Eiersalat (Rohmaterial); Brautsuppe ohne Eierstich

Kritikern zufolge wird der Glaube in liberalem Verständnis nur noch als Mittel der Selbstvervollkommnung gedeutet. Das lutheranische „Einstellen guter Früchte“ bei rechtem Glauben gilt aber auch in der liberalen Theologie. Schleiermacher und Fichte werden gerne zitiert, natürlich auch Kant. Lessing und Rousseau; Albert Schweizer, Paul Tillich stehen Pate. Es gilt die Überzeugungskraft von Erfahrung und Argumenten und damit Wahrhaftigkeit. Trotz reformierter Nüchternheit keine Angst vor Spiritualität.

Im St. Peter, seit Generationen theologisch liberal, heisst der Sigrist mit Namen Sigrist, die Übereinstimmung launische Zufälligkeit. Der Aufstieg auf die Empore, hinter dem Altar, lässt den Blick in vorreformatorische Gefilde schweifen. Ein wenige Stunden zuvor zum Kommandanten der päpstlichen Garde ernannter Innerschweizer, ein Estermann, wurde zusammen mit seiner Ehefrau von einem jüngeren Gardisten aus dem Wallis in seiner soeben bezogenen Dienstwohnung ermordet, weil er ihm die Ehrbezeugung, die dem Vize-Korporal wie jedem Gardisten nach drei Dienstjahren zustand, verweigert hatte. Allmächtiger! Der Hitzkopf legte diesen in den Nacken, bevor er sich mit der Mordwaffe in den Mund schoss. Seine Mutter erhielt vom Nuntius das Projektil, mit dem sich ihr Sohn zu Tode gebracht hatte, doch dies schürte im Wallis nur Zweifel am vatikanischen Narrativ. Die Osterpredigt der jungen Pfarrerin mit ihren funkelnden Augen, die Verkündigung blinzeln, hinterliess im St. Peter den Eindruck, dass sie nichts von der leiblichen Auferstehung des historischen Jesus hält, diesem tagesaktuellen christlichen Dogma, sondern dass es um ein symbolträchtiges Gleichnis geht. Der riesige Steinsbrocken, der vom Grab weggerollt war, weiss nicht, wie ihm geschah: Ein Text des Slampoeten Tschudi, den er nicht gedruckt sehen will. Es wirkt das gesprochene Wort. Desinfektionsspray und Hygienemaske werden zu liturgischen Geräten des Abendmahls. Ich war sehr gerührt und bildete mit meinen Händen eine Schale, um ein frisches Stück Brot zu empfangen, geschnitten wie für’s Käsefondue. Dazu wurden kleine Gläschen Rotwein gereicht, das wirkte wie Echinaforce. In meiner Tasche die wundertätige Medaille, die in Paris gegen die Cholera wirkte, verschenkt von den Altkatholiken. Holy shit ;

Der Mann des geschriebenen Wortes, Jonas Lüscher, schildert sein Ostererlebnis nach sieben Wochen im künstlichen Koma. Herz-, Lungenfunktion und Blutreinigung wurden durch extrakorporale Maschinen abgearbeitet, das Bewusstsein medikamentös sediert: Das Dasein eines Cyborgs mit künstlicher Intelligenz. Vigilanz und Schmerz sind weg, aber der Stress nicht. Er wirkte seh unruhig, verstört und verängstigt – und fühlte sich auch so. Ein Teil des Bewusstseins reagiert unbewusst – und das nakotisierte Selbstbewusstsein weiss um die Todesnähe. Ihm träumte wochenlang vom sterben und auferstehen. Nach der Reaktivierung seiner intrakorporalen Organe brauchte er Tage, um Traum und Wirklichkeit zu scheiden. Es waren sehr verstörende und brutale Erlebnisse im Koma. Und dann auch irgendwie interessant. Die unangenehmsten Episoden spielten in Japan. Ich habe aber eigentlich keine Beziehung zu Japan, war nie dort. Jetzt will ich von Japan am liebsten nichts mehr hören und sehen. Ich bin nach der Reha erstaunlicherweise in mein altes Leben zurückgekehrt und habe da weiter gemacht, wo ich stehen geblieben bin. Aber es ist gerade sehr schwierig, wieder in die liegengebliebene Textarbeit reinzukommen. 

Aber das macht ja einen Teil des Daseins als Dichterin oder Schriftsteller aus.  Reinkommen ist eine andere Kunstform: Drinnen bleiben. Lüscher hat seine Dissertation an der ETH über die Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung sozialer Komplexität vor dem Hintergrund von Richard Rortys Neo-Trotzkismus nicht akademisch krönen lassen, sondern hat einen Roman daraus gemacht. Der neue japanische Literaturstern* Mieko Kawakami lässt ihre Hauptfigur als alter ego über ihr fruchtloses Bemühen, ihren einfallslosen Schreibstau berichten – selbst hängt sie ihrer alten Novelle eine weitere an und voilà der Roman. Meinerseits führte das zu Leseverstopfung. Aber die Kirschblüten auf dem türkisen Cover! Mit Schmetterling, genau das Deckenlichtbild während der Zahnhygiene bei der zierlichen Finnin. Der erste Romanteil ist eine Art Abklärungsbuch für Mädchen in der frühen Pubertät. Da wird über das ungefragt geboren werden gelästert, die mehr oder weniger regelmässige Blutung verflucht, der Sinn von Geschlechtsorganen hinterfragt, lustvoller Sex ausgeschlossen und Asexualität einer weitgehend beziehungslosen und unverständlichen Umwelt als angemessen verstanden. Sie hob plötzlich den Kopf, brach im Bruchteil einer Sekunde den Zehnerpack Eier auf, der zum Wegwerfen auf der Spüle stand, nahm ein Ei heraus und holte aus. Sie ist Midoriko, die Tochter der älteren Schwester der Erzählerin. Die Kleine hat monatelang kein Wort zu ihrer Mutter geredet, jetzt findet sie die Sprache wieder und schreit ihre Schuldgefühle heraus: Willst Du Dir die Brüste vergrössern lassen, weil sie durch mein Saugen schlaff geworden sind?! Aber da waren nicht nur die zehn Hühnereier, die zum Wegwerfen bereitstanden, Midoriko und dann auch ihre Mutter schmetterten sich ein zweites Zehnerpack aus dem Kühlschrank an ihre Köpfe. Am Morgen nach dieser Eierorgie trinken sie alle Sojamilch, das ist gut für den weiblichen Körper. Der Roman wird als feministischer Protest gegen die japanische Gesellschaft mit ihren verkrusteten Konventionen und gegen Gewalt an Frauen gefeiert. Von Murakami geedelt: grossartig, atemberaubend. Die Übersetzung sei hervorragend und vermöge den besonderen Osaka-Slang im Deutschen wiederzugeben? Es wimmelt von Orthographie-, Grammatik-, Interpunktions- und anderen Druckfehlern. Das Buch heisst Brüste und Eier, im Original etwas weniger schreierisch. Im zweiten Teil geht es dann um die männlichen Eier, genauer um künstliche Befruchtung und präzise um die Beschaffung von Spermien für eine Schwangerschaft der erzählenden Schriftstellerin. Als asexuelle Single recherchiert sie über Samenbanken von anonymen Spendern, lernt eines dieser Früchtchen auf der ewigen Suche nach dem anonymen Vater kennen und kriegt zu guter Letzt von genau diesem eine Portion Spermien zur Insemination mittels Baumarktspritze. Sie will einfach ein Kind, wegen dem fortgeschrittenen Alter und um es kennen zu lernen. Fremdsamen sing gar nicht so komisch. Sie findet, ihre Mutter sei als Arbeitskraft mit Fotze gehalten worden. Sie wollte ihre Mutter vom Scheisskerl Vater befreien. Die Mutter ist dann irgendwann abgehauen, mit ihr: Du brauchst keinen Vater. Diese Frage wird gestellt: Wie baut man zu einem Mann Vertrauen auf? Keine der Romanfiguren weiss um eine Antwort. Der Höhepunkt der zweiten Romanhälfte ist das Treffen der Erzählerin mit einem Privatspender, der sich zu dieser Art des Helfens berufen wähnt, weil seine Spermien Qualitäten weit über der Norm aufweisen (Konzentration, Motilität). Und der die Insemination durch Penetration, auf Wunsch in Spezialkleidung, die nur das Allernötigste frei lässt, für die zielführendste Methode zur ersehnten Schwangerschaft hält. Da dämmert es: Der Mann als Solcher: Dreck. Natürlich erhält auch die Meinung, dass Kinderwunsch auf Egoismus beruhe und dass es geradezu unverantwortlich sei, ein Kind auf diese kaputte Welt zu bringen, viel Raum. Die Frage der Eizellen-Spende ist in Japan noch nicht auf dem Tisch. Erdogan: Unsere Religion hat der Frau ihren Platz zugewiesen (von der Leyen nimmt’s hin, setzt sich auf’s Sofa, daneben): Das Muttersein. Die Kunsthochschule inkludiert den Kunst-Nazi nicht, das sei ein fake, keine richtige Kunstfigur – blosse Realität, banale Wirklichkeit. Die Gleichberechtigung bringt den Anteil Frauen an den Reichsten voran. Chicks with balls. Niemand geht leer aus (schon gar nicht Millie) – die Identitätspolitik ist in anderen Umständen. Alles mega meta und dystopisch. Am Schluss aber ist es da, das Kind.