Epilog: Mahlers Licht

Die Sonne brüllte über das gespiegelte Bild des Gletschers hinweg, violette Gischt. Speichel tropfte. Kurz fächernder Regenbogen. Der See wurde stumm und verdunkelte sich. Herzkrämpfe durchzuckten Muskelgewebe, die Knochen knurrten und Gedankenfetzen flatterten am Kraterrand des sich verengenden Bewusstseins. Feuchtwarmer Dampf stirnseitig, wenn man genau hinschauen hätte können. Im Zusammensinken war er auf den Rücken gerollt, noch halb gewollt.

Er sah: Marcel kam langsam auf ihn zu, Mund und Augen weit offen. Professor Valentinow stand etwas abseits, die Aktentasche fest umklammert, die Szenerie überblickend, beobachtend, reflektierend.

Ob er es gelesen hatte? huschte in Leuchtschrift vorbei, gleich verblassend.

Er wusste: Die auktoriale Erzählerhaltung schafft Handlungsspielraum, auch für ihn. Die Innenperspektive in Er-Form leistet mentalen Eskapaden Vorschub. Daniel hätte David nicht sterben lassen müssen, gleich beim ersten Herzanfall.

Was der Professor von seinem Skriptum hielt, war plötzlich nicht mehr wichtig. Er konnte jetzt auf eine Zweitmeinung verzichten. Er brauchte diesen sozialen Resonanzraum nicht mehr, Alles war so klar. Die Sache mit der Zeit war für ihn mit diesem Augenblick erledigt. Er hatte den mathematischen Beweis, dass es die Zeit nicht gibt, geliefert. Nach allen Regeln der logischen Vernunft, bis zum quod erat demonstrandum. Mit diesem Wissen hatte bei ihm der Glaube angefangen. Er glaubte an sein Wissen, er konnte es jederzeit beweisen. Die Anderen wollten seinen Beweis nicht akzeptieren und verharrten deshalb im falschen Glauben, dass es Zeit gäbe. Aber das war ihm jetzt egal. Ihm ging es um die Sache an sich, an sich selbst. Er hatte das gerichtete Kontinuum der Zeit als menschliche Antwort auf das Rätsel des eigenen Todes enttarnt und damit den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als deren Verlängerung in die Physik und Kosmologie. Die Welt versinkt nicht in Kälte und Unordnung. Es ist: Ich bin warm und wahr. Zudem wissen wir seit Planck, dass der sogenannte Zeitstrahl unterhalb dem kleinstmöglichem Zeitintervall quantisiert, diskret springt, zu einem Zeitteilchen wird. Wie beim Licht, nach Einstein. Das kleinste Intervall ist definiert als die Zeit, die Licht braucht, um eine Plancklänge zurückzulegen. Es wird eine Wurzel gezogen aus dem Produkt der Gravitationskonstante und der Boltzmann-Konstante (ein weiteres axiomatisches Planck-Geschöpf!), das Produkt geteilt durch die Lichtgeschwindigkeit hoch drei. So geht das. David wischte sich den Mund. Die absolute Länge eines Plancks ist deshalb verdammt klein, die negative Zehnerpotenz muss fünfunddreissig mal wiederholt werden. Wir befinden uns hier ausserhalb experimenteller Messbarkeit. Theoretische Physik ist mehr Poesie, konkrete Wortwörtlichkeit. Jedes Objekt, das einen Vorgang kürzer als in Planck-Zeit durchlebt, wird zur Singularität. Das trifft auf den Urknall zu. Die Theorie besagt, dass danach die Planck-Ära folgt, für genau eine Planck-Zeit lang. Und dass dieses Zeitintervällchen physikalisch beschrieben werden kann. Doch doch, eben mit diesem Planck-Wortschatz und der weiteren Dimension in den Proportionalitätsfaktoren der mathematischen Gleichungen. Den theoretischen Naturkonstanten. Er steckte sein Taschentuch wieder ein. Es gibt sie, die Weltformel, in unendlicher Anzahl. Marcel schaute ihn fragend an.

Ja, alles in Ordnung, siehst Du doch, dachte er. Die Infinitesimalrechnung war für die Jesuiten eine Gotteslästerung: Bei Newton und Leibnitz bestehen Kurven aus winzigen Geraden, der Kreis wird zum Quadrat quantisiert. Rechnerei wie positive Wissenschaft sind mit Fehlerwahrscheinlichkeiten geschlagen, statt durch wahre Schönheit Glaubhaftigkeit zu verbreiten. Experimente mit Lichtgeschwindigkeit sind gar nicht möglich, weil sich zwei unterschiedliche Messpunkte nicht ausserhalb der Lichtgeschwindigkeit koordinieren können. David verwarf auch die Relativitätstheorie. Wie konnte Einstein nur auf die Idee kommen, Masse und Energie ausgerechnet mit der Quadratur der angeblich absoluten Lichtgeschwindigkeit zu korrelieren, ja festzunageln? Gotteslästerung wird es wohl nicht sein, das ist auch so eine theoretische Naturkonstante, dachte er. Aber wenn die Geschwindigkeit des Lichtes so schnell ist, dass wir sie nicht messen können, wie sollen wir dann das Verhältnis von Masse und Energie verstehen und persönlich leben, wenn da auf der einen Seite das nicht Bezifferbare, die unerkannte Unermesslichkeit mitwirkt? Die Atombombe als Naturkonstante? Nein, Masse und Energie standen in einem engeren Äquivalenzsystem, eher wie Materie und Geist.

Die Glaubensformen in Bereichen extremer Kleinheit und extremer Grösse, in der Atomphysik wie der Kosmologie, sind den stärksten Veränderungen unterworfen, das fand er bei Janet bestätigt. Vor ihm lagen die semantische und mathematische Mechanik der Naturkonstanten offen wie das Skelett im Schauraum. Natürlich ist es auch eine Frage der Systemgrenzen und des Standpunktes, ob Formulierungen korrekt sind und welche Äquivalenzsysteme die Begriffe bilden. Aber mit jeder weiteren Potenzierung einer bisherigen Konstante konnte eine Neue definiert werden. Und mit den Wurzeln verhielt es sich ebenso. Die Liste der Naturkonstanten ist unbegrenzt. Aber jede neue Naturkonstante braucht ihr eigenes Nominalsystem. Das Dilemma war unlösbar, es versteinerte vor seinen Augen zum Paradoxon.

Marcel wollte von all dem nichts verstehen, aber er war von seinem mathematischen Genie überzeugt. Manchmal sagte er zwar Du spinnst!, aber er bewunderte seine Fähigkeit, die abstrakten Zahlen hinter dem Chaos zu erkennen, ganz ohne Rechnen. Schüttete man eine Handvoll Rosinen auf den Tisch, so genügte ihm ein Blick, um die genaue Anzahl festzustellen. Das prüfte er nur einmal nach. Zuerst hatte er sich verzählt.

Marcel half ihm auf. Der Gleichgewichtssinn kehrte torkelnd zurück. Sie wandten sich vom Professor ab und gingen langsam Richtung Bahnstation. Eine Kinderschar rannte die Treppe herunter, Richtung Ufer, dahinter erwachsene Ratschläge. Das ist ja noch mal gut gegangen, meinte Marcel, ich fahr Dich jetzt nach Hause.

Er dachte an Katy. Vor seinem inneren Auge ihre Aura, regenbogenhaft. Die verschiedenen Rollen in diversen Systemen müssen durch eine Naturkonstante zusammengehalten werden: der eigenen Identität (eI), eine der veralteten David-Naturkonstanten. Da die eigene Identität auf der materiellen Ebene wenig Kontinuum aufweist, befinden wir uns im neuronalen Teil, auf der Energieseite. Jetzt wusste er, wie ein Lichtteilchen fühlt. Die Wahrheit ist der Massstab des Wahren und des Falschen.

Nein, dieses Herzflattern bedeutete nicht sein Ende. Lediglich eine Politur seines Wortschatzes.