Der Roman dreht sich um die beiden Hauptfiguren Solal, sephardischer Untersekretär beim Völkerbund in Genf, und Ariane, Tochter einer calvinistischen Genfer Patrizierfamilie. Sie gehen eine aussereheliche Liebesaffäre ein, die nach drei Jahren 1937 im gemeinsamen Tabletten-Suizid endet. Die Erstausgabe von Albert Cohens «Belle du Seigneur» (Gallimard 1968) befindet sich in der Sammlung des Jüdischen Museums der Schweiz in Basel. Künstlerisches Tun lässt sich nicht von der Existenz trennen. Schreibkunst ist Existenzform, auch wenn weitere Funktionalitäten gelebt werden.
Wir bleiben intakt, indem wir uns als Figur an unsere Biographie klammern. Solal und Ariane scheitern an sich selbst und können ihre unendliche Liebe nur tot weiterleben. Ihre abenteuerliche Art, sich Wirklichkeit anzueignen. Psychologisch wohl Verliebtsein ins Verliebtsein, eine Art Metaamoripathie. Der jüdische Held ist verzweifelt ungläubig und nach seiner Entlassung sozial isoliert, entmächtigt und ein wenig entmannt.
Es ist sehr verkürzt, das Scheitern dieser erotischen Beziehung auf den Mangel an sozialen Kontakten oder krankhafte Eifersucht zurückzuführen, wie der Roman bisweilen suggeriert. Heute könnte man sagen, dass vor allem das Frauenbild des Helden der Hauptgrund ist. Solal wie sein Autor objektivieren die Frau in der Figur und Person Arianes; der auktoriale Erzähler zeichnet ihre Gedanken als Männerphantasie. Die Lust an der männlichen Selbstaufgabe im Liebesspiel als eine Art Religionsersatz kämpft mit der Angst vor dem Verschlungenwerden in der gefürchteten weiblichen Unersättlichkeit. Cohen war dreimal verheiratet.
Chronologie in Zitaten: Arianes Schwiegermutter freut sich auf den Tod, was sie in ihrem Jargon “den Marschbefehl erhalten” nennt – gewissenhaft notiert von der Stenographin, die gar nichts mehr verstand, denn sie war intelligent – Er sieht sich im Spiegel. “Ja, fast zum Erbrechen schön.” – wie jedes Unterbewusstsein, das ja stets nur die Macht anbetet – versuchte sie ihm künstliche Männlichkeit einzuspritzen, um sich daran aufzugeilen – Ich liebe Dich, wie ich niemals zu lieben gehofft habe – Eine Fehlentwicklung das System Mann – das Herz ist ein kleines Glöckchen am schweren Halsband des Lebens, wie es im Lied heisst – ich brauch das Improvozierte (Mariette, Arianes Dienstmagd) – Zuckerschnäuzchen – Haben-Sie-nichts-zu-verzollen-Küsse – Unterwasserküsse, Fruchtküsse – Montaigne lesen ist tranfunzelige Lehrerin, Kafka, Heidegger und all die anderen Langweiler nicht besser – aber die Brüste finde ich noch schöner vor allem meine wie aus Marmor vulgär wie aus Marmor zu sagen aber wenn man allein ist kann man ruhig ein bisschen vulgär sein das ist schick – und jetzt erzähle ich mir Büstenhaltergeschichten wo doch alles so religiös war – sogenannte Doppelkombine mit innerem Überschlag, wahrscheinlich eine gefütterte Terz mit folgender Einrollung (jüdische Bezeichnungen für Zungenküsse) – “Will die Frau mit Fremden ficken, kann der Mann nur finster blicken”, improvisierte Eisenbeisser (Cousin von Solal) – “wenn alle Gehörnten Europas Lampions tragen würden, was für eine Festbleuchtung wäre das!” – dann führten sie den Kampf von Mann und Frau – Wie kommt es, dass Du Kinder hast? “Wir haben das Licht ausgemacht.” – Die Phase des symbiotischen Schlafes – Oh, wie sehr genossen sie die Augenblicke der Freundschaft ohne Begierde (Geplauder und Kindheitserinnerungen, nach dem Frühstück) – Die sexuelle Leibeigenschaft verdummt sie ein bisschen. Doch er liebte sie und war glücklich – Angst vor dem monomanischen Schimmer in den Augen seiner Dienerin – Er erhob sich und trat in die Welt der Frauen – Angst vor dieser im Orgasmus epileptisch zuckenden Prophetin – drei Monate chemisch reiner Liebe – er reagierte allergisch auf russige Nasenlöcher (beide im Dampfzug) – Sie allerdings ahnte nicht, dass sie nur heuchelte (Er spürt, dass er heuchelt) – Los, sei erfinderisch, sei Autor und Darsteller zugleich – und all das, während die Juden in Deutschland Angst hatten – Dein kleines Unterbewusstsein hat wissen wollen, ob du schön gefunden wurdest – Stiefel erregen sie alle! Schweig! Aber ich sage doch gar nichts. Schweig trotzdem! – Kurz, sie ist reif für den Faschismus, die Stiefelbewunderin – Immer die schmutzige Anbetung der Macht zu töten, immer die schmutzige Anbetung der schmutzigen Männlichkeit. Schweig! – Eine so irreale Hypothese – Verdammt, es war also doch Liebe – melancholerisch – Seitdem ist sein Vaterland eine Frau – Was macht es ihm schon aus, nicht glücklich zu sein – Er grinst, um nicht allein zu sein – Solal einsame Sonne oh wie ich mich langweile – Das reichte an Kontakt mit dem Proletariat – “Dir gefallen die Männer, nicht wahr?” “Nein, sie widern mich an!” “Und ich?” “Du auch!” “Endlich!” – “Eine Arierin natürlich” – einer von der Rasse der Judenmörder – “ratsam wäre, meinen Vorgänger zum Wassermann-Test zu schicken?” (damals üblicher Syphilis-Test) –
Hier endet meine Exzerptiese mit dem Eintrag von Seite 872. Im Buch folgt noch der siebte Teil: Das letale Finale. Er schneidet sich die Pulsader auf, weil er sich geschämt habe, sie so zu quälen; wird in der Klinik interniert. Dann ihre Lungenentzündung. Er pflegt sie ohne Hilfe, “schob mehrmals am Tag die violinförmige Schüssel unter sie und leerte den stinkenden Inhalt” weg. “Süsse Wochen.” Als sie genesen war, spürte er wieder verliebte Absichten und liess sich durch ihre Blicke becircen. “Wohl oder übel musste er wieder den Gockel spielen.” Sie war unersättlich. Unnötig Bettgymnastik, der die unvermeidlichen Exegesen und der ganze Seelenschmalz folgten. Dann erzählte sie den Traum, dass sie von zwei Männern genommen wurde – beide Solal. Dann rief sie um Mitternacht Ingrid mit den schönen Brüsten für einen Dreier. Lächerliche Obszönitäten (Schwiegervater: Obschönitäten), Drecksmarsch der Liebe. Und dann die aufgelösten Tabletten: Sie trinkt zuerst, reicht ihm das andere Glas, “denn die Stunde war gekommen.” Ja, so endet der Roman.
Albert Cohen, 1895 auf der damals osmanischen Insel Korfu als sephardischer Jude geboren, wird in Marseille eingeschult, studiert in Genf die Rechte und veröffentlich als junger Funktionär des Völkerbundes “Solal“, ein Vorgängerroman mit Heldentod. 1938 liegt “Belle du Seigneur“ vor, doch Frankreich ist vom deutschen Antisemitismus angesteckt. Lediglich die komischen Episoden um die „Valeureux“, die grotesken und don-quichottesken Cousins von Solal, werden aus dem Buch herauspräpariert und erscheinen als nachmals berühmter Schelmenroman “Mangeclous“. Eisenfresser. Der tödliche Liebesjude bleibt literarisch ungeboren (wie schön! schreien die Anti-Natalisten). Cohen wird in Genf eingebürgert. Dann die Shoah. Zehn Jahre danach überarbeitet er den Roman; das dauert deren zwölfe. 1968 ist es soweit, das Buch erscheint bei Gallimard, aber ohne den schon publizierten Auszug. “Le Monde” feiert Cohen als Franzose – in seinem Seigneur lesen wir, dass ihm die französische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde nach seiner Entlassung beim Völkerbund.
Solal hat sich auf einem Empfang in die verheiratete Ariane verliebt und beschliesst, sie zu gewinnen, um in ihrem Feuchtgebiet zu weiden und zu verschwinden. Er will, dass sie sich aufgrund seiner inneren Werte in ihn verliebe und verkleidet sich beim Fensterln in einen alten, hässlichen Juden, bewaffnet nur mit seiner überbordenden rhetorischen Logik. Ariane wendet sich angewidert ab. So verführt er sie bei der folgenden Begegnung mit den klassischen Mitteln, die er ihr vorher systematisch und ausführlich in Form eines Dekalogs erläutert (Anbetung der Macht zu töten und des Reichtums, Stand und Rang, Schönheit und Kraft, Willensstärke und Durchsetzungskraft, Ausdauer und Fertilität). Geht über rund achtzig Seiten und wirkt: Sie kriegt feuchte Augen und öffnet die Lippen.
Gegen Schluss des Buches erfährt man, dass Solal aus den Diensten des Völkerbundes entlassen wurde, weil er dem Rat vorgeschlagen hatte, dass alle Völkerbundsstaaten jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufnehmen sollten. Ja, auch der Völkerbund war antisemitisch infiziert. Ariane gegenüber spricht er von einer Beurlaubung für 18 Monate, schickt ihren Mann als letztem Dienstakt auf eine lange Dienstreise. Die beiden stürzen sich in ihre tödliche Liebesgeschichte, die mit drei Monaten honey moon beginnt, alles sehr sorgfältig erzählt – man schwebt bisweilen auf einer religiösen Ebene, so stark ist deren beider Glaube an die Liebe. Das Hohelied. Salomon.
Hohes Pathos und schwarze Komik, lyrischer Überschwang und derbe Alltagssprache, Elegie und Kracher, Erhabenheit und Zynismus – all das fliesst ineinander, übereinander, beisst sich. Einige sehen in Cohen den Sprachzauberer und stellen ihn über Proust oder Joyce. Er ist aber auch sehr langatmig (über ein Dutzend Seiten ohne Satzzeichen), so dass man sich schon etwas in das Buch verlieben muss, um das alles auszuhalten: Das pavianhafte Dominanzverhalten der Männer in Sexualität und Politik und die Schwäche der Frauen dafür, die höfische Dekadenz der Bourgeoisie und den Antisemitismus der guten Gesellschaft oder die Farce der Politik, Dummheiten und Eitelkeiten. Das ist alles ziemlich hoffnungslos, darum war die Stunde mit dem Drecksmarschbefehl gekommen.