Sehr alte Religionen kennen keine politische Kirchenorganisation. Priester und Tempeldiener kommen aus der Mitte der weitverzweigten Tempelfamilien, die das Heiligtum seit jeher verwalten und bewirtschaften. Mit dem Monotheismus kommt das eine Gottesvolk und eine staatsförmige Kirchenstruktur. Die katholischen Kirche rettete das römische Kaisertum in ein neues Gewand. Die Reformation legte liberalem Denken und republikanischem Individualismus den Grund. Die Anglikanische Gemeinschaft will keine Kirche sein, aber unsere liebe Elisabeth II ist – ungefragt – Oberhaupt der Church of England. In der ökumenischen Theologie gilt sie deshalb wie der Papst als globales Gesicht der Christenheit, christliche Markenträgerin. Aber da gibt es wirkungsvollere Influencer: Der Schattenwurf Zwinglis verdunkelt selbst Luthers Merkel, die Inkarnation vernünftiger Nächstenliebe.
Henken, Kopfabschlagen, Verbrennen und Ersäufen gingen munter weiter, man durfte dank Zwingli aber am Freitag Wurst essen, sogar am Karfreitag. Bilder und Musik verschwanden aus Religion und Kirche. Die emotionale Fastenkur schärfte den Geist, so dass er Licht als Mittel zur Aufklärung erkannte. Vernunft ersetzte die Religion im Namen der Freiheit und der Gleichheit. Die Landeskirchen werden verfassungsrechtlich und gesetzlich gesteuert, auch wenn unsere Verfassung mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ beginnt. Die Macht auf Erden gehört ganz der menschlichen Politik. Das ist die Geburtsstunde der Dystopie. Als Nachfolge der Apokalypse. Vor dem letzten Weltkrieg schrieb Aldous Huxely Brave New World, Warnschrei vor dem Faschismus und heute abiturrelevant wegen der zeitlosen Ethik-Preziose Anti-Totalitarismus. Bruder Julian Huxely wurde nach der Kriegskatastrophe erster Generalsekretär der Unesco und arbeitet an einer neuen gemeinsamen Weltreligion, welche das aktuelle Wissen integriert. Die Darwinistensprosse redeten von evolutionärem Humanismus und schrieben Atheismus im Namen der Vernunft. „Gott ist eine vom Menschen erdachte Hypothese bei dem Versuch, mit dem Problem der Existenz fertigzuwerden.“ Solcher Anti-Theismus ist Ausdruck vulgärmarxistischer Noblesse.
Das „Drei-Stadien-Gesetz“ wurde zuerst von Thomas Paine formuliert und dann durch Auguste Comte zum Generalbass der Moderne: Anfänglich lebte der Mensch in der Religion, später in der Klassik der Metaphysik, dann in der reinen positiven Wissenschaft. Die Teleologie säkularisierter Theologie fährt an die Wand der Vernunft. Am 26. Juli 1794 wurde Robespierre während einer Rede an das Parlament in und durch dieses verhaftet. Zwei Tage später durch den Nachfahren einer schottischen Henkersdynastie guillotiniert, Sanson. Dieser hegte eine besondere Abneigung gegen das erbliche Gewerbe seiner Familie, weit er eine Klosterschule verlassen musste, um die Reputation der Bildungseinrichtung nicht zu gefährden, nachdem sein daddy durch den Vater eines Mitschülers identifiziert und geleakt worden war. Die Grossmutter pfiff ihn von der holländischen Uni zurück, als sein Vater wegen einer plötzlichen Lähmung den Familienberuf nicht mehr zum Gelderwerb ausüben konnte. Sein Gesellenstück lieferte der junge Sanson bei der Hinrichtung des Königsattentäters Damiens, als Assistent seines Onkels – der Alte hängte danach seinen Beruf an den Nagel. Der Junge bekam den blutroten Mantel des Henkermeisters, erwarb sich den Ruf „Monsieur de Paris“ und enthauptete Robespierre mit vierzig Jahren Berufserfahrung und dem gleichen Arbeitsgerät, mit dem er drei Jahre zuvor den abgesetzten König hingerichtet hatte. Ein Jahr nachdem die Revolution ihre ersten Kinder gefressen hatte, zog er sich krank aus dem Familienunternehmen zurück. Sein Sohn zog es weitere siebenundvierzig Jahre durch, sein Enkel musste die Guillotine wegen Spielschulden verpfänden und wurde seines Amtes enthoben.
Robespierre, der gegen die Kirche den rationalen Kult des höchsten Wesens vertrat – dies wurde für einige Monate in der Verfassung als französische Staatsreligion verankert -, hatte einige Monate vor seiner Hinrichtung Paine inhaftieren lassen, der seinerseits einen philosophisch kaum unterscheidbaren Unitarismus vertrat – die Religion der amerikanischen Unabhängigkeitsbefürworter. Wie später Lenin argumentiert Robespierre mit der Absolutheit des Gemeinwillens, der den Einzelnen unterordnet. Ohne Terror ist die Tugend machtlos. Vier Tage vor seiner geplanten Hinrichtung wurde Paine bei offener Zellentür von einem Arzt auf seine Guillotinentauglichkeit überprüft, während ein Gefängniswärter die Zellentüren der Todeskandidaten markierte wie der Förster das Fallholz. Als die Henkersknechte ihre Fallbeilopfer holen, ist die Zelltüre geschlossen und die Markierung im Innern der Zelle bedeutet dem Insassen Verschonung. Am Tag der Verhaftung hatte er sein epochales „Zeitalter der Vernunft“ fertiggestellt, ein Bestseller. Nach fünf Jahren Grundschule hat sich Paine als Autodidakt zu einem führenden Intellektuellen im angelsächsischen Raum und dem ganzen Abendland gebildet. Sein Buch common sense war die Grundlage der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dann schrieb er Rhights of Man und verteidigte die französische Revolution. Wegen seiner Bücher wurde er in England für vogelfrei (outlawry) erklärt und floh nach Frankreich, wo er sich als Abgeordneter in der Nationalversammlung gegen die Hinrichtung des Königs aussprach.
Der eine Generation jüngere Unterhausabgeordnete Cobbett schrieb eine Schmähschrift gegen den francophilen Paine, worauf er als Porcupine verspottet wurde – den Begriff aus den Kolonialgebieten in Südasien legte er sich streitlustig gleich als Pseudonym für seine weiteren Pamphlete zu. Die britische Regierung bot ihm Geld, weil er so stramm das Königshaus vertrat, er lehnte ab (Sie wissen: Ein Gentleman weist eine Bestechungsofferte von sich). Schliesslich hatte ebendiese ihn nach Frankreich und schliesslich in die USA getrieben, weil er zu Hause vor Gericht hätte erscheinen müssen: Der in Nordamerika eingesetzte britische Soldat hatte seinen Vorgesetzten Korruption vorgeworfen. Nicht schon wieder! In Neuengland hatte er richtige Lämpen, Geldstreit mit Schlägerei, und so floh er zurück nach England. Und jetzt bieten die mir Geld an. Hausschweine!
Auf Einladung Präsident Jeffersons kehrte Paine 1802 nach Amerika zurück. Er war dort wegen des Zeitalters der Vernunft in Ungnade gefallen und wurde von der föderalistischen Presse bei seiner Ankunft als verlogener, versoffener und hemmungsloser Ungläubiger verleumdet. Einsam und verbittert verbrachte Paine seine letzten Jahre, ungebrochen schrieb er weiter politische und religionskritische Artikel. Letztere wurden später als Dritter Teil des Age of Reason herausgebracht. Paine starb in New York City. Sein letzter Wille, auf einem Quäkerfriedhof bestattet zu werden, wurde ihm verwehrt. Sein Lebensmotto lautete: „Die Welt ist mein Land und Gutes zu tun meine Religion.“ Verstossen und vergessen der Glücksvogel aus dem Pariser Gefängnis: Dem Sarg von Paine, dem geistigen Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika, folgten sechs Personen. Cobbet aber buddelte seine Gebeine aus und liess sie in England verschwinden. Während Napoleon konsularisch sein neues europäische Kaiserreich bereiste, verdiente Cobbett sein Geld als Verleger und Sprachrohr der Arbeiterklasse. Darum ist der Geist im amerikanischen Präsidialamt derart unruhig.