Word assembling mind craft

Was hat der da gemacht? Wenn die Aargauer Polizei wieder einmal dem rasenden Dichter das geltende Tempolimit vorhielt, ulkte er aus seinem Boliden Ferrari humanum est. Der Künstler ist der einzig echte Scheintote; mit dem Ziel, Sprache zu haben über den Tod hinaus;

Ein aufgepeitschtes Winterfeuer. Nach der Lektüre des Tractatus hätte man darauf gewettet, dass er sich zu Tode jage; gegen eine Wand; gegen die künstliche Mutter. Robert Walser hielt er für kleinmütig, weil er nicht Selbstmord beging. Walser starb auf einem Spaziergang, im Schnee. In seinem ersten Roman hatte er den Dichter Sebastian genau so sterben lassen. Burgers Text ist Schaulaufen auf einbrechendem Eis, sein Tod ein Eigentor mit Ansage. Tod am Küchentisch, das Poetenhaupt auf die robuste Armbanduhr geknallt.

Wenn ich ein Bücherschreiber wäre, legte ich ein kommentiertes Register der verschiedenartigen Tode an, schreibt Montaigne, der seine letzten Jahre im Schlossturm mit seinen Essais zubrachte. Philosophieren heisst sterben lernen, notiert er, Cicero. Die emotionale Befreiung wandelt sich zur kognitiven Obsession. Burger konnte sich kognitiv nur befreien durch die emotionale Obsession, sich selbst zum verschwinden zu bringen. Montaigne verstarb während einer Messe in der Schlosskapelle.

Die freiwillige Exit-Sterbebegleiterin weiss, was die assistierten Suizidierenden* vor dem selbstgewählten Freitod noch zu sagen haben: Bitte schliessen Sie nachher das Fenster. Und: tragen Sie dann bitte den Müllsack vors Haus. Machen wir. Der Rest sind Formalitäten. Wir zählen in der Schweiz täglich etwa hundertundachtzig Todesfälle, davon fünf Suizide, drei allein durchgeführt (davon zwei, manchmal auch drei Männer), zwei assistiert erfolgt (öfter mal beides Frauen). Soviel zum sterbenden Sternchen;

Nietzsches Zarathustra meint, man müsse die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu gehen: Das Ideal, jederzeit Schluss machen zu können. Cioran doppelt nach: Man ist zum Selbstmord nicht vorbereitet, sondern vorbestimmt. Wer Selbstmord begeht, wird zum Bruder Hitlers (Burger). Die voluntaristische Welt ist dunkel, die Aussicht auf eine Kongruenz mit ihr illusorisch, das Erkennen trügerisch. Der Mensch muss sein Leben und sein Sterben wählen, gestalten, als Projekt erkennen.

Was aber für die vom Feuerwerk des logischen Verschwindens Verdutzten nicht recht zu seinem finalen opus magnum passen wollte: der Zeitpunkt des Todes. Denn gerade war der erste Teil seines auf vier Bände angelegten Zeit- und Zigarrenromans „Brenner“ veröffentlicht worden. Hermann Burgers Mentor und Bewunderer, der angegreiste Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki merkte an, dass ein Schriftsteller mit einem gerade veröffentlichten Buch sich eigentlich nicht umbringen würde. Er schien den angekündigten Suizid für einen mystischen Unfall zu halten. 

Aber er hatte eine tödliche Überdosis Vesparax genommen und genau das in seinem Traktat beschrieben; die Geschichte nicht nur vorausgesagt, sondern mit der eigenhändig aufgegebenen Todesanzeige, die am Tag danach, als der erste Brennerroman erschien und er selbst tot war, eigentlich alle Zweifel ausgeräumt. Kaspar Villiger, dem der erste Stumpenroman gewidmet ist, wurde eben in den Bundesrat gewählt. Am Tag der Urnenbeisetzung erschien im Brückenbauer eine Fotostrecke, worauf er fotodokumentarisch aufzeigt, wie er sich selbst wegzaubert. 

Unser Ziel ist Pararealität, nicht Imitation der Wirklichkeit. Mit seinen Erfindungen … begegnet der Schriftsteller den schallenden Ohrfeigen vollendeter Tatsachen. Vollendete Tatsachen sind eine Ungeheuerlichkeit für einen kreativen Menschen.

Das Vorwort zum Traktat schildert zum Schluss, wie der von der Polizei identifizierte Hermann Burger in der heimeligen Ernst Zahn-Stube im Bahnhofbuffet Göschenen den ersten Satz seiner aktuellen Textarbeit – ebendieses Vorwortes – überprüft. Dieser Erster-Satz-Schluss besagt, dass das Erzähl-Ich Amandus Conte Castello Ferrari heisst und zu Protokoll gibt, was ich weiss. Die Gestalt des Herausgebers zieht sich in ihrer narrativen Funktion dermassen zurück, dass sie sich der auktorialen Perspektive annähert.

Amandus lässt wissen, dass in der Nacht vom 13. zum 14. Januar 1988 alles auf einen kalten Suizid hinwies, also ankündigungslos geplant und durchgeführt. Man hat in seinem leeren Zimmer mitten in der Nacht die Schrift Anleitung zum Selbstmord auf dem Kopfkissen gefunden, zudem das Manuskript tractatus logico-suicidalis, das aus totologischer Sicht den Suizid als unausweichlich behauptet, gleichzeitig als revolutionäre Tat feiert. Der Gemeindepräsident bildet einen Krisenstab. Die eine Abteilung sucht das Gebiet vom Teufelsstein bis zum Urnerloch ab, die andere studiert die gefundenen Schriften. Kaplan Flurlinger, der sich bei der Wirtin Inäbnit nicht nur die zurückgeschobenen Reste des Schriftstellerabendmahls vorsetzen, sondern auch den zuckenden Schwanz stillen liess, kommt nach der Lektüre des Traktats zum Schluss, dass, wer ein solches Manuskript hinterlässt, sich nicht umbringt; um dann darüber zu sinnieren, dass dem Erhängten eine Ejaculatio finalis vergönnt sei. Auch der Talschaftsarzt folgert, dass es wohl bei der Ankündigung bleibe, obwohl er vom psychiatrischen Berater des Verschollenen erfahren hat, dass der Auszug der Ehefrau samt Kind, die Kündigung seiner Redaktionsstellung, eine lange endogene Depression und imaginierte Impotenz traumatische Erniedrigungserfahrungen ausgelöst haben könnten. 

Habe ich ein reiches und gutes Leben gehabt, in dem ich den Lebenshunger stillen konnte und nun zufrieden und satt bin? Geriatrie und Gerontologie stellen eine Zunahme von schamvollen Formen des Sterbens fest, nach längerem und zunehmenden Fremdabhängigseins. Neuere Studien legen nahe, dass Menschen erst sterben können, wenn gemeinsam entschieden wurde, dass man sie sterben lässt. Sterben scheint zur Aufgabe eines medizinischen Managements geworden, aber gerade dadurch müssen wir mitbestimmen, wir wir sterben möchten. Der medical end-of-life decisions sind gar viele und die meisten Todesfälle sind heute mit oder durch medizinische Lebensende-Entscheidungen erwirkt. 

Am frühen Morgen findet man das Schlafzimmer des Verschollenen immer noch leer, aber Wachtmeister Flimser hat ihn in der Zahnschen Stube schreibend beim Frühstück gesichtet. Kapo Tschuor lässt sich beeilt den Pass zeigen, gültig bis zum 11. März 1990. Die Nacht will er in der Kammer der Serviertochter Ursula verbracht haben. Ja, der Tractatus sei von ihm, er schreibe an einem autobiographischen Text zum Tractatus mit dem Titel Die weisse Hölle. Nein, er erkäre darin nicht, wie es zum Tractatus gekommen sei: der Poet redet nicht, er stellt dar; schaut nur;

Deutungsverzicht und exegetische Askese im Schreibprozess sind Bedingung künstlerischer Produktivität: Kannitverstan in eigener Sache. Wer Burger liest, fährt ungebremst.

Ich sterbe, also bin ich. Was zu beweisen war. Finis. Mit dieser Trilogie von Totologismen endet das Traktat des Verausgabungskünstlers und Proto-Popschriftstellers. Andere Mortologismen sind weniger schlüssig. Gelegentlich wird das Ich zum Patienten-Wir, komplementär zum pluralis sanitatis. Metadiskurs und poetologische Reflexion verengen sich zum Kollaps. Er weiss nichts von den Sterbehotels in Varanasi und Jerusalem; er fordert Selbstmordschulen und Exit-Institute. Er beschreibt das Traktat als die einmalige Begründung eines einmaligen Suizids.

Unser Tod ist nichts Einmaliges, nichts Besonderes, er ist das Allgemeinste und Natürlichste in der Welt des Lebendigen: Wolfgang Welsch, Professor der theoretischen Philosophie, zuckt die Schultern. Die Voraussetzung in These eins ist falsch. Vermeintlich vorsätzliche biologische Ermordung entpuppt sich im Vollzug als natürlicher Tod.

Er hatte notiert, den Anschlag auf das eigene Leben aus der tragischen in die komische Sphäre hinüberzuretten zu wollen. Thomas Bernhard berichtet von einem bekannten Komiker, der auf einem Felsvorsprung über der Salzburger Pferdeschwemme in einer plötzlichen Anwandlung zu einer bayerischen Ausflüglergruppe gerufen habe, er werde sich gleich in Lederhose und Tirolerhut in die Tiefe stürzen, worauf die Bayern laut lachten. Als er sprang, lachten sie einfach weiter.