Die Frühaufsteher

Heisses Blut, kaltes Hirn. Sozial todgeweiht. Zumindest der Dümmere. Aber lest selbst.

Köbi Bossart, knapp dreiunddreissig Jahre alt, ist selten zur Schule gegangen; er lernt weder lesen noch schreiben und gilt als geistesschwach. Mit elf Jahren wird er von seinen Eltern in die Fabrik geschickt. Bald wird er verdächtigt, Diebstahl zu begehen und sitzt mehrmals im Gefängnis. Nach fünf Monaten Haft kehrt er nach Embrach zurück und findet Unterschlupf bei einem fernen Verwandten, dem fünf Jahre älteren Hansjakob Ryberger und seiner Frau, die etwas ausserhalb wohnen und ebenfalls von der Gemeinde beargwöhnt werden, weil dort immer wieder zwielichtige Gestalten Nachtlager finden: die werden ihm,  – weil niemand sie will – vom ganzen Dorf geschickt, vermeldet Ryberger später. Im Schicksalsjahr 1856 wohnt Köbi seit einem Jahr zur Miete, obwohl er nie Mietzins oder Kostgeld bezahlt. Er dient als Taglöhner im Holz, bei Güterarbeiten oder bei der Pferdemetzg. Er hat Ryberger auch seinen Bürgeranteil in Embrach zur Nutzung überlassen. Bossart hat den Gotthard Engel um 44 Franken angepumpt, für einen Hausiererbauchladen. Die Einnahmen hat er aber für sich verbraucht, und jetzt hat ihn der Schnösel betrieben! Bossart hat einmal zu Ryberger gesagt, man könnte die Geldsorgen vergessen, wenn man diesen Gotthard aus dem Weg räume. 

Ryberger war elf Jahre alt, als sein Vater, ein Flüchtling aus Vaduz, starb. Seine Mutter lässt den kräftigen Jungen fortan machen, wie es diesem gefiel. In der Schule zeigt er sich nicht unfähig, aber gegen seine Mitschüler grob und gegen den Lehrer unverschämt und trotzig. Schon als Jüngling macht er sich der Dieberei und Unehrlichkeit verdächtig, dann wird er mehrmals als überführter Dieb gerichtlich bestraft, aber wohl noch öfter gelang es seiner Schlauheit, der Entdeckung und Bestrafung zu entgehen. Den Gottesdienst hat er nie oder “wunderselten” besucht, berichtet der Stillstand von Embrach der Anklagekommission des Obergerichts, und er habe regelmässig den Sabbat geschändet – wenn er schlachtete, dann zur Zeit des Gottesdienstes. (Ich bin in dieser Hinsicht genauso Frevler; ich schreibe und metzge eine Geschichte, jetzt, zur Zeit des sonntäglichen Gottesdienstes – d.Vf.) Seine Ehefrau Anna Briner von Lufingen scheint nicht viel besser als er zu sein. “Sie hat sich wenigstens nie über ihn und seinen Wandel beklagt, nie geschieden zu werden verlangt, sondern allem was geschah gleichgültig zugesehen.” Zur Tatzeit gebärt sie zum zehnten mal, diesmal eine Totgeburt. Während der Untersuchungshaft schiebt Ryberger die Schuld auf andere, sagt aber aus, Freude an schlechten Menschen und schlechtem Handeln bekommen zu haben. Auf jeden Fall wies er ein Doppelwesen auf, er kümmerte sich liebevoll um seine kranke Base, “eilte aber vom Krankenbett zum Morde”. Ryberger hatte dem Engel einmal Fleisch für 13 Franken geliefert, aber der Schnösel hat nur 12.50 bezahlt, mehr sei das auf keinen Fall wert. Ryberger gefiel die Idee, den Gotthard zu beseitigen und an sein Geld zu kommen. Und der Grössere und Klügere übernahm die Führung.

Der Dritte, das Mordopfer, ist der Engel, Gotthard gerufen. Der neununddreissig Jährige ist Sohn eines Arztes, sein Bruder wird auch Arzt und zieht ins Bergell. Gotthard sollte die Güter seines älteren Bruders verwalten, zeigte sich aber bald überfordert, so dass man ihn finanziell bevormundete. Er ist Pächter auf der Öle, einer Öltrotte, und bewohnt nebenan ein Haus im Familienbesitz. Seit einem Jahr besorgt ihm die 56-jährige Witwe Magdalena den Haushalt. Für den Betrieb der Mühle – Ankauf von Ölsamen – und für andere Geschäfte lässt ihm sein Bruder immer mal wieder Geld auszahlen. Erlös von Produkten oder Gewinn aus Handelsgeschäften behielt Gotthard selbstverständlich ein. Durch seine Körperkräfte und das Geld war er unter den Falliten, Konkursiten und anderen anrüchigen Gesellen, unter denen er sich gerne aufhielt und auftrumpfte, der Platzhirsch. Nun, der sollte erlegt werden.

Sie alle lebten in einer Bubble des ruchlosen Frevels und unter der dörflichen Käseglocke, wo jeder jeden kennt und die Gerüchteküche ständig dampft.

Am Osterdienstag, 25. März 1856, kurz nach zwei Uhr in der Frühe, bricht Gotthard Engel mit einem Handwagen, beladen mit 30 gebündelten Kornsäcken, auf, um vorerst nach Eglisau und dann weiter nach Schaffhausen zu ziehen, um sein Getreidegeschäft zu tätigen. Er trägt Rock und Hose aus demselben quadratisch gemusterten Stoff und eine gelbgestrichelte Schirmmütze. Den Geldranzen hat er vorn unter dem breiten Hosenlatz um den Leib gebunden, Brieftasche und Geldbeutel in die Rocktaschen gesteckt. Am Donnerstag würde er wieder zurück sein. Bossart und Ryberger mit ihren schweren Gehstöcken aus Hartholz haben seinen Abmarsch beobachtet, nehmen die Abkürzung zum Hardwald und warten neben der Strasse von Embrach nach Rorbas, dort, wo der Fussweg quert und durch den Wald zur Töss führt (dort erinnert heute nichts mehr an diese Geschichte). An dieser Stelle vernimmt Gotthard von einer ihm bekannten Stimme “Guten Tag” und Bossart wie Ryberger liefen neben ihm her. “So seid ihr auch da!” bemerkt Gotthard, aber schon sind die beiden wieder verschwunden. “Ach du mein Gott” ruft er, als er kurz darauf von Bossart einen gewaltigen Schlag auf den Hinterkopf bekommt. Dreht sich um und wird mit einem zweiten Schlag von vorne niedergestreckt.

Sie laden Engels Leib auf dessen Wägelchen und ziehen Richtung Töss, zum “Schluch”, wo Ryberger ein Stück Streuland besitzt. Dort nimmt Bossard Brieftasche und Gedbeutel an sich, Ryberger gürtet sich den Geldranzen um. Das Wägelchen mit der Leiche verstecken sie im Gebüsch und kehren um halb vier nach Hause zurück, wo Ryberger seiner Frau befiehlt, reichlich Frühstück zuzubereiten. Nach dem frühzeitigen Leichenschmaus schickt Ryberger Bossart zurück, um allfällige Blutspuren zu beseitigen. Er selbst zählt die Münzen und verbrennt alle Papiere und den Beutel im Ofen. Etwa 500 Franken, befindet er gegenüber Bossart. Der war zwar am Tatort, wurde aber von unguten Gefühlen befallen und brach die Spurensuche unverzüglich ab. 

Um sieben Uhr abends begeben sie sich wieder zum Versteck und beginnen, ein Grab zu schaufeln. Als sie etwa schuhtief gegraben haben, bemerkt Ryberger, dass ihm die Idee mit dem Grab auf eigenem Land doch nicht gefällt. Sie schütten das Grab zu und bedecken es mit Streu, binden der Leiche einen Strick um den Hals und schleppen sie zur Kante über der Töss. Dort bei der Felswand stürzen sie den toten Engel und das Sackbündel ins Tössbett hinunter. Ein paar Schritte flussabwärts vergraben sie Leiche und Bündel tief im Flussbett, beschwert von zwei zentnerschweren Felsbrocken. Sie schuften etwa eine Stunde. Um neun Uhr ziehen sie auf getrennten Wegen heimwärts, Bossart mit dem grünen Wägelchen, was zwei Zeugen sehen. Das Wägelchen wird darauf zerlegt, Holzteile verbrannt und die Eisenteile vergraben. Die Beute wird mehrmals neu versteckt. Als man sie schliesslich findet, besteht der Geldbetrag aus 418 Franken in Gold- und Silbermünzen.

Am 12. April schreibt der in Rorbas stationierte Kantonspolizist an seinen Chef in Zürich: “Es wird vermuthet und ist fast nicht zu zweifeln, dass er von Illigen bis Eglisau ermordet und seiner Barschaft beraubt worden ist.” Zudem meldet er, dass ein gewisser Bossart am Tag vor dem Verschwinden bei Engel gewesen sei. Engels finanzieller Vormund hoffte aber, dass er nach Amerika verreist sei. Am 16. April erscheint ein Polizeikommandant aus Zürich und ordnet umfangreiche Ermittlungen an. Am gleichen Tag lässt der Embracher Gemeindeammann mit 35 Freiwilligen den Hard- und Gemeindewald absuchen – sie finden den abgerissenen Rockzipfel und das zugeschüttete Grab. Engels Haushälterin kann einen gleichen Stoffresten vom Schneider vorzeigen. Am selben Tag werden vier Tatverdächtige festgenommen, darunter Bossart und Ryberger. Die gleichentags erfolgten Hausdurchsuchungen machten diese zu den Hauptverdächtigen – man findet Kleider mit Blutspuren. 

Und der immer blanke Ryberger hatte noch am Tag von Engels Verschwinden eine Schuld von 20 Franken beglichen. Und an einem Leichenmahl, als man auf den Mord zu sprechen kam, soll er schulterzuckend gesagt haben, der Engel sei gut verscharrt. Vier Wochen nach der Tat fand man die Leiche, fuhr sie auf einem Handwagen nach Embrach ins Schützenhaus. Dort wurde sie erst identifiziert und danach seziert.

Der Untersuchungsrichter hatte schnell die vielen Indizien zu einer stattlichen Beweislast aufgebaut und musste nur noch abwarten, was ihm die Zellengefährten der Angeklagten berichten würden. Bossart hatte das Bedürfnis, dem Mitgefangenen seine Geschichte zu erzählen. Bald legte Bossard ein Teilgeständnis ab, schwärzte aber Ryberger an. Dieser bestritt jedoch hartnäckig, irgendetwas mit der Sache zu tun zu haben. Die Akten wurden dem Schwurgericht übergeben. Am 23. Juni tagte dieses im Rathaus Winterthur. Das Corpus delicti lag auf dem Kanzleitisch. Die Angeklagten beschuldigten sich gegenseitig und dadurch war offensichtlich, dass sie die Tat gemeinsam begangen hatten. Das Gericht verurteilte beide zum Tode.

Sie konnten noch auf Begnadigung hoffen, letztes Jahr wurde ein zum Tod verurteilter Giftmörder vom Kantonsrat begnadigt. Ihre Verteidiger formulierten die Gesuche. Die Petitionskommission stand dem Gesuch mehrheitlich ablehnend gegenüber. Schliesslich ergab die Ballotage im Kantonsrat: Für Ryberger wurden 135 schwarze und nur 54 weisse Kugeln eingelegt, bei Bossard waren es 125 schwarze und 65 weisse. Politisch wurde das Vergehen des Dümmeren etwas weniger erheblich gewichtet.

Der Zürcher Kirchenrat schien die Sache ähnlich zu beurteilen, Bossard bekam zur Todeszellenseelsorge die beiden Pfarrherren des Gross- und des Fraumünsters zugeteilt. Ryberger wurde von den Pfarrern aus Höngg und Altstetten besucht und begleitet. Den Pfarrern gelang es, die beiden verurteilten Täter auszusöhnen. Und einzusehen, ihr Schicksal in die Hände Gottes zu legen. Am frühen Morgen des 2. Juli, um Viertel vor fünf, wurde Bossart in einer Kutsche aus dem Gefängnis Oetenbach zur nahegelegenen Siehlwiese gefahren, in Begleitung des Polizeihauptmanns und der beiden Pfarrer. Bossart sah nicht links, nichts rechts, sondern sprach ständig Gebete nach. Dann wurde er mit auf dem Rücken gebundenen Händen zur Richtstätte geführt, ans Deliquentenbrett geschnallt, kopfvoran durch die Lunette geschoben, sein Hals fixiert. Er empfiehlt seine Seele Gott, schon fällt der Block mit dem Messer. Ein dumpfer Schrei des Entsetzens geht durch die Menschenmenge. 

Dieser Moment ist für einen vierten Frühaufsteher, den Guillotinebauer Johann Bücheler, ein weiterer Schlag in einer unglücklichen Reihe, die vor zwanzig Jahren begann, als er mit einer Postkutsche nach Genf fuhr, mit dem Auftrag in der Tasche, die dortige nach französischem Vorbild gebaute Guillotine zu studieren und nachzubauen. Das war eine Siegesfahrt, in Genf wurde wochenlang geprasst. Dann wurde das moderne Enthauptungsgerät in Kisten verpackt ins Oetenbach geliefert. Bücheler erhält 160 Franken, der Kanton Zürich muss für Gesamtkosten von 1555 aufkommen. Noch im selben Jahr liefert Bücheler eine zweite Maschine nach Luzern, wo gerade die Liberalen am Ruder sind. Doch wie früher die Scharfrichter wird er ausgegrenzt, er bekommt keine Aufträge mehr, bei Escher-Wyss will man keinen Henker und selbst in der Strafanstalt heisst es, ein Guillotinebauer könne kein Staatsdiener sein. Mit dem Züriputsch wird wieder die Enthauptung mit dem Schwert eingeführt, die Guillotine bleibt in ihren Kisten. Der politische Wind dreht wieder und 1845 saust das Fallbeil zweimal nieder. Bücheler hatte sich zwar für die Bedienung seiner Maschine anerboten, doch wurden ihm professionelle Scharfrichter aus Rheinfelden und Genf vorgezogen. Und so ist Bücheler bloss einer der vielen Zuschauenden im Zürcher Schanzengebiet. Und nun, elf Jahre später geht Bücheler zu Fuss nach Zürich, um dem Einsatz seiner Guillotine beizuwohnen, in der Hoffnung auf ein Gefühl der Zufriedenheit angesichts der makellosen Konstruktion. Als dann aber der erste Kopf fällt, beschleicht ihn Mitleid und Abscheu, so dass er mit offenem Mund die offenen Münder der Gaffer anstarrt. 

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