1000w/5’ Egal, was passiert, ich halte zu meiner Gemeinschaft. Aber auch orthodoxe Identität gerät in Auflösung. Der Liebesroman Kairos von Jenny Erpenbeck führt das an zwei realsozialistischen Generationen vor. Im Sommer 1986 begegnen sich zufällig Katharina, neunzehnjährig und in Ausbildung Richtung Bühnenbildnerin, Tochter getrennt Lebender linker Künstler, und Hans, arrivierter Schriftsteller, Mitte fünfzig, Ehebett und Sohn, mit Geliebter und in Josefsehe, Parteimitglied und früher Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Schweizer Stasi dient dem Schutz vor „Innentäterinnen und Innentätern“, indem sie Personen auf Abhängigkeiten und Erpressbarkeit prüft (Weltanschauung, Sexualleben, Substanzenkonsum).
Die Ausbürgerung von Liedermacher Wolf Biermann durch das Politbüro der SED während einer BRD-Konzertreise, dann die Annahme der Milliardenbestechung durch Franz Josef Strauss und schliesslich die Implosion des realexistierenden sozialistischen Staatsgebildes haben die Identität der beiden Protagonisten zersetzt. Ihre Begegnung war zufällig, aber bei alldem sitzt der Zufall in seiner eisernen Stube und rechnet. Alles war so gekommen, wie es hatte kommen müssen. Erpenbeck hat einmal gesagt, mit dem Mauerfall habe sie ihre jungen Jahre und die Kindheit verloren.
Ausgerechnet ein so ungleiches Paar will die absolute Liebe leben. Heilige Zweifaltigkeit. Nichts als Ich und Du: und wenn wir zwei nicht sein, So ist Gott nicht mehr Gott, und fällt der Himmel ein, so die barocke Mystik des Angelus Silesius. Genauso geht es den beiden; in ihrer Verliebtheit haucht das Göttliche die Atheisten an, und dann ringt der Materialismus die Liebe nieder.
In den Medien wurde von diesem Roman berichtet, weil er den Booker-Preis erhalten hat. Und in Deutschland nirgendwo nominiert ist. Erpenbeck ist eine Ossi, in Ostberlin hat sie in der Schule Histomat und Diamat gebüffelt, den Unterschied zwischen Tausch- und Gebrauchswert gelernt und viel über die Geschichte des Sozialismus und Antifaschismus erfahren. Sie sieht aus wie eine Mischung meiner geschiedenen Frau und Angela Merkel. „Aber interessiert denn noch irgendjemanden, was in der Schlucht von Babi Jar damals passiert ist?“ fragen sich die Protagonisten, als sie einen Film über den Bildhauer Werner Stötzer sehen. Und das fragt die Autorin die deutsche Leserschaft, die sich eben nicht interessiert. Politisch korrekt heisst die Schlucht Babyn Jar, dicht bei Kiew. 33’771 Juden wurden innerhalb 36 Stunden in der Schlucht verscharrt und zugeschüttet. Paul Blobel wurde in den Nürnberger Prozessen dafür verantwortlich gemacht und 1951 am Strang erhängt. Der nach der Wannseekonferenz reichsweit mit der Judenvernichtung beauftragte Heydrich starb schon 1942 nach einem Attentat tschechischer Widerständler.
Das Altgriechische kennt drei Zeitbegriffe: Chronos ist unsere Kalender- und Uhrzeit, Aeon ist die ewige Vorzeit und die unbegrenzte Zukunft, Kairos bezeichnet das intellektuelle Konzept des günstigen Augenblickes. „War der Augenblick ein glücklicher, in dem sie damals, als neunzehnjähriges Mädchen, Hans traf?“, sinniert Katharina im Prolog, in dem sie zurückschaut auf ihre Geschichte und nach dem Tod von Hans zwei grosse Kartons voller Flachware erhält, Schriften und andere Erinnerungsstücke.
Erpenbeck schreibt streng auktorial, sie schreibt: er denkt, sie denkt – die Gedanken, die sie voreinander verbergen, liegen im Text klar wie Gesinnungsoffenbarungen in den Stasi-Akten. Wie soll er ihr je etwas abschlagen, wenn sie nichts verlangt? räsonniert er still. Kam es also darauf an, innerlich unabhängig zu sein? Aber wie konnte man das, wenn das Verliebtsein doch gerade darin bestand, unfreiwillig in Abhängigkeit zu geraten, fragt sich Katharina.
So nah ist sein Mund ihr beim Sprechen, dass er sie mit den Worten berührt: poetische Blüte des sozialistischen Realismus. Was die eine Generation vergessen wollte, legte sich als Tabu auch noch auf die nächste. Die Wahrheit ist immer konkret, hat das nicht Lenin gesagt? Hans hat es neulich für sie abgetippt, mit einem roten Farbband. Schmopfkerzen.
Aber gestern ist, vielleicht durch den Alkohol, plötzlich Eifersucht zum Vorschein gekommen (S. 136). Im Vermeiden dessen, was den einen oder die andere traurig machen könnte, nimmt die Traurigkeit auf einmal zwischen ihnen viel Platz ein. Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung, darum heissen die Glühbirnen Iljitsch-Lämpchen. Brecht kannte das Problem mit dem veralteten Gefühl, der Eifersucht. Das Gefühl abtrennen von sich und unters Mikroskop legen, darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten zwanzigsten Jahrhundert.
Kunstblätter mit Züchtigungsszenen: Durch ihre Augen wandert das Obszöne bis in ihre Gedanken. Und von dort kann es nie wieder hinaus. Marxistische Psychologie ist Biologismus. Katharina erlebt einen Neonazi-Überfall auf eine Punkkonzert, in einer Kirche. Die Polizei hat zugeschaut.
Katharina zieht sich die Schulmädchen-Uniform an und lässt sich von Hans den Hintern auspeitschen, das S/M-Gerät hat sie ihm geschenkt. Seine Briefe werden ordinär, vulgär, schmutzig, gruselig. Katharina schläft mit einem Studienkollegen. Liebe ist zum Kotzen. Wir sind erst in der Mitte des Romans. Hans wird zum Psychoterrorist, Katharinas Hingabe wird stockholmisiert. Ein Fester Freier ist nun bei seiner Hure. Die Briefe werden durch besprochene Tonband-Kassetten ersetzt, sie hört diese mit Kopfhörern und verfasst Antworten. Hans spricht ihr die Seele ab. Sie drückt die Pausentaste, dann hört sie weiter. Ein sehr langer Abschied. Wie schlägt man jemanden, den man liebt? Rumms.
Die atemberaubende Utopie der Liebe und des Kommunismus sind jetzt verhunzt, ruiniert. Wohlgemerkt, Scheitern an den eigenen Massstäben. Das Bewusstsein vom möglichen Kippen im Grunde die einzige Wahrheit. Und sind im Unglück. Doch zum zweijährigen Beziehungsjubiläum reisen sie nach Moskau. Hans nimmt eine Nagelfeile mit, damit er Katharina nicht wehtut, wenn er ihr den Finger in den Arsch steckt. Er zeigt immer stärker psychische Symptome, die auf ein Borderline-Syndrom hinweisen. Brecht treibt die Sache auf die Spitze: In Umarmung von den eigenen Leuten erschossen um der gemeinsamen Sache willen. In materialistischer Sichtweise ist Idealismus legitime Gewalt. Oder umgekehrt? Wieviel Zeit haben die Lebenden, mit der Wahrheit umzugehen, ohne von ihr verschlungen zu werden? Bechers Text Selbstzensur von 1956 erscheint, erstmals, 1988 in der Zeitschrift Sinn und Form. Die christliche Ethik nimmt sozialistische Form an. All die Moskauer Tage haben sie sich geliebt wie schon lange nicht mehr. Danach wird ihre Beziehung immer mehr zum offenen Machtkampf, Hass dampft.
Katharinas Vater sagt ihr, sie solle Hans zu einem Therapeuten schicken. Hans meint, warum nicht? und sitzt kassenpflichtig eine Stunde lang mit einem gebildeten Herrn zusammen und unterhält sich über Hölderlin, genauer über seine suizidalen Revoluzzer-Freunde und die Beziehungen untereinander.
Hans sagt, er habe sich selber verloren. Und sie versichern sich, dass es besser wäre, nicht mehr zu leben. Aber hier gibt es keinen gemeinsamen Suizid wie in Belle du Seigneur. Rimbaud, Hannah Arendt, Christoph Hein und Castorf halten sie im kulturellen Leben und Tiananmen wie das Paneuropäische Picknickt halten die Politik in Sichtweite. Könnte man doch, der Stille das Feld überlassen. Mit einem hoffnungsvollen Komma abgetrennt. Katharina geht mit einer jungen Freundin ins Bett und stiehlt Kleider in Kaufhäusern. Den Blick der Verkäufer einfangen, während die Hände unbeaufsichtigt beschäftigt sind. Frei sind sie jetzt alle. Der Geschlechtsverkehr verkommt zu physiologischer Banalität. Die erste Trennung. Rosa verlässt sie für Anne. Katharina hört auf ihre Hormone und Gene und sie weiss, dass nur Robert in Frage kommt. Dritte und endgültige Trennung. Wer will, liest zum Schluss nochmals den Prolog.