Der Stiefograf

Sie gurrt, sie tänzelt und scharwenzelt, dann erliegt sie Wenzels Unverstelltheit. Der Erzähler lauert dort, wo der Text hinweht. Ich kann schneller sprechen als hören. Ich kann schneller schreiben als Lesen. 

Es war schon eigenartig unter sowjetischer Militärherrschaft in Erfurt zu leben. Die zwei Jahre Dienst in der Wehrmacht boten ihm privilegierten Zugang zu hochgestellten Personen und wichtigen Sitzungen oder Verhandlungen. Als gestandener Journalist und Kurzschriftweltmeister weckte er Neugier und der eine und andere Offizier wollte sich im Schnellreden üben. Die Militärs waren besser als die Parteisoldaten, Befehlsalven. Selbst wenn der Ley noch so besoffen war oder der Bormann noch so einen Mist zusammen stammelte; ich schrieb mit und bearbeitete hinterher die Texte so, dass das Ganze einen Sinn ergab. Die Bonzen haben dann selbst gestaunt, was sie für eine ordentliche Rede gehalten hätten. (sic) Zuerst liessen die Russen die Thüringer in Ruhe, es fanden Landtagswahlen statt und eine Koalitionsregierung führte die Geschäfte. Helmut Stief fand die zu ihm passende Stellung als Protokollführer des Parlamentes, bald dazu einen Direktorentitel. Die Alterspräsidentin Ricarda Huch liess über dem Eingang an der Arnstädter Strasse „Es sei dem Lande Thüringen beschieden, dass niemals mehr im wechselnden Geschehen ihm diese Sterne untergehen: Das Recht, die Freiheit und der Frieden.“ anbringen. Ausgerechnet dort, wo heute Streit und Unregierbarkeit ganz Deutschland zu Lippenbekenntnissen verführt. Mehr Wunsch denn Prophezeiung, ohne persönliche Gewähr. 

Der Stammvater der rationellen Stenographie wurde vom sowjetischen Militär am frühen Morgen zu Hause abgeholt und gefangen gesetzt. Nachdem die Russen mit der sozialistischen Einheitspartei auch politisch Fuss fassten, konnten die deutschen Genossen aus dem ehemaligen Widerstand Listen mit missliebigen Landsleuten anfertigen, die dann plötzlich nach Bautzen verschwanden. Als unangetasteter und gesamtdeutscher Steno-Meister hielt er sich nicht an die neuen Anstandsregeln und wirkte arrogant. Ein Opportunist, vielleicht Reichssozialist. Eine zwielichtige Gestalt halt. Eine geborene Agentenfigur. Das Militärtribunal verurteilte ihn zu 135 Jahren Gefängnis. 

In Erfurt regieren nun die, welche von den Sowjets aus Bautzen befreit wurden. Und Bautzen füllt sich mit ehemaligen Gegnern und internen Querulanten. Der neoklassizistische Bau wird siebenfach überbelegt. Die Kriegsgefangenen in den Barackenlagern werden für entnazifiziert erklärt und dürfen zurück, in untergeordnete oder subordinierte Berufsstellungen. Stief blieb. Nun war er wieder der, auf den alle herunterschauen, mit seinen knapp ein Meter fünfzig. Seine Zellengenossen zeigten nur Mitleid gegenüber seinem pedantischen Gekritzel. Viel zu kompliziert, nichts für unsereins Komplizen. Nach der Wende wurden hundert und achtzig deutsche Skelette aus den zugeschütteten Schützengräben rund ums Gefängnis geräumt. Nach einer Gefangenenrevolte wurden Stahlbleche vor die Fenster gehängt. Stief blieb. Das Licht war jetzt deutlich schlechter, aber seine Arbeiten kamen voran.  

Die deutschen Kurzschriftsysteme würden in einem neuen, stark vereinfachten System aufgehen, die nach rationellen Kriterien und Regeln funktioniert. Stief hatte im Gefängnis genug Zeit, die Häufigkeit von Silben und deren Stellung im Wort auszuzählen, um die einfachsten und am schnellsten geschriebenen Zeichen den meistverwendeten Laut-Mitlaut-Kombinationen zuzuordnen. Spätere maschinelle Untersuchungen geben ihm recht. Die Grundschrift kann in vier Stunden gelernt werden: Fünfundzwanzig Zeichen, zwölf Regeln. Die erste heisst: Schreib deutlich. Die Sache mit dem unterschiedlichen Druck der Feder fällt weg. Trotzdem liess sich kein Mitgefangener herab, sowas zu lernen. Regelmässiges üben bringt Erfolg. Die Aufbauschrift erlaubt höhere Schreibtempi durch Bedeutungszuweisung an Tief- und Hochstellung sowie Kürzel für die häufigsten Wörter. In der high-end-Version werden Vorschlagkonsonanten weggelassen und ein Thesaurus privater Kurzzeichen aufgebaut. Die kryptologische Meisterschrift ist also prinzipiell unlesbar. Man muss die uneingeschränkte Draufsicht bewahren.

Als Stief das perfektionierte Schnellschreibsystem seinen Justizvollziehern aufschwatzen wollte, entliess man den Spinner und schob ihn in den Westen ab. Den Rest des Lebens konzentrierte sich Herr Stief darauf, seine Lehre weiterzuverbreiten, bis ihm Parkinson den Stift zum Krakeltanz verführte. An den Volkshochschulen wurden seine ausgewählten Meisterschüler zu Lehrern der neuen Jünger. Seine Gefolgschaft erreichte über vierzigtausend. In den siebziger Jahren waren die meisten unerlaubten Hilfsmittel an schriftlichen Prüfungen an Gymnasien und Hochschulen in Stiefo verschlüsselt. Heute wird die schnelle Kurzschrift im Fernstudium angeboten. Die Stiefo-Szene hat sich verkleinert und ist mehr in Intellektualitäten verwickelt als in kaufmännische Geschäfte. Die meisten sind Linkshänder. Helmut Stief lehrte sein System auch für diese einst geschmähten Falschschreiber und liess sie von rechts nach links schreiben, die Zeichen seitenverkehrt. Voll Leonardo.

Von rechts nach links sollte es an diesem Tag auch in Thüringen gehen. Bei den Landtagswahlen hatten SPD, Grüne und die Linke mit einer Stimme Mehrheit den Rat erobert. Ramelow tritt unter Ricarda Huchs Worten durch in den Plenarsaal und nimmt als Abgeordneter seinen Sitz weit links ein, ein evangelischer Sozialist. Wenn das klappen sollte mit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, müsste er einen Personenschützer an seiner Seite aushalten. Aber er hatte ja jahrzehntelang Verfassungsschützer neben sich, vielleicht kommt ja 1 Netter. Im ersten Wahlgang fehlt die eine Stimme. Also müssen nochmals alle an seinem Linksaussen-Posten vorbei zur Wahlkabine, im zweiten Anlauf ist die absolute Mehrheit Tatsache. Jubel links, feindhöfliches Gratulieren dort, Höcke und seine Fraktion bleiben hocken. Der christliche Staatsmann wird zum landesweit beliebtesten Politiker. Ein gnadenloser Pragmatiker. Er, der Rechtschreibschwäche hat. Die Vereidigung. Ramelow spricht den Eid. Die Gottesformel lässt er weg. Aus der CDU brüllt einer: So wahr mir Gott helfe!

Er entschuldigt sich in seiner ersten Präsidialansprache bei einem auf der Tribüne sitzenden Freund und allen anderen Stasi-Opfern, so hatte das Amt noch nie jemand interpretiert. Sein Gegenspieler Höcke gewinnt in den folgenden Wahlen auch einen Sitz im Landkreis, wo er mit seinen beiden LKA-Personenschützern Platz nimmt. Als der Sitzungsleiter die beiden Beamten vor den nicht-öffentlichen Ratsgeschäften aus dem Saal weist, kommandiert er die ganze Fraktion zum Protest mit dem Rücken ab. Ein ostpreussischer Sprössling, herrisch. Im Kampf um den Landtag verlautbart Höcke, der nachweislich den AfD-Vorstand angelogen hat, dass der Gegner Wahlfälschungen beabsichtige. Es gibt Indizien, dass wir bei den Briefwahlen signifikant schlechter abschneiden als bei Abstimmungen im Wahlbüro. (sic) Daher solle man besser im Wahllokal wählen. Selbsterfüllende Prophezeiung. Faktenmächtig. Dann hat die Rechte unter Führung von Höcke Kemmerich gewählt. Und nun ist Ramelow wieder gewählt und hat dem Höcke die Hand verwehrt. Diese stahlblauen Augen überall, Hitler, Höcke und seine junge Blondine Muhsal, Stief, Ramelow. Schizogrosk.

Transwortation. Teleport. Digitan. Transmental. Protokollwahn. Redefreiheitskontrollzwangsvollzug. Effizientstechnologietreiber. Alles spricht dafür, dass schreiben überflüssig ist. Dieser Text wird nicht geschrieben, sondern gesprochen, Wort für Wort, das sich am Bildschirm visualisiert und mit Gesten abgesegnet wird. Standardisierte Prozesse, Standardsprache, Protokolle der Verzweiflung. Das ist ein armseliger Schüler, der seinen Lehrer nicht übertrifft. Die Probleme in den Parlamentsdiensten sind geblieben. Dort sprechen sie in maschinenfernen Dialekten politische Prophezeiungen und Fachchinesich. In der Ostschweiz, wo sich die Dialektfärbungen kaum in das mehrere hundert Zeichen umfassende internationale phonetische Alphabet zwängen lassen, herrschen nun die Staatsschreiber über eine Walliser Technologie – die sprechen dort ja wirklich unverständlich -, die in vierzig Minuten das Protokoll einer vierstündigen Sitzung druckreif ausfertigt, mit Satzzeichen und allem drum herum. Natürlich, mit Stiefo wäre das Protokoll mit dem Ende der Sitzung fertig. Die Protokollführer heissen nun recapp-Anwender. Besuch aus Thüringen steht an.