Der Sandmann

Durch den Sandstaub in der Luft erschien der Nachthimmel gelblich fahl, der Mond gestaltlos. Jumpei starrte nach oben, doch statt Orientierung zu spenden schienen die Sterne seine Gedanken zu verklumpen. Die Dünen wurden zum sandigen Ozean, er konnte den Wellengang hören, einzelne Brecher. Um die Lichter des Dorfes wieder zu finden, welche den Fluchtweg weisen sollten, musste er auf die höchste Düne steigen. Das Nur-weg-hier, das ihn bisher angetrieben hatte, verengte sich zum Jetzt-hoch-hier. Er schien den Rhythmus gefunden zu haben, er stapfte mit dem linken Fuss beim Einatmen, mit dem rechten, wenn er die Luft ausstiess und dabei versuchte, die Sandkörner auf seiner Lippe wegzupusten. Das Herz unterlegte den Stepper im Achteltakt. Von oben rutschte stetig Sand nach, wie in seinem Lehrberuf schien er an Ort zu treten. Hinter der Stirn hämmerte es, als würden Sandkörner zu Staub geklopft. Ein paar Liter würden genügen, um mit einer Sanduhr ein ganzes Menschenleben zu bemessen, wenn jede Sekunde ein Sandkorn durch die Enge schlüpft. Unten ein tellergrosser Haufen, schön gekegelt, genau mit 30 Grad Schüttneigung. Hier galten keine theoretischen Bedingungen, die klebrige Feuchtigkeit schuf hier Steilwände.

Wenn seine Füsse im Sand endlich festen Stand fanden, war ihm, als berührte ihn die Frau mit ihrem Hintern. Sie kniete plötzlich vor ihm, er stand auf ihren Hüften. Für einen Moment fühlte er sich stark wie ein Wagenlenker. Vielleicht deckte sie seine Flucht bis zum Morgengrauen. Zudem war es möglich, dass sie erst am Morgen bemerkte, dass er aus dem Sandloch entwischt war. Hatte sie nicht gesagt, dass es noch keiner geschafft hätte? Hatte der Kollege nicht recht, der harte Arbeit als solche lobgepriesen, weil sie uns lehrt, über uns herauszuwachsen? War es nicht das, was er jetzt tat? 

Der Dünenkamm schien immer weiter entfernt und höher, die Neigung stetig steiler. Der misslungene Fluchtversuch rieselte in seine Gedanken, er zwang sich, den Verstand zu behalten. Er musste hinauf, wollte er die Orientierung zurückgewinnen. Beide Füsse begannen zu rutschen, er sank auf die Knie.  Er spürte Feuchtigkeit am Unterleib. Nein, der Sand flutete gegen seine Beine! Er durfte auf keine Fall nach hinten stürzen, er würde nie mehr aufkommen. Sand, Sand. Ihm war, als würde eine rostige Blechdose durch seine Knochen gezogen, sein Herz ein geplatzter Tennisball. Da war kein Sand mehr, nur noch ein schwellendes Sandkorn. Er war das Sandkorn, das durch das Universum fällt und jetzt verschluckt wird.

Sein zerfetztes Bewusstsein nahm langsam wieder Form an. Er spürte, dass ein Hund an seinem Ohr leckte. Er konnte seine Augen nicht öffnen, sie waren zugeklebt, gepflastert, die Lider zu Stein erstarrt. Sein Kopf war frei, er lebte noch. 

Immerhin.

Es geht ja um die Story in einen japanischen Roman von Kobo Abe, im existentialistischen Duktus eines unpolitischen Camus, in welcher der Protagonist immer mal wieder auf seine pure Existenz eingedampft oder eben auch mit Sand zugeschüttet wird. “Er konnte immer noch nicht begreifen, warum…” und dann folgt nach dem Blackout im Sand “…hatte jemand die Schaufeln gebracht.” Gut dreitausend Wörter fehlen, 16 Seiten. Ein ganzer Druckbogen falsch montiert, obwohl jeder einzelne nicht nur mit “Abe, Frau” gekennzeichnet ist, sondern auch säuberlich durchnummeriert. Im handlichen und stark vergilbten Oktavbändchen ist der dritte statt der fünfzehnte Druckbogen mit Faden eingebunden, ein Teil der Geschichte wiederholt sich wie Jumpeis Alltag, die Fluchtszene mit Sandeinsturz bleibt verschollen wie schlussendlich Jumpeis Person. Ich musste mir den Klassiker antiquarisch beschaffen, jetzt gibt es eine Neuauflage im Zürcher Unionsverlag.

Gesamtherstellung Offizin Andersen Nexö, Leipzig. Verlag Volk und Welt, Berlin 1978. Klappentext: “Seine Entscheidung für das Dünendorf ist zugleich eine deutliche, wiewohl aus der begrenzten individualistischen Sicht des bürgerlichen Autors formulierte Absage an die kapitalistische Gesellschaft.” Aus heutiger Sicht kann man den Roman auch als Lehrbuch für DDR-Bürger lesen: Überwindung der Sinnlosigkeit und Absurdität der eigenen Existenz durch trotziges Akzeptieren und durch Pflichterfüllung. Unpolitische Flucht ins Alltagsleben. Vielleicht war das Hauptargument des realsozialistischen Lektors auch bloss Abes Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, die er allerdings just mir der japanischen Erstveröffentlichung der Dünenparabel beendete. Oder es war der Reiz von Jumpeis schillernder Sexualität. 

Am Morgen nach der ersten Nacht im Sandloch bemerkt er, dass die Frau völlig nackt dalag, bis auf eine Tüchlein, welches ihr Gesicht bedeckte und vor Flugsand schützte. Diese Frau war wie ein Tier. Sie kannte nichts als das Heute. Jumpeis Intellekt sträubt sich dagegen, von der Romantik blanker Sexualität zu träumen, bejahte aber das Primat des allgemeinen Verlangens, bevor man zwischen Kobe-Beef und Hiroshima-Austern ratlos wurde. Bisher war für ihn geschlechtliche Liebe ein Metaakt der Selbst- und Fremd-Beobachtung, so dass man seine Sexualität wie die Arbeitskleidung jeden Tag frisch aufbügeln musste. Der Koitus war nichts anderes als gegenseitige geistige Vergewaltigung. Die Frau in den Dünen diagnostizierte bei ihm eine psychische Geschlechtskrankheit.

Die erektile Teil-Dysfunktion führte er selbst auf eine frühere, klinisch ausgeheilte Infektion mit Syphilis zurück. Aus durch Selbstuntersuchungen geschürter Angst, weiterhin Träger von Krankheitserregern zu sein, schützte er seine geistigen Vergewaltigungsopfer durch Kondomgebrauch, was dazu führte, dass ohne Kondom eine Erektion undenkbar und unmöglich geworden war. Und nun sass er in diesem gummilosen Sandloch fest. Die Krankheit wurde nach der zweiten Amerika-Reise von Kolumbus von den Antillen in die alte Welt gebracht. Sie verbreitete sich im Hafenviertel von Barcelona und dann mit den europäischen Armeen über den Kontinent. Der Schotte John Hunter, Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie, wollte 1767 beweisen, dass Syphilis und Gonorrhö eigentlich die gleiche Krankheit sind. Mit einem Skalpell brachte er Eiter aus der Harnröhre eines Tripperkranken in seinen eigenen Penis. Dabei ist ihm ein methodischer Fauxpas unterlaufen. Der Spender hatte sich mit beiden Krankheiten infiziert. Hunter verstarb an den Spätfolgen. Quecksilbervergiftung durch Quacksalberei. Syphilisationskrankheit, Pinselschimmel das Heilmittel. In der Spätphase von Syphilis, am Anfang der Gehirnaffektion, steigern sich kognitive Fähigkeiten stark. Thomas Mann macht so einen Komponisten erst zum Genie, dann zum Schwachsinnigen. Johnny Depp der Libertin. Jumpei ist Abes Geburtstagsvetter, astrologischer Zwilling. 

Der Möbiuseffekt blieb aus. Er hatte gehofft, dass sich die instinktive Sexualität irgendwann in zärtliche Liebe verwandeln würde, wie das magische Band die Aussenseite zur Innenseite verwandelt. Die Frau wünschte sich eine Paulownia, Blauglockenbaum, er Nadelholz.

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