Gegen Albaner

Landsgemeinde bewaffneter Männer auf dem Gottesacker, wo sonst. Persönliche Ehrverletzung wird durch edle Vergebung oder Blutvergiessen vergolten. “Er wartete darauf, dass einer vorbeikäme.” Solch lapidare Worte schildern, wie der Bluträcher in einem Hinterhalt mit dem Gewehr seinem Opfer auflauert. Die Hauptfigur heisst Gjorg, Dschorg ausgesprochen. Das auf der vierten Buchseite erschossene Opfer kommt aus der Familie Kryeqyqe, Krüetjütje ausgesprochen, welche mit der Familie Berisha im Blut liegt. Ja, die albanische Sprache, insbesondere die der Gegen im nördlichen Hochland, schreit nach Blutrache. Das Dorf heisst Brezftoht. Päng, tot.

Die Erzählung folgt vorerst dem Geschehen nach dem Rachemord: Die Berisha-Grossfamilie verschanzt sich in ihrem dreistöckigen Steinturm, denn noch hatte die Familie des Getöteten kein Ehrenwort geleistet. Das greise Berisha-Oberhaupt sucht in Begleitung von drei Clan-Männern den Turm des Getöteten auf und wird eingelassen. Man nimmt ihnen die Waffen ab und gewährt ihnen Gastrecht. Und gibt ihnen das vierundzwanzigstündige Ehrenwort, den kurzen Gottesfrieden. Eigentlich eine Teufelsfrist: Nur wenn der Bluträcher innert vierundzwanzig Stunden getötet wird, ist die Blutrache vollzogen. Einer späteren Tötung folgt erneute Blutrache, ad infinitum. Am Tag nach dem Mord und dem Ehrenwort muss der Täter an der Beerdigung seines Opfers teilnehmen und anschliessend dem Totenmahl im Kreis der Familie des Getöteten beiwohnen, so will es der Kanun. Die Trauernden zerkratzen sich die Wangen und raufen sich die Haare. An diesem einen Tag spricht der Dorfälteste im Haus des Opfers vor und erbittet das grosse Ehrenwort, das den Mörder für dreissig Tage vor der Rache schützt. 

Diese Schonfrist fällt auf die zweite Hälfte März und den folgenden halben April, “wie zwei bereifte Hälften eines abgebrochenen Zweiges”. Beim ersten Lesen denkt man nicht an die langen Winter im Hochland mit spätem Schnee und Raureif und verzeiht die Metaphorik, aber wenn dieser Vergleich zum Titel Der zerrissene April wird, schwindet der Glaube an die Sprachkraft des Autors und des Übersetzers. Die Schonfrist endet pünktlich 12 Uhr mittags. “Die Tropfen fielen spärlicher, als habe jemand die Wurzeln der Wolken beschnitten.” Vielleicht geht sowas auf Gegisch?

Gjorg hatte lange mit dem Rachemord zugewartet, das blutige Hemd seines ermordeten Bruders hatte ungewaschen anderthalb Jahre im Dachstock gehangen. Die Blutflecken begannen zu gilben, ein Zeichen, dass der Tote allmählich zornig wurde, weil er noch nicht gerächt worden war. Nun flattert es weiss an der Leine. Und Gjorg muss die Blutsteuer entrichten, beim Blutsverwalter im Turm von Orosh, halb Bauwerk, halb Drache! – eine Tagesreise weg. Beim Blut war stets Eile geboten, nur der Blutsvogt  liess sich so viel Zeit, dass immer mindestens einer warten musste, bis er die Steuer entrichten konnte. Meistens warteten mehrere Neuankömmlinge.

Zweiundzwanzig Gräber auf beiden Seiten, seit jenem Schicksalsschlag vor siebzig Jahren, den 1860ern: Ein Mann hatte abends angeklopft und er wurde als Gast aufgenommen. Herbergen und Wirtshäuser gab es im Hochland nicht. Ein albanisches Haus gehört Gott und dem Gast. Am nächsten Tag wurde der Gast gemäss altem Brauch bis zur Dorfgrenze begleitet. Und genau dort wurde er erschossen. Der Begleiter hatte dem Gast bereits den Rücken zugewandt, also kam der Tote nicht auf ihn. Da es aber keine Zeugen gab, entschied eine Kommission, dass der Gast gerächt werden müsse, schliesslich schaute das Gesicht des Toten zum Dorf. Die abenteuerliche Konstruktion spielt dem Fatum in die Hände und schiesst der Vernunft in den Kopf.

Die Berisha wollten einmal die Blutrache durch Versöhnung beenden, doch das senile Familienoberhaupt schrie im letzten Moment „nein!“. Schade, gerne hätten wir die Schilderung einer solchen Szenerie gelesen. Wird ein Vermittler aktiv, ruhen die Waffen. Die langwierigen Vermittlungsverfahren, die durch die Familie des zuletzt Ermordeten beliebig abgebrochen werden können, enden im Erfolgsfall mit einer Blutsbrüderschaft. Diese entsteht durch das gegenseitige Bluttrinken, so dass die Eltern verschmelzen. Ein versöhnlicher Ausgang wäre vielleicht von der Zensur falsch aufgefasst worden, die Kommunisten haben die Blutrache abgeschafft. Erst nach dem Tod von Hoxha („Eurokommunismus ist Antikommunismus“) und dem Ende der Diktatur flammte die Blutrache in den 90er-Jahren wieder auf, gespickt mir Rachemorden an ehemaligen Geheimdienstlern.

Das mittlere Drittel des Romans erzählt die Geschichte des Dichters Besian Vorpsi. Der Ethno-Romantiker verbringt mit seiner jungen Frau Diana die Flitterwochen im nördlichen Hochland. Das Internet findet nur die Schriftstellerin Ornela Vorpsi, geboren 1968, vielleicht eine Nichte. Das Brautpaar begafft die Hochländer und geilt sich an den schwarzen Armbinden auf, die jene, die Blut zu nehmen oder zu geben haben, zur Schau tragen. Sie erschaudern vor der Murana, dem Steinhaufen an einer Mordstelle. Sind fasziniert von den Fluchttürmen, in denen Bluträcher nach Ablauf des Ehrenwortes sich verkriechen. Diana sagt: “Schrecklich und absurd und fatal wie alle grossen Dinge.” Gjorg denkt: “Die Menschen sehen schöner aus, und die Frauen lieben ihre Männer mehr.” Die Braut Diana vergafft sich in Gjorg, den Hamlet der Berge mit seiner schwarzen Binde, und dann betritt sie einen Fluchtturm, weil sie ihn darin vermutet (total 174 Fluchttürme, niemand darf hinein, ausser dem Priester). Sowas gibt es nur in der Literatur. Diana kommt unversehrt und leichenblass wieder raus und will sofort die Rückreise antreten. Dann erscheint noch der Blutsverwalter Ukaçjerra mit seinem namentlichen Blutbuch, dem Rachearchiv, der vom Prinzen gedrängt wird, die Einnahmen aus der Blutsteuer wieder zur tragenden Säule des Gemeinwesens zu machen. Die Kommunisten verschrien dann die Blutrache als kapitalistisches Profitunternehmen. Auch Diana hält das Blut für eine Ware wie jede andere. Es hiess, die Mädchen aus der Stadt küssen auf den Mund. Der Bischof vom Nachbarkreis “bereiste das schlechte Wetter”. Gjorg hatte Dianas Augen erblickt und muss sie wiedersehen. Es ist genau Mittag, Gjorg wird angerufen, dann „drehte sich die Erde und schlug vor ihm hoch“. Tirana, 1978.

Ismail Kadare, Der zerrissene April, 1980, Überarbeitung 1996. „Der Autor hat seine kleine Loge vor der Bühne, auf der ein ganzes Volk sein Blut vergiesst.“ Ukaçjerra über Vorpsi. Andere über Kadare. Geboren am 28. Januar 1936 in Gjirokastra (griechisch: Argyrókastro, Silberburg), der südalbanischen Geburtsstadt des älteren Enver Hoxha. Die Geheimdienstakten Kadares sind sehr umfangreich, aber als er 1970 im Westen mit seinem Roman Der General der toten Armee (in Albanien schon 1963 erschienen) Furore macht, lässt ihn Hoxha Parlamentsabgeordneter werden (Ich gebe dem Westen keine Dissidenten, soll Hoxha gerufen haben). Seither wird er von vielen Seiten verschrien. Im Roman selbst gibt es eine Stelle, die vielleicht politischem Opportunismus geschuldet ist. Die Figur Vorpsi fragt den Arzt, Begleiter des Schlichters und Kanun-Auslegers: “Haben Sie Marx gelesen?” Völlig unvermittelt. Und es gibt keine Antwort oder Nachfrage, mit der blossen Erwähnung ist die Sache für die Zensur erledigt. Kadare starb diesen Sommer in Tirana. Seine Tochter ist Delegierte bei der UNO und albanische Botschafterin in Kuba.

Mit Kanun ist die Rechtssammlung des Lekë Dukagjini gemeint; das kodifizierte Gewohnheitsrecht aus dem 15. Jahrhundert liegt in Neuübersetzung von 2001 vor. Regelt persönliche und familiäre Angelegenheiten, Wirtschaft und Handel, Politik, Strafrecht, Justiz. Vier-Generationen-Haushalte mit mehr als 50 Angehörigen waren nicht selten. Stammbaum des Blutes, Stammbaum der Milch. Stammesendogamie. „Die Frau ist ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird.“ Der Aussteuer geben die Brauteltern eine Patrone bei: Mit dieser darf der Ehemann sie erschiessen, sollte sie fremdgehen oder abhauen wollen. Wer seine Frau aus einem anderen Grund tötet, fällt ins Blut mit den Schwiegereltern. Gott gab den Männern zwei Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirne. Haft- und Körperstrafe gibt es im Kanun nicht, sie sind mit der Ehre erwachsener Männer unvereinbar. Ehrverletzung kann nicht durch Sachleistungen abgegolten werden, sondern nur durch Vermittlung vergeben oder mit Blut abgewaschen werden. Die Ehre eines Mannes wird verletzt, wenn er geschlagen oder bedroht wird, wenn er angespuckt wird oder öffentlich der Lüge bezichtigt wird, wenn seine Frau vergewaltigt oder sein Gast beleidigt wird und wenn Schulden nicht zurückbezahlt werden. (So viel Du erhieltest, musst Du zurückgeben – der Kanun kennt kein Darlehen gegen Zins.) Wird jemand der Ehrverletzung bezichtigt, so kann der Angeklagte ableugnen, wenn er mit der Schwurhand ein Glaubenszeichen berührt und Gott als Zeugen anruft. Der Eid wäscht das Blut. Dem Ableugner steht der Eid zu, dem Ankläger nicht, auch wenn er Augenzeuge ist. „Tötet jemand sich selbst, verliert er sein Blut.“

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