchten Materie. Teilhard war als Sanitätssoldat dreissig Monate an der Front, auch in der Schlacht von Ypern. Er soll seine Anonymität und das gesteigerte Lebensgefühl genossen haben, andere sahen seine ihn schützende Segenskraft. Ja, und Hypatia von Alexandria wurde vom christlichen Kirchenmob grausam hingerichtet. Ja, Gottes Anwesen ist die Abwesenheit, und dort findet er uns. Wie viele spirituelle Denker besass Teilhard eine Art anaerobe Fähigkeit, an Paradoxem aufzuleben und sich zu laben.

Ä chli chräbbele und rede mit dä Pflanzä 🙂

Die Grausamkeit des Lebens vereint mit der Schönheit der Welt und unserem Gefühl von der Gegenwart Gottes will uns klarmachen, mit wem wir es zu tun haben, sofern es uns um solches Tun zu tun ist: Mit dem ebenso immanenten wie transzendenten, erfahrbaren aber unerkennbaren, uns nahen und zugleich gänzlich fremden Gott. Hegel soll an Goethe geschrieben habe, dass er sich das Absolute austernhaft, grau oder ganz schwarz vorstelle.

Rabbi Menachem Nachum von Tschernobyl: Alles Sein kommt von Gott, und die Gegenwart des Schöpfers ist in jedem erschaffenen Wesen. Diese zwiefache Sicht, welche Immanenz und Transzendenz vereint, ist konstituierend für pan-entheistisches Denken. Nicht nur ist Gott in allen Dingen, wie Pantheisten denken, sondern alle Dinge sind zugleich in Gott. Der Panentheismus ist laut David Tracy, Theologe an der Universität Chicago, die private Weltanschauung der meisten christlichen Intellektuellen heute. Gott ist Geist, er hat keinen Körper. Sein einzige Körper sind wir.

Annie Dillards Buch ist in der Reihe Wildes Wissen bei Matthes & Seitz erschienen. Gleichzeitig mit ihrem Bändchen habe ich AN DAS WILDE GLAUBEN von Nastassja Martin, im gleichen Verlag erschienen, gelesen. Ich habe immer mehrere Texte in Lektüre. Hundert Jahre nach dem jesuitischen Paläontologen sucht die postmoderne Pantheistin mit einem Pariser Master in Anthropologie als Ich-Erzählerin in den entlegensten Enden der Welt nach der indigenen Wurzeln des Menschseins, das sie in einem begeisterten Wesen zwischen Tier und Mensch vermutet. Ihr an der Universität erworbenes Selbst- und Weltbild erscheint als mytisch überwölbter Rationalismus, so dass sie ständig aus Sein und Zeit fällt und selbstreflexiv der Welt und der Gemeinschaft entzieht. Aus ständiger Angst, objektiviert zu werden, bleibt sie stets auf Distanz, um dann die Grenzen um so stärker sprengen zu wollen. Auf der Suche nach der Urnatur läuft sie schliesslich hoch oben in den sibirischen Bergen einem Braunbär in die Arme, der ihr mit einem Schmatz einen Teil des Unterkiefers wegbeisst, während sie den Eispickel in die Flanke des Bären haut. Der dann beleidigt wegtrottet. Die Erzählerin berichtet dann vom russischen Krankenhaus, wo sie ein russisches Implantat erhält, das später in Paris in der Salpêtrière sicherheitshalber durch ein europäisches ersetzt wird, das leider nicht ganz keimfrei war. Seit der Begegnung mit dem Bären träumt sie jede Nacht von diesem gewaltigen Zusammenstoss, der vielleicht nicht ganz zufällig stattfand, auf jeden Fall sie grundlegend verändert hat, vielleicht auf den Bären? Die traumapsychologische Behandlung bricht sie ab, weil die recht trockene Selbst- und Weltsicht der Psychologin ihr widersteht. Die Wissenschaftlerin sammelt seit Jahren Berichte über die vielfältigen Wesenheiten, die ein- und denselben Körper bewohnen können – um den Begriff einer eindeutigen, einheitlichen und eindimensionalen Identität auszuhebeln. Vielleicht ist alles noch komplexer, als wir denken können? „Ich sein bedeutet heute, den Konsens zu verweigern“ behauptet sie frivol, um einige Seiten später zu schwärmen: „Aber da waren unsere verschlungenen Körper, da war dieses unbegreifliche Wir„. Feiert Kommunion mit einem Bären. Der Selbsttranszendenz eher hinderlich. Archetypische Konfrontation; der Mensch mit erigiertem Glied gegenüber dem verletzten Wisent an den Höhlenwänden von Lascaux. „Sein Kuss? Intim über jede Vorstellung hinaus.“

Sie muss zurück in den sibirischen Wald. Dort sagt ihr Darja, „Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, in dem sie dich am Leben gelassen haben.“ Die Autorin freut sich über den animistischen Gedanken, empört sich aber über die Sprachlogik, welche den Bären wie sie objektiviert und zum Ausdruck von etwas anderem als uns selbst macht. Ihr konstruktivistischer Individualismus verbaut weitere Einsicht. Lieber setzt sie auf die selbst erlebten Begriffe Alterität und Liminalität. In Computerspielen bezeichnet man damit Elemente wie Isolation, keine Identität, keine Mitmenschen. Und Hybridisierung. Kairos auch. Autismusspektrum? Eine Veränderung des Weltverhältnisses? Hat Kopernikus nicht gerechnet?

Immerhin erfahren wir noch, wie die Ewenen den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt haben: Eines Tages ist das Licht ausgegangen, und die Geister sind wieder gekommen. Und wir sind zurück in den Wald.

Und Zwischendurch immer mal wieder eine kurze Geschichte von Adelheit Duvanel, aus den 60er- und 70er-Jahren: Fern von hier.

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