Die Idiolektiker

Ich habe die Geschichte schon mehrmals erzählt, aber jetzt schreib ich sie nieder. Clemens hat über Eigensprachen recherchiert.  

Mit vier Jahren erkrankt der 1890 in Obuchowka geborene Vasilij schwer an Masern. Seine Tante läuft mit ihm durch eisigen Wind in die Kirche zu den Ikonen. Abends wird es schlimmer, er fällt in ein tagelanges Delirium.

Danach ist er blind, erblindet. Er sieht keine Dunkelheit, sondern etwas Schlimmeres. Eine bizarre Dauerfarbe, die keinen Sinn macht, die nicht einmal eine Farbe war. Nur wenn er die Finger direkt gegen die Augen drückte, sah er so etwas wie Blitze. Er blindet.

Der Junge kauert den ganzen Tag in einem finsteren Winkel, und wenn jemand das Wort an ihn richtet, bricht er sofort in Tränen aus oder schlägt und tritt um sich. Er wippt stundenlang vor und zurück oder liegt verdreht auf dem Boden. Er schnappt zu, er beisst, auch seine Mutter.

Die Eltern wussten nicht weiter. Einmal zerrte ihn die verzweifelte Mutter hinaus aus dem Haus, in der Hoffnung auf himmlische Gaben. Sein Kopf sank ihm auf die Brust, als würde er lauschen. Aber als er sich bewegte und irgendwo anstiess, schrie er und stolperte eilig in seinen Elendswinkel zurück.

Zwei Tage später bat er darum, von woanders den Weg zurück in seine Höhle zu suchen. Wie ein kampfbereiter Soldat stand er mit geröteten Wangen da, so dass ihn die Mutter an der Hand bis zur Kirche führte. 

Er findet problemlos zurück an seinen sicheren Platz und seine Erstarrung beginnt sich zu lösen. Bald streift er mit Nachbarskindern durch den Wald, schwimmt im Fluss und jagt Krebse. Er spielt mit Bällen, lernt massenhaft Texte auswendig, spielt Instrumente, lernt eine Sprache nach der anderen. Mit neun Jahren kommt er nach Moskau in die Blindenschule, lernt unersättlich weiter und dazu Korbflechten und Besenbinden. Er trägt weiter seine unveränderliche Quaternio visueller Erinnerungen: der Himmel, Tauben, der Kirchturm und das Gesicht der Mutter.

Eines Tages besucht der Onkel des Zaren, ein Romanov, aus Angst vor anarchistischen Mordanschlägen unter Polizeischutz, die Blindenschule. Dem verspäteten Vasilij werden vor dem Empfangszimmer vom Fürsten komische Fragen gestellt. Magst Du das Essen hier? Nicht besonders. Ob er gerne besseres wolle? Ja, ob er ihm was geben könne? Der Fürst lacht bloss blöd: Findest Du mich sympathisch? Nein, sie halten mich auf mit dummen Fragen. Der Lehrer zerrt ihn weg und hält ihm vor, dass auch ein Blinder die Vornehmheit und Majestät spürt! Ich meinte, es sei einer der vielen Polizisten, die seit Tagen rumstehen und auch so dumme Fragen stellen. Der Romanov wird nicht viel später von den Anarchisten gerichtet.

Auf der Strasse spricht ein Mann die blinden Freunde an und zeigt sich interessiert an ihrem Leben und wirkt wirklich freundlich. Der Lehrer reisst sie weg: Direkt vor der Schule mit einem Bettler reden! Ich meinte, diesmal ist es ein Prinz.

Mit fünfzehn verlässt er/ich die Blindenschule und führt als Musiker im Moskauer Blindenorchester sieben Jahre ein selbständiges Blindenleben, bis die Tolstoj-Übersetzerin und Esperanto-Lehrerin, eine Scharapowa, ihn dringlich mahnt, sofort Esperanto zu lernen und nach England zu gehen. 

Ich brauch einen Espresso.

Nach wenigen Wochen konnte er sich in Esperanto perfekt verständigen und trat seine Reise an. In Warschau sollte er von Esperantisten empfangen und in den Zug nach Berlin begleitet werden. Er stand stundenlang auf dem Perron, den grünen Stern des Esperantujo am Mantelkragen, doch niemand sprach ihn an. Doch mit Geld und Verstand geht das irgendwie, und der nächste Tagebucheintrag schildert, wie er in Berlin, nach wieder einigen Stunden Wartezeit, von amikoj und Freundschaftsvorschuss empfangen wird, von Gesinnungsgenossen samideanoj. Nach einigen Stunden sprach er das Esperanto in ihrer deutschen Melodie, er musste nur den inneren Stimmstock neu einstellen. Dann geht es nach Köln, wiederum Esperanto-Freunde. Dann nach Brüssel, wo er frühmorgens wiederum umsonst wartet, die Esperantisten haben sich im Datum geirrt. Dann weiter, aber er steigt in Calais-Stadt statt im Hafen aus und muss sich wieder durchschlagen. In Dover und dann in London wird er durch Esperantisten empfangen und untergebracht. Nach einigen Wochen wird er in die Blindenhochschule aufgenommen. Der noch nicht einmal erwachsene Vasilij lernt den alten Theoretiker des Anarchismus, Pjotr Kropotkin kennen, was seine Neigung zu dieser radikalen Haltung verstärkte und seiner fluiden Existenz entsprach.

Wieder zurück in Moskau, lernt er Japanisch, weil man in Japan auch als Blinder eine Ausbildung zum Arzt machen könne. Schliesslich reist er mit Empfehlungsschreiben aus dem Blinden- und Esperanto-Netzwerk nach Tokyo, wo er immerhin eine Ausbildung zum Masseur absolvieren kann. 25’000 Leute empfingen an der Tokyo Station den indischen Dichter Tagore, der Vorlesungen hielt und die eng mit dem Esperanto verknüpfte Glaubensgemeinschaft der Baha’i besuchte und auch Eroschenkos neue Heimat, die Nakamuraya-Bäckerei. In diesem Anarchisten-Salon blieb Eroschenko vier Jahre lang und lernte Kämpfer aus aller Welt kennen.

Dann reist er wieder, quer durch Thailand und dann durch Burma. Dort erreicht ihn die Nachricht der Russischen Revolution. Aus Sorge um seine Eltern will er zurück. Er ist so blind wie zuvor. Bei der Einreise nach Indien wird er verhaftet, aber irgendwie kann er aus dem Gefängnis fliehen. In einem Kino in Kalkutta singt er die Internationale und übersetzt den Text in Bengali. Wiederum Festnahme und Ausschaffung nach Burma. Aber bald ist er wieder in Indien und reist alleine umher. Schliesslich wird er in der Blindenschule Chennai aufgespürt und diesmal nach Japan verfrachtet, wo er mit proletarischer Literatur und Sozialismus in Kontakt kommt. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Esperanto-Lehrer an der Blindenschule.

An seinem 36. Geburtstag sucht Clemens J. Setz die legendäre Nakamuraya-Bäckerei, doch dort wird Elektronik verkauft. Eine Seitengasse, greller Geruch nach Durchfall. Dann findet er in einem anderen Gebäude im 5. Stock das Art Museum Nakamuraya, wo einige Kunstwerke aus dem internationalen Anarchistennest versammelt sind. Nach dem berühmten Porträt im Nationalmuseum des jungen rotblonden Lockenschopfkopf sah Eroschenkos Gesicht hier düsterer aus, in der Blindheit eingesperrt. Eine Aufseherin schlägt dem österreichischen Dichter fast das iPhone aus der Hand, als er ein Foto machen will. Als er zum Ausgang wieder an dieser unwirschen Frau vorbei kommt, muss er sich zurückhalten – er verspürt eine schiere Lust, zuzubeissen.

Eroschenko treibt sich in der anarchistischen und sozialistischen Szene rum, so dass er schliesslich im Gefängnis landet. Dort schreibt er Ein enger Käfig, aber nur im Kopf. Als die Bäckerei-Hausmutter ihn besuchen kommt, diktiert er den Text. Die Intelligenzia wird sich für diese vollkommen auswegslose Geschichte begeistern und der blinde Dichter ein Popstar der 20er.

Er wird in Wladiwostock den russischen Grenzsoldaten übergeben, aber die lassen ihn nicht rein. Erlebt ein politisches Paradoxon: Wegen Bolschewismus aus Japan ausgewiesen, wird er von den Bolschewisten nicht hereingelassen, weil seine politische Gesinnung nicht nachweisbar ist. Dem Esperanto selbst erging es ähnlich: in antikommunistisch regierten Ländern wurden die Esperantisten mit den Bolschewisten gleichgesetzt, im stalinschen Sozialismus war der schwer kontrollierbare internationale Verkehr der Briefmarkensammler und Esperantisten Anstoss für das Verbot. 

Er wird nach China abgeschoben. Dort schreibt, unterrichtet und massiert er. In den intellektuellen Kreisen der Neuen Kultur wird er schnell zum Leitstern, seine Texte, lauter dunkle, schwermütige Punksongs in Prosa, gefeiert. 

Der Kater Tora-chan verbrüdert sich mit den Mäusen, die vor Hunger Kropotkins Buch Die Eroberung des Brotes fressen. Die Tigerkatze bittet um Morphium zur Sterbehilfe, da sie nun auch unter Hunger leide. Mäusegeschrei und Arbeiterchöre. In Shanghai dreht er fast durch.

Die Genie-Dichte ist in der Esperanto-Welt hoch, aber der sichtlose Himmel voller Schwermut und Irrsinn. Ein gewisser Nekrassow versichert, der blinde ukrainische Dichter sei mit einem russischen Eisbrecher in die Arktis aufgebrochen und lebe im ewigen Eis.