Mäxchen Maximilian

Nichts deutete darauf hin, was später sein Leben ausfüllen und ausmachen würde. Geboren wurde er in einem grossen Gasthaus an einem grossen See. Oben auf der Dachspitze wehte eine währschafte Schweizerfahne aus gutem Tuch: Das Hotel Bär in Arbon. Im Fabrikstädtchen war einem Nachbarjungen seines Grossvaters der Kiefer aus dem Gesicht gefallen, so stark hatte das Phosphor in der Zündhölzchenfabrik die Knochen angegriffen, obwohl er noch kaum dem Kindesalter entwachsen war. Aber Max kam in ordentlichen Verhältnissen zur Welt, seine Eltern hatten sich als Arbeiterkinder zu selbständigen Hoteliers heraufgearbeitet. Hier stieg einmal auch ein König ab, zu Hause in Stuttgart als Schweizerkönig verspottet, der Würtemberger Wilhelm II. Ein mit grossbürgerlichem Lebensstil jovial sich anbiedernder Typ, die Souveränitätsrechte ausser der eigenen Bier- und Schnapssteuer längst beim Deutschen Kaiserreich. Dem Kaiser in Berlin stand der Württemberger distanziert gegenüber, er hatte eine grosse Abneigung gegen dieses unzivilisierte Militärgepolter. Mäxchen durfte als Junge die gefallenen Kegel aufstellen, wenn denn die Kugeln des Königs einige umzuwerfen gedachten.

Es war erzwungene Schicksalsergebenheit, wenn Eltern ihre menschlichen Gefühle niederrangen und ihren Lebensverhältnissen als hereingeborene Geschöpfe Opfer brachten und ihre eigenen Kinder zur Fabrikarbeit anhielten, auch wenn der Fabrikbesitzer persönlich diese unsere Kinder mit der Peitsche züchtigte. Wieder diese Zuchtgeschichte der Menschheit, die stammesgeschichtliche Autodomestikation, Vorgänger der individuellen Selbstoptimierung.

Als Textilkaufmannslehrling fühlt Max sich ausgebeutet und lehnt eine Weiterbeschäftigung nach erfolgtem Abschluss ab. Gegen den Willen seiner Eltern zieht er los und kellnert in Schweizer Hotels und in halb Europa, lernt spielend Fremsprachen. Dazwischen absolviert er die Rekrutenschule und die ersten Wiederholungskurse. Für ihn gehört das Militär zur patriotischen Pflicht der Friedenssicherung. Noch keine dreissig übernimmt er die Geschäftsführung des Gasthauses Ratskeller in der eidgenössische Hauptstadt. Seine drei besten Jahre, vor Kriegsbeginn und der Mobilmachung. Sein Vorbild ist der self-made man und die Personifizierung des amerikanischen Traumes Benjamin Franklin. Dieser ist für ihn der Erfinder eines genialen Systems der Selbstbeobachtung und moralischen Selbstverbesserung, nicht der Geist des Kapitalismus, den Max Weber in ihm sieht. Max kennt diesen Weber nicht.

Er geht das Gastgewerbe sozial und nachhaltig an; alle Lohnangestellten bekommen vollen Einblick in den jeweiligen Monatsabschluss und ihren derweiligen Anteil am Betriebsgewinn. Er empfiehlt seinen Gästen gerne vegetarische Gerichte und zur Begleitung alkoholfreie Getränke. Max spürt, dass er jetzt in den Vollbesitz seiner Kräfte gelangt ist. Er hat neben der Mentalarbeit und moralischen Veredelung nun auch seinen Körper zu einer kräftigen Naturschönheit gebracht, so dass er, ohne an Eitelkeit zu denken, sich in Posen fotografieren lässt, mit Lendentuch und Socken. Später sollte er diese Bilder zur Illustration eines Gesundheitsratgebers und Körperpflegeanleitung verwenden. Bis hierher ist er das Zentrum seiner selbst errichteten Welt: “Krieg?! Ich lachte den uniformierten Deutschen aus. Krieg gibt es nicht mehr. Ich kenne die Welt. Überall friedliche Völker, friedliebende Menschen überall. Nur die Herren Offiziere reden von Krieg, weil das zum Militär gehört.”

Erst als er den Marschbefehl nach Frauenfeld in Händen hält, wird ihm klar, dass hier etwas schiefgeht, dem er ausgeliefert ist. Man kann doch als neutraler Schweizer nicht in diese irre Kriegsfreude einstimmen, ich will meinen Frieden. Der Bundesrat soll zwischen den Streithähnen vermitteln, statt die Soldaten mit geladener Waffe an die Grenzen zu stellen. Trotzdem, auch entgegen der eigenen Gefühle der Feigherzigkeit, stellt er sich pünktlich und ordentlich in Frauenfeld seinem Schicksal. Er meidet seine früheren Schulkollegen, ihre Kriegsbegeisterung widerstrebt ihm. Dann passiert es. Wenn es schon um Leben und Tod geht, so will ich mein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Kurz vor der Zeremonie des Fahneneides drückt er seinem Nachbar das Gewehr in die Hand und rennt auf die Stufen der Freitreppe, richtet sich an die Soldaten, nennt seinen Namen und ruft: «Ich protestiere gegen den Krieg und schwöre nicht!» Das war die Verkündung seines Daseins als Friedensapostel. In der Literaturgeschichte führt der Schwur dramatisch in die Irre.

Ich kann doch nichts dafür, wenn mir unbekannte Regierungen einen Streit anfangen. Als Soldat bin ich Teil des Krieges. Keine Soldaten, kein Krieg. Jetzt gibt es Krieg, keiner sollte da hingehen. Das Grosse ist immer einfach, weil es einfach ist, und darum ist es eben gross. Nomologischer Nominalzirkelschluss, so wird er künftig reden und predigen. 

Max rechnet damit, für seine märtyrerhafte Tat vor das Militärgericht gestellt zu werden und mindestens die Dauer des angebrochenen Krieges im Gefängnis zu sitzen. Doch nach zwei Wochen holt man ihn aus der Zelle und verbringt ihn nach Münsterlingen, in das Irrenhaus. Dort gibt er dem leitenden Arzt das jesuanische Schwurverbot in der Bergpredigt als Grund für seine Dienstverweigerung aus. Er zeigt im Gespräch eine Naivität seinesgleichen, er ist auch lediglich anekdotisch gebildet, weiss kaum etwas über pazifistische Politik und die organisierte Friedensbewegung. Von Leonhard Ragaz hat er noch nie etwas gehört, dem pazifistischen Theologie-Professor. Viele seiner Gedanken haben grössenwahnsinnige und narzisstische Tendenzen. Nach vier Monaten entlässt ihn der Psychiater eher mitleidig, als Psychopathen erheblicher Ausmasse und damit nicht zurechnungs- und schuldfähig, so dass er vom Militärarzt für untauglich erklärt und ausgemustert wird, raus aus dieser ordentlichen Realität, die auch zu Kriegszeiten ihren Platz behauptet. 

Max wird zum Geächteten, die Thurgauer Nationalräte besuchen den Ratskeller, in dem er nun als Küchengehülfe arbeitet, aus Protest nicht mehr. Er liest Erweckungsbücher, bis er sich als auserwählten Friedensstifter fühlt, der es alleine zu richten versuchen muss. Er wird Aktivist, nachdem ihn der Bruder vor die Tür gewiesen hat, sammelt Unterschriften und Geld, verteilt Pamphlete, macht Eingaben und Inserate und bettelt bei der Prominenz. Er unterbricht im Nationalrat die Debatte über das Tierseuchengesetz und spricht im Namen der Friedensarmee von der Zuschauertribühne. Wird vor die Türe begleitet. Clara hatte ihn davor gewarnt.

Um der drohenden Entmündigung zu entgegen, reist er nach Zürich, wo er auf der Strasse junge Arbeiter und Kriegsgegner trifft, welche seinen öffentlichen Reden und Friedenspredigten zuhören. Im Sog der radikalen Sozialisten, die durch die Oktoberrevolution und Lenins Friedensdekret angefeuert werden, gelingt es Max nach einer Brandrede auf dem Helvetiaplatz, zusammen mit einigen Dutzend Revolutionären die Munitionsfabriken Bamberger und Scholer still zu legen, gewaltlos. Die NZZ fordert am Folgetag, “diesen Burschen unschädlich zu machen”. Am Abend zerrt ihn die Polizei vom Brunnen auf dem Helvetiaplatz. Um dem Tumult Herr zu werden schlugen die Polizisten mit blanken Säbeln um sich. Am Abend danach fordern Tausende vor dem Bezirksgebäude die Freilassung der politischen Gefangenen. Polizisten, Landsturm und Revolutionäre beschiessen sich; Novemberkrawall mit einigen Toten.

Wiederum vier Monate Untersuchungshaft und Psychiatrie. “Das Gutachten der Heilanstalt ,Burghölzli‘ vom heutigen Datum ist mir vollinhaltlich verlesen worden. Dies ist Makulatur, Schwindel und Betrug. Meine Wahnideen decken sich vollständig mit den Ideen von Jesus, Tolstoi und Gandhi. Die Psychiatrie ist dazu da, unbequeme Leute zu entfernen. Jesus ist damals gekreuzigt worden, heute würde er durch den Psychiater beseitigt. – Einen Vormund anerkenne ich nicht. Ich habe schon einen Vormund. Mein Vormund ist Gott, die Wahrheit. Vorgelesen und bestätigt: Max Daetwyler”. 

Die kaum zwanzigjährige Klara hört, was ihrem schönen Kriegsgegner widerfährt und sucht ihn auf, bald heiraten sie und beziehen ein kleines Häuschen am Rande von Zumikon. Errichtung einer Geflügelfarm. Als Vegetarier vermag er sein Federvieh aber nicht zu töten. Darum Umstieg auf Bio-Gemüsebau und Bienenzucht. Zwei Kinder, einmal Max, einmal Klara. Er schreibt Broschüren über seine Erlebnisse und Ansichten, versucht diese zu verkaufen. 1931 schickt er sein Dienstbüchlein an das Kreiskommando mit dem Vermerk “gegenstandslos”. Ihm ist das armselige Familienleben zu eng geworden, er muss raus, marschiert mit einigen Gleichgesinnten nach Genf, um gegen die verlogene Politik des Völkerbundes zu protestieren. Am Genfersee trifft er Gandhi. Dann spricht er vom kantonalen See aus, auf einem Boot vor der Quaibrücke, um das städtische Redeverbot zu umgehen. Die Wirtschaft gerät immer mehr in die Krise und in der Politik wird über Arbeitsbeschaffung, Schulden- und Geldpolitik gestritten. Max beteuert, er verstehe nichts von Politik und geht auf den Helvetiaplatz, verteilt sein Bares, um den Geldumlauf zu erhöhen. Die Polizei verbietet ihm das. Das geht nicht, genau wie betteln. Klara appelliert an seine Verantwortung für die Familie, aber Max entgegnet stur, dass er zuerst Gott gehöre, dann der Menschheit, dann dem Volk, und erst dann der Familie. Er spricht von sich immer öfter in der dritten Person, als wäre er sein eigenes Haustier.

Die Seitenaltäre der Hottinger St. Antonius-Kirche, zu der die katholische Kirchgemeinde Zumikon gehörte, wurden zu Ende des ersten Weltkrieges gemalt und nehmen mit einem Fresko darauf Bezug. Ein uniformierter Soldat kniet mitsamt Gewehr vor dem Kirchenpatron und empfängt Almosenbrot. Der reformiert getaufte Max ereifert sich nicht nur. Als Aktivist kauft er Farbe und Pinsel in einer nahen Drogerie und übermalt das Fresko mit weiss, seiner Liebes- und Lieblingsfarbe. Diese Malaktion ist tiefschwarz in den kirchlichen Annalen. Er wird nicht nur wegen Eigentumsschädigung, sondern auch wegen Störung des Religionsfriedens angeklagt. Nun diagnostiziert man ihm im Burghözli Paranoia auf schizophrener Basis.

Die Justizdirektion lässt ihn laufen, aber der Regierungsrat fordert die Gemeinde Zumikon auf, den Störefried unter Vormundschaft zu stellen. Über Max Daetwyler kann unsererseits in keiner Weise etwas Nachteiliges ausgesagt werden. Wir sind der Ansicht, dass Max Daetwyler weder geistesschwach noch geistesgestört ist. Im freisinnigen Zumikon galt er als etwas kauzig, aber als freundlicher und friedliebender Familienvater. Einige Jahrzehnte später wird die Ortsvorsteherin Kopp die Haltung der Behörden bestätigen. 

Max erhält einen Termin beim christlich-konservativen Bundesrat Giuseppe Motta, der in allen damaligen politischen Modefarben schillerte und fünfmal zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Max marschiert nach Genf, Lyon und Paris. Überall wird ihm zugehört, überall taucht die Polizei auf. Dann erreicht ihn ein Brief seiner Frau, die ihn zum letzten Mal auffordert, seinen familiären Pflichten nachzukommen. Er reist sofort zurück nach Zumikon und lebt wieder mehr nach innen. Als der Krieg ausbricht, macht er ein privates Protestfasten von drei Wochen. Nun ist er abgemagert. Er marschiert wieder an Friedenskundgebungen mit, ab jetzt immer mit der weissen Fahne. Im letzten Kriegsjahr verhaftet ihn ein Grenzwächter beim illegalen Grenzübertritt in Basel. Er wollte den Deutschen dringend raten, Friedensverhandlungen aufzunehmen, Hitler habe ihm nie geantwortet. Max hat seine gesamte Barschaft seinem Begleiter geschenkt und hat nur noch religiöse Karten und eine weisse Fahne auf sich. Er hielt den Schweizer Grenzwächter für einen Deutschen. Der Grenzbeamte vermutet religiösen Wahn. Vier Monate Gefängnis, bedingt.

Ein «prächtiges Saurer Automobil» bringt den gebürtigen Arboner wieder nach Münsterlingen. Es ist eine etwas weltanschauliche Geschmackssache, ob man solche Leute wie Daetwyler hier frei herumlaufen lassen soll. Ich für mich halte sie in einem gewissen Sinne doch für gemeingefährlich, da sie mit ihren Gedankengängen unklare Geister doch eventuell zu verwirren vermögen. Mit vorzüglicher Hochachtung.

In den Nachriegsjahren wird er wieder ruhiger. Mitte der fünfziger Jahre verewigt Varlin den Friedensapostel mit seiner weissen Fahne in Öl, den Anführer einer vormaligen Friedensarmee und ikonisches Motiv, einige Jahre bevor er für Dürrenmatt das Grossbild Heilsarmee anfertigt. Dann erkrankt Klara an Krebs – und stirbt. Max ist verzweifelt und macht sich Vorwürfe. Wie hatte er nur diesen grossen Fehler machen können, der Welt den Frieden zu bringen, statt zu Hause mit dem Frieden zu beginnen.

Dann passiert es wieder, er muss raus. Er treibt Geld auf, bei seinem Sohn, bei Duttweiler, dem Beobachter und beim Blick. Mitte siebzig zieht er los: Marsch durch Deutschland, Ausweisung aus Ostberlin, mit der weissen Fahne auf dem roten Platz, Marsch von New York auf Washington, Dauerpredigt in Kuba. Er schlägt sich selbst für den Nobelpreis vor. Mit den neuen Friedensbewegungen und den Atomwaffengegnern hat er wenig gemein. Lieber nimmt er als Unterentfelder-Bürger an der Tausendjahrfeier teil und marschiert mit seiner Fahne hinter den Ortsvereinen und Gästen. An den Solothurner Filmtagen wird Feusis Film über ihn gezeigt.

“Nach dem langen Leben mit dem Einsatz für den Weltfrieden ist es eine gegebene Sache, dass ich nicht mehr an einen Erfolg bei den Menschen glaube & nicht mehr auf diese Karte setze, wie früher. Es ist mein Schicksal, einsam durch die Welt weiter zu wandern. Wichtig ist in dieser Fase nur das eine, dass ich das Vertrauen im inneren Gott, & zu mir selbst nicht verliere.» Im Beisein seiner beiden Kinder stirbt er am 26. Januar 1976 im Haus der Tochter.

In seinen letzten Jahren war er etwas weniger missionarisch geworden, seinem Friedens- und Liebesgeleier hörte schon einige Zeit kaum mehr jemand zu. Meistens marschierte er, seine weisse Fahne geschultert, in der anderen Hand eine verbeulte Aktentasche, direkt hinter dem offiziellen Kundgebungsumzug, danach stand er alleine am Rand und wartete, dass er angesprochen würde. Sein langer weisser Bart strömte Gesundheit und Weisheit aus, doch sein nervöser Blick zeugte von gedanklicher Wirrniss und psychischer Instabilität. Wir liefen am Tag der Arbeit ebenfalls hinter den ordentlichen Formationen des Gewerkschaftskartells, unter den roten Fahnen unserer lebenslustigen Parteifreunde aus dem bel paese. Die weisse Fahne mit dem knorrigen Männchen seitlich vor uns. Jetzt steht er in Bronze, die Füsse im Dreck, auf dem Zumiker Dorfplatz vor dem Aldi. Niemand kann verlangen, Zusammenhänge herzustellen, solange sie vermeidbar sind.