Tourette à Tourtour

Jetzt sitze ich im klimatisierten TGV von Aix nach Norden, zurück in die Hamburger Redaktion am Speersort. Dank dem klimapolitischen Rating auch unserer digitalen Medien war die Eisenbahn die naheliegende Option und ich komme so zu einer entschleunigten Reportage, für welche die Zeit trotzdem zu knapp wurde. Die Sonnenbrille noch im Haar überlege ich mir, warum ich nichts über ihre Musik erfahren habe? Ich konnte keine autorisierte Ton- oder Bildaufnahme finden, selbst habe ich noch keinen Auftritt miterlebt. Ich hoffte natürlich auf den Abend. Soll ich den vorausgefertigten Entwurf einfach durch die persönliche Begegnung anreichern? Warum hat sie mir alles andere erzählt?

Begegnet bin ich Tourette auf dem Dorfplatz von Tourtour. Das Bergdörfchen nennt sich le village dans le ciel, im Wappen zwei Rundtürme aus Steinquadern. Das ganze Dorf ein Meisterwerk friedlichen, einfachen Lebens. Mit grossartigem Rundblick. Im einen der Brunnentürmchen finden sich Steine aus Madagaskar, Brasilien, Peru, Australien und Südafrika. Fünf Zacken die Sterne über den Turmzinnen. Als ich auf dem E-Roller den Berg hochfahre und zum Dorfplatz gleite, packt mich für die Zeit zwischen einem Augenblick und dem nächsten das kühle Grauen der Gewöhnlichkeit, bevor ein warmes Glücksgefühl aus mir strömt und sich in die Umgebung einfügt. Tourette wartet wie vereinbart auf der Parkband vor der eisernen Butterfly-Skulptur. Ein seltsam widersprüchliches Bild, im Hintergrund die funktionale Schwere der modernen Plastik, vorne die lachend winkende Musikerin, welche die ganze Intimität der Schönheit verkörpert wie darstellt, mit einer Selbstverständlichkeit der Formen und feiner Bestimmtheit ihrer Kunst. Sie ergriff meine Hände, sprach freundliche Begrüssungsworte, bot mir die Wangen zu einem Rechts-links-Küsschen und fragte nach meiner Reise. Als mir eine klimapolitische Bemerkung rausflapste, winkte sie zum gegenüberliegenden Farigoulette und rief laut und bestimmt nach Kaffee. 

Dann forderte sie mich auf, zu ihrer Rechten Platz zu nehmen, legte den Arm um meine Schultern und legte los. Auf meinen Wunsch sprachen wir Englisch miteinander, sie ist ja in Algier und Marseilles aufgewachsen, ihre Mutter ist die jüngste Tochter von Fernand Pouillon, in Algerien geboren, wie mir bald klar wurde. 

Vielleicht schaff ich das ja hier, begann sie. Ich muss von dieser Verehrung los, die mir das Elternhaus bescherte. Steine und Töne, singender Fels, die Wildheit im Stein. Diese Anbetung geht einfach nicht mehr. Das ist zu sehr im Kopf, zu wenig zentriert. Diese Manie schafft Wunder, ist aber an widerspruchslose Unterwerfung gebunden und bleibt der Dauer verhaftet. Willst Du diesem Stein gegenüber unberührt bleiben, wo ich nur hier bin, um dieses Gestein lieben zu lernen, rief das Alter Ego meines Grossvaters auf der Baustelle. Sein Stellvertreter entgegnete: Ich werde dich immer verehren und lieben. Ich akzeptiere alles, um so zu werden wie du. War das nun Einsicht in den Grundsatz des Glaubens und der Schönheit, oder wurde er in dieser Situation an sein Versprechen des Gehorsams erinnert? Kein vollwertiger Stein? Ich werde mich schliesslich gezwungen sehen, ging es im Kopf meines Grossvaters weiter, den Willen meiner engsten Vertrauten zu brechen und mich entschieden gegen eure Skepsis zu stellen! Wenn ich einmal nicht mehr da bin, werdet ihr mich um so mehr lieben. Denn ich verteidige nicht nur das Material, ich verteidige meinen Glauben an diese Blöcke. Denn ohne Glauben gibt es keine Schönheit. Da hatte er natürlich schon recht. Man befiehlt leichter ohne Erklärung, denn die Männer befolgen Entscheidungen oft lieber, wenn sie das Ende nicht absehen. Der Gehorsam ist es, der uns antreibt, verpflichtet, zur Arbeit zwingt – aus zisterziensicher Vorgesetztenperspektive. Mein Grossvater war wie der Cellerar, Kellermeister mit Macht über alles weltliche. Nach dem Prior der Dritthöchste. Auf der Baustelle ist er alleiniger Gesamtchef, Bauherr, Architekt, Ingenieur, Planer, Bauführer, Personalchef und Alleinunternehmer. Macht kein langes Gesicht wie die falschen Bussfertigen, das innere Feuer wird uns begeistern, dass wir bis an die gefährliche Grenze kommen, die uns vom Hochmut trennt, sagte er zu seinen Brüdern. Manche werden sich eigene Gedanken gemacht haben. Der funktionale Plan ist ein klösterliches Kunstideal, aber ohne Inspiration. Die Gestalt muss in aufeinanderfolgenden Visionen in mir entstehen, die sich dann in den Tiefen meines Bewusstseins festsetzen. Keine Gebetsmühle, sondern eine funktionale Anlage wollten die Brüder bauen, wie wenn man Geist und Materie, Gebäudeform und Baumaterial trennen könnte. Eine Bernhardiner Regel verlangt ein Leben ohne überflüssige Bewegungen: Wir dürfen unsere Zeit nicht vertun, sie aber auch nicht einholen wollen. Das Studengebet gab den Takt an. So waren sie natürlich nur sehr selten auf der Höhe der Zeit. Doch einmal hatten sie eine kollektive Erleuchtung.

Bonjour Monsieur, deux Noisettes pour vous, ma chère Tourette. Mit breitem Lächeln übergab die Frau aus dem Farigoulette das Tablett der brennenden Künstlerin, Abramovic und Anderson, aber jünger, ging es mir durch den Kopf, und die Wirtin fügte hinzu, dass das Haus ihr gerne auch weitere Wünsche erfülle. Tourette streckte mir das Serviergeschirr hin und ich nahm mir das tiefbraune Tässchen, das so gut in die Szenerie passte. Ich hing noch irgendwie am Vorhergesagten und hatte meine Musikfragen vergessen. 

Die Mitarbeiterführung ist nicht einfach, da gibt es neben den Mönchen noch die Gesellen und die Laienbrüder. Für sich selbst hatte er zwei Grundsätze, welche mir meine Mutter weitergegeben hat: Deine Arbeit ist dann gut genug, wenn sie auch schön ist. Und wenn sie mehr wert ist, als sie kostet. Man muss sich an diese Regel halten, aber man kann sie nicht erklären, nur vorleben. Jedermann konnte sich auf der Baustelle zur Mitarbeit melden und kein Angebot durfte ausgeschlagen werden. Nach kurzer Zeit arbeitet ein Grüppchen besonders locker und langsam, die gute Laune geht vorm wortgewandten Gesellen aus, die sich über die Konversen stellen. Der Kellermeister holt ein Geständnis bei einem nicht beteiligten Konversen ab, inklusive Einverständnis zur Prügelstrafe, was die ganze Gemeinschaft ihm willig macht. Da ist einer und nennt Gabriel als seinen Taufnamen, schuftet wochenlang lächelnd vor sich hin, lebt enthaltsam, ganz schweigend, den Blick immer zum Himmel. Das geht einem so auf die Nerven, dass Prüfung des Gehorsams angesagt ist. Wie bei den Konversen üblich, wusste man nichts über deren Vorleben. Der Kellermeister lässt ihn die demütigsten Arbeiten machen, die mühseligsten, die anforderungsreichsten. Gebete während der Arbeitszeit ab sofort verboten! Nun ist Gabriels Glück verschwunden, er wirkt in sich gekehrt und ausgebrannt. Der Cellerar richtet sich provozierend an ihn: Ich habe den Eindruck, dass Du seit einiger Zeit nicht mehr gleich glücklich bist, dass Du den Seelenfrieden zu verlieren drohst. Und ich bin der Grund. Gabriels Augen gehen suchend nach oben. Na komm schon, ich wollte nur Deinen Gehorsam prüfen. Ich weiss jetzt, dass Du in allen Aufgaben klug und geschickt handelst, sag mir jetzt, welchem Beruf Du vorher nachgingst. Ich war Priester, Doktor der Kirchenlehre, dann Bischoff. Aber als ich spürte, dass meine Seele in Gefahr geraten war, schloss ich mich der Bruderschaft in Florielle an. Verzeih mein Bruder, wenn ich durch meine Haltung Deine Neugier erregt habe. So einer sollte allein in eine Waldklause, das ist kein Teamplayer.

Wir hatten hier unten, sie zeigt gegen Südwesten, auch muslimische Klöster. Das ging nicht lange gut. Da haben sie sich geprügelt, die Sarazenen und die Kreuzritter, sie zeigt noch etwas tiefer. Das alles brodelt noch manchmal in mir. Erst die individuelle, dann die kollektive Erleuchtung!, ruft sie nach einer Pause und fährt nach einem Schluck Milchkaffee weiter.

Der Abt befiehlt dem Baumeister, die Turmspitze kleiner und niedriger zu bauen oder überhaupt wegzulassen. Ein Glockenstuhl aus Holz genügt uns! Der Abt gibt ihm zu verstehen, dass ein Bruder auf dem Bau nichts von den religionsphilosophischen Grundlagen ihres Ordens und der Glaubensregeln verstehe und macht ihm klar, dass auch von ihm Gehorsam gefordert sei. Aber die Pyramide wird von all den monotonen und fensterlosen Mauern erzwungen! Blitzt es in seiner kunstgestalterischen Logik durch den Kopf. Gott möge mir diese Begeisterung, diese Freude verzeihen! unterwirft er sich, aber nur diesem einen Schlag. Diese Gesichter drücken die Unabwendbarkeit des Sklavenlebens aus, versprachlicht sich seine Sicht. Und dann die Vision. Unser seeliger Bruder kommt in seinem Skapulier in den Himmel und sucht seine Zisterzienserbrüder. Aber er findet sie nicht und unser Bruder steht ratlos auf der Wolke und staunt über sein Hiersein. Aber seine Seele will sich mit den Brüdern vereinen, die Gemeinschaft leben. Und als er sie auch nach weiterem suchen nicht finden kann, wendet er sich weinend an die heilige Jungfrau. Sie lüpft den Rock und siehe da, da sind alle seine Brüder versammelt wie Küken, in der Mitte Bernhard, zwischen ihren Füssen. Unsere Brüder im Himmel leben die Gückseeligkeit im Paradies und sind so nahe der heiligen Jungfrau wie niemand, direkt unter dem Mantel der Gottesmutter, und wir können ihr hier unter unserem Kirchturm so nahe sein wie nirgends sonst. Wir, die wir sie mit ganzer Seele lieben, die uns auf Erden die Frau ersetzt, auf die wir ihretwillen verzichten. Schon sahen sich die Bauarbeiter unter dem heiligen Mantel, und niemand wollte die Pyramide missen, weil sie das Röckchen schauten. Die Blicke der Brüder saugten sich am Imaginierten fest, der Abt blickte etwas überrumpelt in die Runde, senkte dann den Blick und schritt gegen den Ausgang. Er zeigte sich nie mehr persönlich, aber schickte den Prior. Nun hatten sie eine Koleitung mit Zuständigkeiten für kirchliche und weltliche Belange. Die trockengebaute Pyramide wirkt etwas statisch und konstruiert, hat etwas Kleinliches. 

Nein! Ja. Ein Bautrupp ist immer eine anarchische Gemeinschaft, wie jede Gruppe. Sie anerkennt als Führer den, der am aussergewöhnlichsten ist. Sie anerkennt als Meister den, der eine Vorstellung vom freien Menschen hat. So hat mein Grossvater das Klosterbauwerk nachgestaltet. Das, was ich baue, liebe ich am meisten. Ist es dann fertig, wende ich mich ab und will es nicht mehr sehen. In meiner Kunst geht es genauso. Wir ähneln dem Bautrupp und unsere Strukturen und Regeln sind verwandt. Sie schaut auf ihr Handy und murmelt etwas entschuldigend, dass sie bald aufbrechen werde. Wir haben heute Abend einen Auftritt am Meer unten, ich fahre zu Marcel, dann steigen wir weiter bei jedem um, bis wir mit den anderen vor Ort zusammenkommen. 

Jetzt unterbreche ich sie und frage nach der Möglichkeit, teilzunehmen an ihrem Konzert. Das ist keine Musikveranstaltung, das ist ein performatives Happening. Unsere Kunst ist keine Ware und wir vermarkten sie nicht. Keine Aufnahmen, keine Reproduktion, mehr Fluxus. Ich selbst weiss nicht genau, wo wir auftreten. Alles bleibt Abenteuer. Vielleicht ein ander mal.

Mein Grossvater war nach der Vollendung seiner Arbeit in Marseille nie mehr dort, er ging nach Paris und an die Grenzen zum Hochmut, wie ihm die dortigen Machthaber zu verstehen gaben. Ich aber musste in seinen Bau schlüpfen, wie seine Bernhardiner, bevor ich selber flügge wurde. Ich heisse nicht nur Tourette, ich wohnte auch im Tourette.

Ich kannte den Bau zufällig, ich sah Bilder von der Eröffnungsfeier nach der aufwändigen Sanierung. Die Keramik-Kacheln an den Wänden der Eingangshalle, eine Ikone der Moderne! Azurblau der Grund, Himmel wie Meer, einige Kacheln weiss und andere schwarz, dazu Tupfer in mediterranem gelb und rot. Konkrete Poesie keramischer Pixel! 

Funktionalität und billiger Kitsch, wies sie meine schwärmenden Gedanken zurecht. Nachdem mein Grossvater in den späten Kriegsjahren Mitglied der Kommunisten geworden war, bebaute er das Nordufer des vieux port mit billigen Wohnsiedlungen, die durchaus ihren magrebinischen Charme haben, aber den Turm hat er gegen seine Überzeugung als Stahlbetonskelett hochgezogen. Die Deutschen haben die Sprengung des alten Quartiers angeordnet, meinem Vater oblag die Aufgabe, den Faden der Tradition wieder aufzunehmen und die Gemeinschaft neu zu ordnen, er war dem Kollektiv verpflichtet, nicht wie Corbusier der individuellen Autonomie. In Paris bekam er Schwierigkeiten, weil er seine Funktionen als Bauherr, Architekt und Generalunternehmer nicht nach geltenden Absprachen und Gesetzen ordnete; er wurde trotz dem Protest seiner vielen Freunde inhaftiert. Nun hatte er Zeit, mit seinem Buch über den Cellerar von Thoronet zu beginnen, bevor er dank seinem Bruder flüchten konnte uns sich nach Algier absetzte. Schliesslich wollte er doch wieder in Paris weiterbauen und stellte sich der französischen Justiz, die ihn nun der alten Vorwürfe freisprach, aber seine Flucht mit erneuter Inhaftierung quittierte, welche allerdings zu kurz war, um den zweiten Teil des Buches schön werden zu lassen. Ich war noch ganz klein, als ihn Mitterand zum Offizier der Ehrenlegion ernannte, das Herz des Südens fand nun Ruhe.

Sie küsste mich zum Abschied auf die Stirn, wünschte mir eine gute Reise und drückte mir die Daunen für einen schönen Text, rief in Richtung Wirtshaus ihr Adieu und verschwand Richtung Dorfausgang.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich eine unerlaubte Tonaufnahme gemacht habe. Ich werde sie geheimhalten und auch nicht um Authorisierung nachfragen. Ich lösche das file, wir sind in Lyon. Ja, ich muss meine musikkritische Textkonserve in den Mittelpunkt stellen und mich auf die Beschreibung unserer Begegnung beschränken. 

Wer bin ich

Ich binz. 

Das bin ich, ein Es. Ich bin ein Erstes und ein Drittes. Auch ein Fünftes und ein Siebtes, dann das Elfte. Ein Zahlen-Es, ohne die Primzahl 2, eine Nichtdualität. Ein identitäres Haiku. Das einzige was mich hier hält ist, dass es keinen Ausweg gibt. 

Ich bin damit beschäftigt, zu überlegen, was in meinem Hirn vorgeht. Manchmal beschäftigt mich auch die Physis. Ich denke, was gedacht werden muss. Was der Wille als sein Ding objektiviert oder der Geist sich vorknöpft.

Prämisse ungültig. Bisher ereignete sich alles stets woanders. Unsere Ergebnisse untermauern die Annahme, dass das Ich ein reales Phänomen ist. Ich spüre die Abenteuerlichkeit, die in den geistigen Räumen herrscht. Das Ich spielt stets ein wenig Theater und konterkariert damit alle Vorstellungen einer unverrückbaren Identität. Dä Fiirabigkari und dä Schachersepp under em Himmel vo Tsüri. Wenn Wünsche wirken, dann tun sie dies, weil sie selbst als Hirnzustände realisiert sind. Alles ist gut gesichert, aber flüchtig.

Wir unscheinbaren Wesen müssen uns in einer höheren Person aus der Zeit in die Dauer retten. In Jedem ist Jeder und Jedes, in Allem ist Alles. Alles und unwiderruflich, sonst ist es sinnlos. Gesteuert durch das Belohnungszentrum droht mir eine Endlosschlaufe statt der Ewigkeit. Aber ewige Wiederkunft ist ihm zu langweilig. Einer wie Er befindet sich immer zuvorderst, ins Ungewisse gerichtet. Mentales Eigenblutdoping.

Er sagte in seinem Tractatus logico-philosophicus “Ich bin meine Welt”. Des Anderen Mantra “Ich bin nicht Stiller”. Der nachgelassene Geiger, der seinen Vater später König hiess, mit dem Zusatz “im Exil”: Der einzige verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm.” Er glaubte zwar nicht an Gott, aber er lag so da, als hadere er mit Gott. Beim Schreiben sagte er: „Ich habe mich sozusagen verloren“. Schertenleibs Er verspricht ihr, Ihr Ich zu erlösen, wenn es nicht mehr geht. 

Er lebte in natürlicher Sicherheit der Gegenwart und trieb im immersiven Erzählstrom der Ewigkeit. Der Geist ist in der Zeit und weiss, dass in der Zeit sein sich zeitlos anfühlt, blosse kognitionslogische Physiologie. Die Vergangenheit und das Frischgedächtnis beste Freunde. Schuldgefühle und Selbstreflexion nehmen im weiteren Verlauf ab. Die Instinktintelligenz nimmt zu und verfeinert sich.

Das Bettuch fühlt sich nass an, raus hier. Er geht barfuss über den Teppich, ein hässlicher Teppich, Er hat daheim auch einen Blumenteppich, aber in schön. An der Wand viele Bücher, Geschichten noch und noch, alles Mögliche eben. Verwirrendes geträumt. Ein lebendiges Durcheinander, schöpferisch und vergänglich. Heimat ist kein Ort, es ist Erinnerung, Büchertücher.

Er knöpft das Hemd zu. Was hat er da überhaupt an? Ähnelt dem Schlafanzug. Wird doch gut gehen. Er öffnet die Zimmertür. Jetzt hört er Gesang. Von hinter der dritten Türe kommt der her. Er tritt ein: Ein Wohnzimmer. Als sei er schon mal hier gewesen. Der Fernseher singt. Ein Sofa unter einen hellen Decke, als wäre ihm kalt. Leben als. Ist das meine Tracht?

Das Geheimnis der blauen Blume. Abends, wenn die Sonne bereits tief stand, war die Mosterei am schönsten. In der grellen Sonne des Vormittags war das Gebäude militärische Sperrzone, Fabrik, voller eingefangener und dann kasernierter gefleckter Äpfel in gestapelten Harassen. Zogen sich dann aber die ungeheuren Maschinen zurück, wurde der Ort zum Schloss, wo der Apfelsaft bis zum Überfliessen quöllte, randvoll gefüllte Korbflaschen von riesigen Ausmassen, unten ein dünnes und kurzes Stück roter Schlauch, mit einer Metallklammer abgeklemmt, wie man das später an Infusionsgestellen oder Urinsäcken kennen lernt.

Manche Menschen erleben das Schicksal, in der Mitte ihres Lebens gleichsam umzukehren, zurückzukehren. Denken, Fühlen, Verhalten, alles nähert sich langsam wieder dem Ursprung, dem Kind, dann dem Kleinkind, dem Säugling. Eine grossartige Symmetrie des wundersam Banalen, der basalen Biologie, der Verwicklung und Abwicklung, alle Puzzleteile einzeln und sorgfältig aus dem ehemaligen Bild lösend, zurück in die Verpackung des Uterus. Das Ich verschwimmt langsam, wie sich der Tuschetropfen in der Badewanne auflöst. Solche Menschen sterben, wie sie geboren wurden, nur umgekehrt, ein letztes Luftholen. Wird er sich am Ende selbst objektivieren?

Ist Erinnerung auch eine Frage des Willens oder des Glaubens? Wahrscheinlich schon. Aber ich bin zu faul dazu. Er jedenfalls weiss, das seine ersten Erinnerungen fremde sind. Vater, Mutter, alle haben auf ihn eingeredet, dass er sich erinnern könnte, wenn er denn wollte. Meine Erinnerungen sind Ideen, die sich irgendwie aus der Wirklichkeit gelöst haben, wie die kleinsten Partikel meiner selbst, die sich im Nichts der Umgebung verirren. Ideen, die sich wie eine Blase aus dem wirklichen Moment gelöst haben und dann in mein Hirn diffundierten. Es sind fast ausnahmslos Verzauberungen der Aussenwelt. Ich kann nur mich sein, wenn ich draussen bin, nur das gibt einen Sinn als Ganzes. Behausungen sind mir grundsätzlich zu wider, suspekt, da lauert Arbeit, Mühsal, künstliche Wiederholung. Ausser natürlich, bei Schlechtwetter, die Küche, warm, dampfend, wohlriechend, voll Müttern und Mamas. Die verzauberte Aussenwelt auf dem Feuer, verbunden und vermengt. Der Küchenstuhl im Terrassenzimmer hat den gleichen weissen Anstrich wie das kastenartige Kinderbett, in dem ich immer mit dem ersten Tageslicht erwachte und mit einer kleinen Kette, mit der man das Taschenmesser an der Hose befestigt, die Gitterstäbe ansägte, bis mich Mutter aufnahm und vor die Türe stellte. 

Da standen im Sommer, wenn die Tage lang waren und die Sonne nicht genug von uns bekommen konnte, Waschzuber bereit, gefüllt mit Wasser, das am Nachmittag so warm geworden war, dass ich mich da mit dem Nachbarmädchen vergnügen konnte. Und draussen an der Mauer, in einem bäuerlichen Bergweiler, waren die Löcher, in die man Pfosten stellen konnte, noch gefüllt mit verblitztem Gewitterwasser, so dass ich selbst kochen wollte, eine himmlische Mischung mit teuflischen Zusätzen, Blütenblätter, grünes Gras zur Sättigung, zerriebene Käferbeine, sich windende Wurmteile, zermantschte Köpfe von Gänseblümchen, auch einige Donnerkiesel und etwas Staub. Daraus stieg die Sehnsucht der Berge, das weisse Licht, die Andeutung von Gerüchen, die asketische Kahlheit der Gedanken, die erahnte Kühle des ewigen Schnees, das leise Flirren der heissen Luft, das Prickeln des Sonnenbrandes, ein Vorbote der Schneeblindheit. Athletische Klarheit.