Ein Glas Wasser

In diesem Frühjahr wurde sie ins Register der ausländischen Agenten eingetragen, angeblich eine auslandsgesteuerte Russlandfeindin. Sie hatte sich gegen Putin und gegen den Ukrainekrieg ausgesprochen und bedauert die aggressive Unbildung der russischen Politiker. Wie Nawalny wurde die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja in Moskau Opfer einer Seljonka-Attacke mit grüner Säure. Ihr Sohn drängte sie schliesslich zur Ausreise, 2020 zog sie mit ihrem Mann nach Berlin. 

In ihrem Jahrhundertroman lernen wir ihren Sohn Jurik kennen, die Autorin selbst als Nora. Die Schilderungen über fünf Generationen beginnen 1905 und enden 2011 mit der Geburt eines neuen Jakow, dessen Namensgeber am Anfang der Geschichte als Titelgeber steht: Jakobsleiter, die alttestamentliche Himmelsleiter סֻלַּם יַעֲקֹב.

Gegen Schluss des 600-seitigen Liebesromans fragt die Autorin in Ich-Form als Nora, wer denn nun die Hauptfigur der Erzählung sein soll. Tatsächlich ist das Personal der Romanfiguren schwer überschaubar bis unübersichtlich. Und die Geschichte springt in jedes Jahrzehnt seiner hundert Jahre. Nein, kein Individuum soll die Hauptfigur sein, sondern “eine Art chemische Substanz”, so legt es das philosophische Weltbild des dialektischen Materialismus nahe. Ulitzkaja ist Genetikerin und hat für die Sowjetunion geforscht und gelehrt. Diese Substanz müsste dann allerdings unsterblich sein und die Eigenschaft besitzen, sich in Verzweigungen, Seitentriebe und Radikale aufzuspalten? So ist die Hauptfigur doch eher der Wesenskern, ein doch arg idealistischer Begriff. Der Roman wie die russische Geschichte oszilliert zwischen leninistischem Marxismus und mystischer Orthodoxie. Der Philosoph Karssawin steht dafür: Nach der Revolution per “Philosophenschiff” nach Berlin exiliert (im gleichnamigen Roman von Michael Köhlmeier entpuppt sich ein blinder Passagier als Lenin, der diesen Schlag gegen die bourgeoise Intelligenz selbst anführte), wird er später als Professor in Vilnius nach der Annexion des Baltikums erneut verhaftet und nach Komi ins Sterbelager deportiert. Noras Grossvater Jakow wird in ebendiesem Lager inhaftiert und erfährt, dass der litauische Lager-Arzt dem verstorbenen orthodoxen Philosophen bei der Obduktion ein Glasfläschchen mit dessen Personalien eingenäht hatte; in der Hoffnung auf ein Denkmal für den grossartigen russischen Denker. Berdjajew, hervorragender Neukantianer, sein Denken genau in der Mitte zwischen mystischer Metaphysik der Orthodoxie und dem atheistischen Materialismus der Sowjets, war auch auf dem Philosophenschiff. Der Idealismus wurde dorthin verbannt, wo er herkam. 

Ich lasse alle Statisten und Hilfsfiguren weg. Am besten gehen wir vom Autorinnen-Ich Nora aus. Ihre Grosseltern sind Jakow und Maria Ossetzki. Noras Vater ist deren Sohn Genrich Jakoblewitsch, ihre Mutter Amalia Alexandrowna. Als die vorwitzige Nora einen Schulverweis erhält, schlägt sie ihrem mathematikvernarrten Klassenkameraden Vitja vor, unerlaubterweise am Abschlussball teilzunehmen, als seine Braut, im weissen Kleid und mit Schleier. Die Standesbeamtin zögerte, traute sie aber, als Nora eine Schwangerschaft andeutete. Vitja war Nora dankbar für die Befreiung vom Joch der Hormone – Begegnunen rein technischer Natur. Nora war klar, “dass Sex und Gefühle tunlichst auseinanderzuhalten waren – zur eigenen Sicherheit”, was der Triebtheorie entsprach. Er studiert Mathematik, schwärmt für Schrödinger und baut auf Darwins Evolutionstheorie. Nora trug dann doch nicht weiss, wie die meisten Ballmädchen, sondern ein schrilles Theaterkostüm.

Das Buch beginnt 1975 mit der Geburt von Noras und Vitjas Sohn Jurik und der Totenwaschung von Grossmutter Maria. Alle tranken, ohne anzustossen, so geht kollektives Totengedenken auf russisch. Marias Vater Pinchas Kern, ursprünglich aus La Chaux-de-Fonds, hatte sich als Uhrmacher in Kiew niedergelassen und eine dortige Jüdin geheiratet. Das Buch endet mit dem Besuch Noras in der Lubjanka, der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB, wo sie die umfangreichen Akten ihres Grossvaters einsieht.

Nora ist Bühnen- und Kostümbildnerin, ein Vollbluttheatermensch, wie ihre Oma. Im dritten Jahr ihrer Spass-Ehe mit Vitja begegnet sie 1963 Tengis, einem georgischen Bühnen-Impresario, noch vollblutiger: Ihre lebenslange Liebe kennt kein Gestern und kein Morgen. 1974 war Tengis wieder einmal, wie immer für immer, abgereist. Nora rief Vitja an und wurde schwanger. Doch Vitja empfand das eigene Leben als aufgezwungen und wollte kein weiteres leidendes Geschöpf in die Welt setzen. Im Schachspiel entdeckt er später in Jurik das Genie, das wohl von ihm stammt.

Mit einer so grundlegenden Veränderung ihrer gesamten Biochemie durch die Mutterschaft hatte Nora nicht gerechnet. Sie spürte, dass das Kind mit seiner wunderbaren Welt sie in unsichere Gefilde führte, und entschloss sich, einen Anker zu werfen. Sie schaffte sich einen wöchentlichen Liebhaber an (Blutreinigung nannte sie das). Jurik interessiert sich nur für abstruse Dinge und ist in der Schule meist alleine. Tengis macht aus Jurik einen Gitarristen und  Beatles-Interpreten. Aus Noras und Tengis’ kurzen, unverbindlichen Begegnungen war eine Bindung entstanden, die stärker war als jede Ehe. Vitja war unterdessen in einem amerikanischen Forschungszentrum gelandet und die postsowjetische Reisefreiheit ermöglichte Jurik den Besuch bei seinem Vater, der neun Jahre dauern sollte. Sein amerikanischer Gitarrenlehrer brachte ihm Fingerpicking bei und löste Juriks Kindheitstrauma auf, das aus dem ständigen Streit mit seiner Mutter über das Nagelschneiden erwachsen war. Der Mathematik-Unterricht war in Russland besser gewesen, aber der ansteckende Freiheitstraum liess ihn Strassenmusiker werden und die Beflügelung fördernde Substanzen kennen und hochschätzen lernen. Im Januar 2000 gelingt Nora und Tengis das Abenteuer, Junkie Jurik in ein Flugzeug nach Moskau zu zerren. Am Tag seiner Entlassung aus der russischen Suchtklinik, nach sechs Wochen völliger Abstinenz und endlosen tiefschürfenden psychologischen Gesprächen, begegnet er Lisa, die dort ihre Cousine abholt. Dank der Gitarre, die Nora und Tengis mitgebracht hatten, bahnt sich die nächste Liebesgeschichte an. “Die dumme Frage, was wichtiger sei, das Körperliche oder das Geistige, beschäftigte sie nie. Ihre Nähe war so vollkommen und grenzenlos, wie sie nur wenigen vergönnt ist.” Die nächste Generation Jakow kommt per Sturzgeburt in diese Welt und geht in diesen endlos-zeitlosen Strom ein. Das Leben ist eine Jakobsleiter. 

Die Grosseltern liebten sich so, dass sie nicht nur den Geruch des anderen, sondern auch seinen Geschmack erkannten. Genrich kam  1916 zur Welt. Der musikbegeisterte Jakob liest Rubakin. “Ein guter Mensch, obwohl er ständig in der Schweiz lebt und schreibt” (an der lémannischen côte wird er Roubakine). Die für die Bolschewiki glühende Maria schreibt ihm 1925: “Ich habe tödliche Angst vor der Untreue, versuche jedoch den Anschein zu erwecken, als verachtete ich jede Unfreiheit, als hätte ich eine freie Auffassung der Ehe.” Theoretisch teilten sie die Idee vom “Glas Wasser”, der absoluten freien Sexualität, wie schon George Sand, Alexandra Kollontai und Inessa Armand, aber da war eine praktische Zurückhaltung. Er hat Freud und Jung verteidigt, sie hat das gehasst. Briefmarken halten keine Ehe zusammen; sie stellen Entfremdung fest. Sie berichtet, dass sie im Traum seine Untreue leibhaftig sieht. Jakow verstand Stalins 1928 vor dem ZK-Plenum geäusserte Prophezeiung, im Zuge des sowjetischen Fortschritts werde sich der Klassenkampf verschärfen, zu recht als politische Warnung an die dissidente Intelligenzija inner- und ausserhalb der Partei. Mit der Säuberungswelle wird Jakow an seiner Arbeitsstelle verhaftet und beginnt seine Lager-Odyssee. Sein Sohn Genrich sagt zur Mutter: ”Ein Schädling, ich wusste es!” Jakow untersagte sich das Gefühl von Unglücklichsein, Maria fand das kleinbürgerlich. Genrich arbeitete am Bau der Moskauer Metro und genoss die kommunistische Romantik. Maria lässt sich mit Beloussow ein, Jakob mit Assja. Die Scheidungsurkunde behält Maria für sich, nur Genrich weiss davon. Marias Liebhaber wird, angeblich Trotzkist, erschossen. Nach Stalins Tod kommt Jakow irgendwann frei und lebt illegal bei Assja in einer Moskauer Gemeinschaftswohnung, bevor sie gemeinsam in eine weitere Verbannung ziehen, wo Jakow stirbt. 

Über die ganzen Generationen hinweg zeigt sich der epochale Widerspruch zwischen dem rationalen Konzept der freien Liebe, basierend auf materialistischer Weltanschauung, und dem eigenen, leicht besitzergreifenden Liebesgefühl, das Untreue eifersüchtig ausschliessen will. Das gibt Raum für diese grossartigen Liebesschicksale.

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