Junge im Mondlicht

Wie verlogen jedes Buch allein dadurch wird, dass jemand es veröffentlicht hat. Die Öffentlichkeit wimmelt von inkompetenten und böswilligen Lesern. Um die Wahrheit zu sagen, muss man mit eigenen Worten sprechen, so Sokrates. Mit der Verbreitung des Vokalalphabets im antiken Griechenland bildeten sich neue mediale Praktiken heraus, Schreiben und lautes Lesen; auch neue Wortfelder, in denen sich diese Praxis im Verborgenen festkrallte. Vollbespuckte Schriften moderten durch die Zeiten, bis durch leises Lesen die Wahrheit verschwand und Giftfrösche die Bibliotheken regierten. Die Urkraft der Sprache ist Bubers Du-sagen, ursprünglich eine kasusähnliche Anrufform. Die Vokativphrase ist in den meisten Artikelsprachen durch Abwesenheit dieses Determinativs gekennzeichnet. Die alten Griechen haben mit dem unscheinbaren Begleitwort das grammatische Geschlechts entdeckt. Das passte zum heliozentrischen Weltbild und zum harzigen Weisswein. Anaxagoras sah, dass der Mond sein Licht von der Sonne hatte, die sicher grösser als der ganze Peleponnes war. Es gibt keinen Grund, etwas zu schreiben. Die Arbeiterinnen besteigen das Spielgelände, die Kopftücher unter dem Kinn geknotet, Hufe und Klauen an den Füssen: Mondfinsternis!

Das Abendessen schmeckte gut wie immer. Die Kartoffeln musste man mühsam schälen, die Schale schmeckte papierig und war gleichzeitig rau wie die Rindszunge am Sonntag. War die Haut weg, belagerte die Wärme und Stärke das Zentrum der erstaunenden Lebenslust. Butter und aromatisiertes Tafelsalz wirkten auf den wachen Jungen, verstärkend auf Neugier und körperliche Präsenz. Vater und Mutter schwörten, dass ihr Nachwuchs aufgeweckt werden würde, von ihnen gemeinsam, wenn die Zeit gekommen, den Durchgang des Erdschattens durch den vollen Mond mit eigenen Augen zu bestaunen. Die klare Nacht versprach ein kosmisches Spektakel, vergleichbar vielleicht dem besten Käse. Mit der bildlichen Vorstellung der durchbläuten Mondfinsternis und dem gesättigten Urvertrauen war der Schlaf tief und unaufgeregt. Doch als Licht einfiel und der nächtliche Schlaf dem Bewusstsein den Stab der Gewalt übergab, wurde er gewahr: Es gab kein Erlebnis des himmlischen Schwinden und Werden, das Gedächtnis leer, der letzte Eintrag die geschwellte Schwurszene.

Beim Frühstück, einer Schale Kefir mit gedörrten Beeren und Nusskrokant, übergab der Knabe seine Enttäuschung über die entgangene Sensation und das gebrochene Versprechen auf den Familientisch. Erstaunte Gesichter: Alle versicherten, dass er dem Schauspiel beigewohnt und sich zustimmend zur Erscheinung des Ereignisses geäussert habe. Ich bin ein Anderer, durchzuckte Rimbaud in subjektivierter Form den Goof, und seitdem führt er ein idealisiertes Bild des Sekundenleermondes in sich. Das Gedächtnis scheint mit dem Controller verbunden, wir können das Zusammenspiel von abspeichern und abrufen gewinnen, wenn wir Einbildung und empirische Überprüfbarkeit als Genderzeugs erkennen: Der Beweis, dass die Kongruenz von Mondphasen und der femininen mens ein patriarchaler Mythos sei, gilt auch für sein Gegenteil – die Varianz ist riesig, der Durchschnitt enspricht dem nichtsiderischen Zyklus. Der innere Vollmond! Der verdunkelte Mond nährt sich an den Bäuchen und Seelen der Menschen, er saugt mit dem Trinkhalm des Schöpfers auch Blut der Kreaturen. Traum und Tragik sind Geschwister. Der Junge somnambuliert.

Der Himmel ist nachts fein gerippt, ein königsblauer Plisse-Jupe. Wenn er als Lichtwind zur  Faltigkeit aufsieht, schaut er ein Kippbild. Vollmond und Leermond sind nicht durch zyklische Mondphasen verbunden, es gibt keinen Halbmond und keine Sichel, nicht mal Alt- und Neulicht, nur Hell und Dunkel. Die eigene Bewegung wird zum Stroboskop. Luna mentitur. Die Römer hielten den Mond für einen Lügner, weil das sichelige c für crescens steht, das Nachtlicht aber descens war. Der Junge lebt hier, weil hier Schrift und Mondphase versöhnt sind. Und hier der Vollmond dann zum Himmelsthron steigt, wenn die Sonne sich schlafen legt. Hier und jetzt!. Hic et nunc. Die Helvetier haben die Römer besiegt. Kernschattenfinsternis. Doch der Vollmond behauptet das Recht der Ersten Nacht.

Der Junge schwebt in der Luft, hochgezogen an dünnen Seidenfäden. An einem Bein ist er mit einem Kabel verbunden. Wenn er seine Hand der ebenfalls aufgehängten Schere nähert, kommt diese ihm plötzlich geräuschlos entgegen. Wenn sich sein Mund auf den Kussmund des Mädchens zubewegt, sprühen die Funken. Das Publikum applaudiert. Die Menschenkette aus Gardisten und Kartäusermönchen wird an die Batterie angeschlossen und zucken wie Marionetten. Der König ist amüsiert. Auf dem Friedhof werden Kranke und Lahme am gütigen Grab geheilt, nachdem sie lange zuckten und tanzten. Gläubige schlafen auf dem Grabstein und erleben Wunder. Die Erde um das Monument heilt als Salbe, Paste und Pulver. Wir wissen, dass während solcher Ekstasen Gefühle grosser Befriedigung auftauchen, ähnlich wie in den Zuständen der Hingabe, die dem Subjekt alles in einem schönen Licht erstrahlen lassen. Im Namen des Königs ist es Gott untersagt, an diesem Ort Wunder zu wirken, stand auf einem Zettel am Friedhofstor, nach der Schliessung. Der Mond legt wieder zu.

Die Seidenfäden waren gerissen, das Kabel weg, der durchzuckte Junge ein anderer. Eine Singularität erschien ihm. Das andere Mädchen huldigte ihrer eigenen Mondsucht. Gelegentlich begegneten sie sich auf ihren Mondgängen, gingen sich aus dem Wege, starr vor sich hin blickend. Manchmal beobachteten sie sich gegenseitig beim Schlafwandeln. Berichte beim Frühstück quittierten beide mit Achselzucken. Nachts bei Vollmond begann unter der gemeinsamen Decke ein zärtliches Spiel, kuscheliges Petting, Küssen und Lecken, Schmecken und Stecken. Obwohl sie manchmal auch sehr laut wurden, erwachten sie nie. Die Augen mehr geschlossen, der starre Blick verhängt. Sie lieben sich, bis das Mondlicht schwindet. Beide glauben und wissen sie, dass sie so sind.