Mt. Titano

Taufeucht das wadenhohe Gras noch, durch die Morgensonne erglitzert. Seine Gedanken kreisten um das Eine, die unbändige Unabhängigkeit von Gott. Stolz fuhr hoch, auf seinen Namen Marinus, der aus dem Meer, auf den er von Gratius getauft worden war. Nun stieg er hoch zur Erdspitze, der höchsten Erhebung hier in den nördlichsten Marken, einem begrünten Felsrücken, bemoostem Walfisch, einem himmelragenden Monument der Erhabenheit mit Weitblick über die Lande wie das Meer. Gott hat den Menschen geschöpft, aus dem Meer wie alles Leben. Aus weissen Schloten kommt er, der Mensch. Aufsteigende Blubbern. Marinus sah sich um, dem Wasser und dem Morgenlicht entgegen. Das Meer lebt gekräuselt. Der Bischofsdom von Rimini lächerlich klein, ganz unten. Hier oben würde ihn niemand in Abhängigkeit ziehen können, er würde niemandem was schulden. Gaudentius hatte ihm seinen Segen als Anachoret erteilt. Ich bin mein eigenes Spezialkommando, dachte er sinngemäss, ich werde Papst und Kaiser bewirten und mit Ihnen teilen, was ich dereinst haben werde, aber dann werde ich sie sanft an ihre Pflichten erinnern. Der Gedanke, periphere Orte zu bevorzugen, liess ihn schmunzeln. Er hatte seine engsten Glaubensbrüder und treuen Begleiter gebeten, ihm in gebührendem Abstand zu folgen und ihr Lager unterhalb der Felsenoffenbarung aufzuschlagen.

Gegen Abend kamen sie langsam hoch, lachend und winkend. Die Rücken bepackt mit wilden Bergen von trockenem Feuerholz, mit Wasserbeuteln, geknoteten Tuchballen, der eine mit einer Kiste Wein und der Pesarese mit zwei Hasen in den Händen. Wir umarmten uns beim Zusammentreffen, wie immer. Wir wussten nicht, dass wir längst im age of anxiety lebten, für spätrömische Verhältnisse ging es uns valde bonum 🙂

In diesem Moment schlug sein Herz kräftiger, er nahm das herzliche Pulsieren seines Freundes wahr, die unpersönliche Leibhaftigkeit war irgendwie nicht spiegelbildlich, mehr punktsymmetrisch. Das Gefühl verdichtete sich zu einem rotierenden Energiegewölk, das ihre beiden Brustpartien umfasste. Als sie sich wieder aus der Umarmung lösten, war es ihm, als bliebe die Gemeinsamkeit nicht nur in ihm als ein Herzensgefühl, sondern der ganze Ort um ihn war erfüllt davon, er war selbst Teil die Ortes und ganz in ihm. So würde sich das Waldbruderleben gut anfühlen lassen. #blessed. Pesarese hob die beiden Häschen hoch, die er vor der Umarmung freudig fallen gelassen hatte, nahm die vier Ohren in eine Hand und klatschte mit Marinus ab: Nur noch die Damenbesuchsregeln fehlen, sprach er zum Marineser Stammvater. Damit spielte er auf Magga an, die vor dem Bischof frech behauptet hatte, Marinus sei in Wahrheit ihr desertierter Ehegatte, und das Frischgeborene vorzeigte. Gaudentius steckte sie samt Nachwuchs ins Armenhaus. Der Geruch von Wildtierdung.

Genau dort unten am Offenbarungsfelsen, wo die Waldbrüder, als double-six-pack belächelt und vom Bischof mit zwölf Flaschen Wein verabschiedet, ihr erstes bescheidenes Kloster bauten, stand später der Eingang zur Festung. Napoleon liess während dem imperialen Eroberungszug durch das politisch zerstückelte Italien an der Pforte ein Schreiben abliefern, das den Republikanern das Geschenk von einer Kanone grössten Kalibers samt Munition, französisches Weizenmehl der edelsten Pariser Qualität und die Herrschaft der Marinesi über die ganzen Ländereien bis und mit Rimini in Aussicht stellte. Der Dank einer erfolgreichen Damenbesuchspolitik der Waldbrüder zahlreiche Nachwuchs lehnte nach einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung diese Superlative dankend ab. Sie bevorzugten freundschaftliche Nachbarschaft, liessen sie ausrichten. Kleingeister wie die Schweizer, die werden an Inzucht aussterben, dachte Napoleon, aber liess das Mehl trotzdem schicken. Daraus buken sie Marillenhörnchen.

Verändert sich der Text, wenn er vom Internet abgehängt wird und analoge Gestalt annimmt? Wenn kein Link mehr weiterführt und der freie Assoziationsfluss sich verdickt zum begrenzten Inhalt? Wie verhält sich Schreiben und Lesen zur Bildschirmzeit? Verbirgt sich hier eine geistige Naturkonstante oder folgt am Ende das Zusammenfallen im Nichts? Ist die klassische Logik die säkularisierte Erbsünde? Wer schreibt, produziert Gedanken, hatte Lacan schon in der Klosterschule gelernt. Die persönliche Mischung aus Gedankenproduktion und -konsumption macht das Identitäre des Textes aus. Der Leser wird der Schreiber gewesen sein. Die sinnliche Dimension des Schreibens leckt am Schriftbild und seiner Textur. Der Sinn tropft auf die Leserperspektive. Der Text verklebt sich im inneren Lesernetz. Alles Gelesene wird zum Leser. Der Leser wird das, was er selbst schreiben wird.  Das noch ungeschriebene ist der Moment vor dem Eisprung

Marinus war abgeschweift. Er zog die Decke hoch und verstand nicht, was in diesem Moment in seinem Kopf vorgegangen war. Er schob sich die zerknüllte Schärpe unter den Kopf und blieb auf dem Rücken liegen. Wir sind nur Zeichen Gottes. Die Instanz, welche die Ordnung des Zeichenhaften garantiert, ist der grosse Andere, oder, wie der Bischof sagen würde, der Name des Vaters. Marinus liess seinen Herzschlag wieder alleine weiterwachen.

Und schon war der traumhafte Gedanke weg und drin in Mario, wie frischgelesen. Das Symbolische war bei Marinus hängengeblieben. Das Imaginäre flakkerte Im HintergrundRauschen DerAussenwelt. Bildschirmflimmern vis-à-vis. Das unfassbare Reale drohte die Traumwelt zu erobern, in seinen berüchtigten Gestalten der Sexualität, des Todes und der Gewalt. Der reale Traum zeigte Lacans Bild vom Ursprung der Welt, das er in seinem Wohnzimmer hängen hatte und heute von Macron im Orsay zur Schau ausgehängt ist, daneben ein Wachmann mit Blick zum Betrachter. Eine gemalte Aufsicht auf einen entblössten weiblichen Torso. Das dicht behaarte Geschlecht im Zentrum, naturhaft entspannt, die Schamlippen leicht geöffnet wie vor dem Sündenfall. L’origine du monde c’est la terre. Mario war plötzlich hellwach und sah sich Mitten im Wohnzimmer und schaute zu seinem Lehrer, wie er den unerklärlich erotikfreien Akt hinter das naturhafte Landschaftsgemälde schob, das die weiblichen Linien symbolhaft erscheinen liess. „La femme n‘ existe pas.“ Jetzt würde er den Satz erklären können, der damals im Seminar für emotionalen Tumult gesorgt hatte. Das Imaginäre als Versteckspiel der Realität. Oder doch umgekehrt? Egal. Mario lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Moment, als er gestern ganz oben war, wo Marinus gelebt hatte. Der hier in Marino entwickelte Unifyer steigerte das Gipfelerlebnis, überhöhte es durch das synchrone Sinken der Herzfrequenz und Senken des musikalischen Tempos. Ziel ist immer das Larghetto, sein Ruhepuls.

Etwas war oben geblieben. Marinus spürte den ersten Morgenschimmer auf den Augenlidern. Es schien ihm, als träume er, aber er wusste auch, dass das nicht die Wahrheit war.

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