Wir Kuponschneider

Die Menschheit ist dem Kindesalter entwachsen, sie braucht keine Geschichten mehr. Hier wird nicht erzählt, sondern gehandelt. Keine Endzeitgeschichte, ein Neuanfang.

Mal regieren die einen, mal die anderen. Demokratische Spielregeln zur Entscheidfindung sind unabdingbarer Ausgleichsmechanismus für die Entwicklung menschlicher Gesellschaft. Natürlich kann man die Mitwirkungsrechte noch etwas ausbauen und dezentralisieren, aber daran liegt es nicht. Wir haben das mit unserer Bundesregierung perfektioniert. Das Rotationsprinzip macht das Präsidialamt zum Moderationsjob, kein suspekter Herrschaftsanspruch möglich. Ein Stabilitätspakt gegen Willkürherrschaft. 

Hab mir einen Feierabend-Drink gemixt: Limettensaft, ein paar Tropfen Passionsfruchtsirup aus der Teisseire-Metallflasche, junger Havanna-Rhum, 1 Eiswürfel aus Fever-Tree Indian Tonic Water (incl. natural quinne). Der Text Café de l’heure bleue muss warten, das wird dann die Stunde von Chartreuse verte. 

Natürlich leben wir in der besten aller möglichen Welten, im Grundsatz hat Leibniz recht. Aber die seither anhaltende Aufklärung hat ebenso recht, wenn da reale weltliche Mängel benannt werden. Die Geschichte unseres geliebten Abendlandes hat Schönheitsfehler. Wir brauchen kein neues Betriebssystem; wir brauchen nur die angealterten bugs fixen.

Bin gestern einer Lesegruppe dialektische Philosophie, Epizentrum Wien, beighetreten. Doch doch, dieses gehauchte ‘h’ ist besonders gefährlich. Nägelis Vater äusserte diesen letzten Laut, bevor er verschied. Ja, ich rede von Christian Krachts Buch ‘Die Toten’, mit Schweizer Buchpreis. Lustig verwirrte Trailer-Literatur. Lese weiter, hab auch den ganzen Heimkehr von Hürlimann durch. Etwas langfädig mit vielen Wiederholungen, aber toll, wie sich die Identität selbst regeneriert. Der vormalige Guru der marxistischen Zürcher Schule Literaturtheorie entlarvt ihn: Vokabular der neuen Rechten, Paushalisierungen (sollen wir das c nachliefern, oder ist das opportunistisch?): mafiöse Italo-Machos, serbischfiese Yugos, schwarze Lümmler. Bin aus der Lesetruppe desertiert, den Marxisten entfolgt. Kwatsch aus der Kwarantäne.

Da gibt es eine Art Virus im Betriebssystem, ein Logarithmus statt einer an das Fundament gebundenen Wachstumslinie, das eisige Schneesturmsystem des Zinseszinses, der teuflischen Ausgeburt der heuchlerischen Ökonomen-Orthodoxie. Kein Kirchenvater hat sich bisher für die kleinlaute Aufhebung des jüdisch-christlichen Zinsverbotes entschuldigt, aber wenn wieder ein europäischer Papst den Petrus macht wird es ihm bestimmt einfallen. 

Es ist nicht das Privateigentum an den Produktionsmitteln oder der freie Markt als Regulator, sondern der Zins ist der kapitale Käfer im System. Den Zins kann man per Gesetz verbieten, aber schöner wäre natürlich die Zinsfreiheit neben den anderen Freiheitsrechten in unserer Verfassung festzuschreiben. Mit der Abschaffung des Zinsdienstes auf Finanzwerten würden die Wert- und Marktkurven flacher, wieder näher an der Bevölkerungsentwicklung und der Wirtschaftskraft. Alle zahlen langsam ihre Schulden zurück, ohne Zinsen, und dann sind wir alle zins- und schuldenfrei. Eine Verlangsamung des Wachstums tritt ein, was ja eigentlich alle wollen. 

Eine politische Idee kommt aus dem Lebensstil von Menschen. Wer zins- und schuldenfrei lebt, wird entschleunigt und erlebt eine organische Erweckung. Er hat immer genügend Geld dabei, um keines borgen zu müssen, sondern andere einladen kann. Vielleicht nutzt er gelegentlich eine Gratis-Kreditkarte, aber nutzt sie dank Vorausdepot als Debit-Karte. Eine Zinszahlung an diese kleingeistige Geldgier wäre peinlich und unehrenhaft. Er will kein Wohneigentum, solange er es nicht selbst bezahlen kann. Doch über Mietwohnung und Altersvorsorge stehen wir alle unter dem Zinsregime, infiziert vom moral hazard. Wird dauern, bis alles sauber ist. Da braucht es bestimmt Übergangsbestimmungen.

Geldgier und das Zinsdenken fussen tiefer. Wir müssen den Boden vergesellschaften, um den Zins als Nachfolger des Zehnten zu verbannen. Der Boden muss durch den Staat verwaltet werden, Nutzungsrechte und Abgeltungen politisch ausgehandelt werden. Möglichst dezentral. Unser Staat soll nicht nur auf saubere Luft und sauberes Wasser achten, sondern auch auf eine saubere Bodenpolitik. Mit diesen beiden updates im Betriebssystem sollte der Klimawandel eigentlich gestoppt sein. 

Wenn der Staat in Zukunft unseren Boden zum Gemeinwohl bewirtschaftet und ein neues Standbein für seine Finanzierung erhalten hat, kann das politische Wirken auf weitere System-Bereiche verstärkt werden. Vorab hat sich der Staat um die medizinische Versorgung der Bevölkerung in eigener Regie zu kümmern. Betriebswirtschaftliche Renditerechnungen haben in privatwirtschaftlichen Gesundheitsbetrieben oberste Priorität; das ist falsch, auch lächerlich und peinlich. Der Markt ist da, das staatliche Angebot auf Effizienz-Kurs zu halten und zu ergänzen, das ist alles. 

Adidas hat seine keuschen Töchter und strammen Söhne angewiesen, keine Miete mehr zu bezahlen. Diese Fremdkosten bedrohen die Dividendenausschüttung an die Eigentümer, das wird bald im Blick stehen. Das Volk findet das Scheisse (so sagen die auf Twitter). Die UBS plant trotz Mahnungen des Bundesrates Dividendenausschüttungen. Moral hazard? Die Dividendenjäger haben Jagdverbot. Jawohl, dieses Geld, eine Art Zins auf Anteilsscheinen, gehört eingezogen. Wir haben ja gerade ausserordentliche Ausgaben in dieser Höhe. Es macht Sinn, von allen Anteilsgesellschaften eine Sondersteuer in der Höhe der letztjährigen Dividendenausschüttung zu verlangen, statt die Sondermassnahmen durch weitere Staatsverschuldung zu finanzieren. Der Bundesrat muss das Notrecht in einer langfristigen Perspektive nutzen. Und wenn das Parlament wieder mal Zusammentritt, soll die Kostenmiete für alle geltend gemacht werden.

Da hatten wir diese christliche Revolution, neue Gott-Mensch-Relation, Subjektivität, Kollektivität, eine neue humane Identität für unser abendländisches Rundumsmeer. Dann die vollmundige französische Revolution mit der individuellen Freiheit, der Gleichheit und der heute einvernehmlichen *Geschwisterlichkeit (Wo gehört der Stern hin, an den Himmel!). Dann die sozialdemokratischen Werte Demokratie, sozialer Ausgleich und Regelung der Marktwirtschaft. Und da haben wir uns dann nach den Kriegen eingerichtet und niedergelassen. Und darüber ist der zinsbasierte Globalkapitalismus gewuchert. Vorsicht, der Begriff ist politisch neurechts.

Wir sind gerade daran, den Staat als gemeinschaftliche Wirtschaft und territoriales Ordnungsprinzip neu zu erfinden, den Föderalismus dezentraler neu zu beleben, das Fundament unseres Wirtschaftens zu verstärken, einigen ökonomischen Unsinn wegzulassen. Lassen wir die Flugzeuge in den musealen Flughäfen, die Jungen können mit dem Fahrrad um die runde Erde und sich in den Hangars treffen. Man muss erleben, was man sagt. Beim Schreiben reicht die Vorstellung.

Der Richter darf nicht einfach dem Experten folgen, sondern muss diesen so lange befragen, bis er das Problem selbst geistig durchdrungen hat. Die Politik darf nicht einfach den Richtern vertrauen, auch nicht der Staatsanwaltschaft. Die direkte Demokratie darf das Notrecht nicht einfach dem Bundesrat überlassen. Jetzt machen wir eine Notinitiative: Zinsfreiheit. Gemeineigener Boden. Wer macht das schönste Plakat für zweimal Ja? Wenn wir das System hochfahren, laufen die Programme wieder richtig. Hissen wir die weisse Flagge, wir sind schwanger, aber unbefleckt.