Eigentlich hätte das Haus schon früher eröffnet werden können, der Bau war fertig. Aber die Aufrichte am Entlisberg verzögerte sich, weil man erst mal die Butzen- zu einer Baustellenzufahrtsstrasse ausbauen musste, und der Waisenvater vom Oetenbach wollte alle Zöglinge gleichzeitg umziehen lassen, mit ihren Leiterwägelchen. Am Knabenschiessen 1911 war es endlich so weit: das Haus Sonnenberg endlich eingeweiht. Das Restaurant Sonnenberg war einige Jahre vor dem Waisenhaus da: Die über hundert geladenen Gäste begutachteten erst den Bau am Entlisberg, fuhren dann mit der Strassenbahn zur Rehalp und fanden sich auf ihrem Spazierweg zu Café und Kuchen auf der Aussichtsterrasse der Fifa-Kneipe ein. Jacky’s Kalbskoteletten wagten sich nicht in die kühnsten Zvieri-Fantasmen der Magistraten und Hochgeehrten. Dann hoch zum herrschaftlichen Waisenhaus, von der Bürgergemeinde als ihr Stolz bewilligt, vom Winterthurer Sozi in Zürich 7 gebaut, im Professorenquartier und ehemals lesezirkelregierten Hottingen. Die Abendsonne im Festsaal zum Akt, die Emil Klöti spontan bei der Schlüsselübergabe an den Waisenrat zum Herzstück seiner ansonsten trockenen wie farblosen Rede machte. Eine Lachnummer wird erleuchtet. An der dunkelbraunen Wand das Porträt von Statthalter Heinrich Escher, der das Waisenhaus Oetenbach, in der heutigen Polizeihauptwache, eingeweiht hatte. Bodmer-Weber, Präsident der Waisenhauspflege: Lasset die Kinderlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich. Pfarrer Tappolet, Oetenbach-Waisenvater und Hausherr im neuen Sonnenberg: Wen Gott lieb hat, dem schenkt er ein Haus in Zürich. Fürchten Sie nicht, dass unsere Kinder verwöhnt werden, sie haben hier mehr Arbeit. Nach der Hauseinweihungsfeier spazierte die Festgemeinde zum Laubsäge-Waldhaus Dolder, wo nebenan vor vier Jahren auch ein Golfplatz eröffnet worden war. Die Kinder durften mit an das Festessen.
Das wollte so Hans Nägeli, Finanzvorstand im Zürcher Stadtrat und Parteimitglied der Demokraten (Erfinder des Volksentscheides in Sachfragen). Er fiel in der Baukommission durch seinen Vorschlag auf, den Boden der Spielhalle im Sonnenberg zu asphaltieren, um durch den weicheren Belag die Unfallgefahr zu reduzieren. Nägeli war an der Feier anwesend, weil er selbst als Waisenkind im Oetenbach aufgewachsen war und, als erster Stadtrat aus dem Waisenhaus, die Kraft des politischen Willens am eigenen Leibe spürte. Vielleicht ging es dem Klosterschüler Estermann und der Lesbenmuse Mauch auch so. Reden durfte Nägeli an der Feier nicht. Jahre später, die Dinge überschlugen sich in der Welt und z’Züri, wurde er von seinem Kollegen Klöti, der in der Zwischenzeit Nationalratspräsident geworden war (die Lex Wagner war noch bei Jackys Kalbskoteletten) in seinen Stadtpräsidialamtswiederwahlambitionen übertrumpft. Das rote Zürich wurde wahr. Genossenschaftsbauten wurden hochgezogen, der brave Sozi scheiterte zweimal als Bundesrat – der Draufgänger Ernst Nobs wurde 1943 der erste rote Landesvater. Nobs trat als Zürcher Regierungsrat zurück, als er zum Nachfolger von Klöti als Zürcher Startpräsident gewählt wurde. Jetzt war Zürich wirklich rot. Der Stauffacher-Platz heisst eigentlich Nobs-Platz, aber die VBZ ignorieren das (Der Korrektor kann’s sich nicht verkneifen: Der Stadtrat leidet an züriblauer Schwul-Lesbischer-Rot-Grün-Farbblindheit).
Allen Waisen war gemein, dass sie Stadtzürcher und Reformierte waren. Einige hatten zwar Eltern und Verwandtschaft, aber sie waren illegitim oder waren ausgesetzt worden. Nur katholische und schwererziehbare Kinder durften nicht in den Sonnenberg, Letztere wurden in Korrekturanstalten auf soziale Normen abgerichtet. Die Erziehungsmethoden im Waisenhaus basierten vorerst ebenfalls auf körperlicher Züchtigung, in einem vom Rat erlassenen Reglement waren Rutenschläge in einer Straftarifliste Pflicht der Aufseher. Diese Disziplinierungsmethoden der Waisenväter endeten nach dem Grausen des ersten Weltkrieges: Nun übernahmen Lehrer diese Funktion von den Pfarrherren. Die Blütezeit der staatlich-institutionellen Waisenfürsorge endete mit dem nächsten Weltkrieg. Aus Kostengründen wurden Waisen in Adoptions- und Pflege-Familien platziert. Die Kosten explodierten trotzdem: Fünfzig Jahre später hatte sich die Zahl der Kinder halbiert, die der Angestellten mehr als verdoppelt. Kurz nach der Jahrtausendwende brach ein dickes Wasserrohr beim Pumpwerk. Das ganze Wasser aus dem Reservoir Sonnenberg ergoss sich über das Villenquartier. Die Zukunft wurde immer ungewisser.
Sicher ist, dass die Eröffnungsfeier im Sonnenberg am 11. September, dem dritten Tag vor den römischen Iden, stattfand, das ist der Tag der Stadt Zürich, das Knabenschiessen, die Feier der Stadtheiligen. Im Gegensatz zu anderen Angehörigen der römischen Fremdenlegion schienen sie nicht auf den Märtyrertod versessen, den viele wählten, in dem sie sich weigerten, gegen christliche Heere zu ziehen. Felix und Regula wählten die Flucht. Des Kaisers Häscher liess die ägyptischen Christen aufspüren und auf der Limmatinsel köpfen, da wo heute die Wasserkirche steht. Sie nahmen ihre Köpfe in die Hände und liessen sich von Engeln auf den Hügel tragen, auf dem unser grosser Karl mit dem hiesigen Bischof später die Gräber öffnete, je einen kaum verwesten Kopf in die Hand nahmen und das Grossmünster bauen liessen. Bevor Zwingli die Bilder, Statuen und Reliquien eigenhändig aus diesem Gotteshaus trug, liess ein Innerschweizer Handwerker die heiligen Schädel mitlaufen, sie sind in der Kirche Andermatt. Zwei Schädelplättchen vom Hinterkopf verschenkten die Andermatter zurück nach Zürich, sie sind sicher in der 1950 eröffneten St. Felix und Regula Kirche im Hardquartier, in meiner Nähe. Einige Altarbilder überstehen heute den Rest der Zeit im Landesmuseum, unterhalb dem Münster. Ein ägyptischer Unternehmer hat die Andermatter Schädelreste (die Unterkiefer fehlen seit dem Engelstransport) zurück in ihre Heimat geschafft und zur Tarnung ein gigantisches Tourismusprojekt lanciert. Im Fremdenprospekt als Sehenswürdigkeit taucht nun das Chedi an Stelle der Kirche auf.
Fest steht, dass im Waisenhaus das Knabenschiessen, kurz nach dem Mostbummel, zu den vielen rituellen Feiertagen zählte. Der Blütezeit-Waisenvater Emil Gossauer anerbot den zahlreich am Schiesswettbewerb teilnehmenden Zöglingen, sie mit dem Motorwagen im Albisgüetli abzuholen, wenn sie das Stechen gewinnen. So weit kam es nie, aber er brachte einige Waisen durch die Matur und an die Zürcher Hochschulen. Er betreute (bereuen vs. betreuen, im nächsten Text) auch Lehrlinge, die auswärts lebten und managte deren individuelles Homeoffice. Die grösseren Zöglinge erhielten Rotwein und Taschengeld. Gossauer baute Gemüse, Beeren und Früchte an, so dass sie bald den Überschuss verkaufen konnten. Hühner, Enten, Kaninchen und Truten zogen in die Nordostecke des Areals. Der patriotische Pädagoge kaufte erst den Kelvinator, darin die Nahrungsmittel kühl zu halten. Besorgte sich dann ein Pathé-Klein-Kino und lachte mit den Schützlingen und dem Hausteam über Chaplins Golfspieler (Nein. nicht schon wieder der Korrektor – Selbstanzeige). Wer begabt war, erhielt auf Kosten des Hauses Musik- und Instrumentalunterricht. Eine riesige Vielfalt von Gesangsbüchern, auch Geschenke des Personals. Köpfe und Figuren wurden aus Kartoffeln geschnitzt. Bettnässern legte „der Senkrechte“ die physiologischen Zusammenhänge dar, darum sie abends nicht trinken sollten. Und brachte ihnen gefütterte Finken und 1 Wärmeflasche. Er hob das Verbot der Geschlechtermischung am Esstisch auf. Die Zöglinge wurden von der Landsgemeinde aller inkludierten Minderjährigen in ihre Hausämter gewählt, dazu gehörten auch die Bücherei, der Blumenschmuck, die Glocke, der Ausläufer. Am Tisch verteilte der am Tisch gewählte Schöpfer das Essen. Erziehung zur Selbstregierung in der sonntäglichen Landsgemeinde. Als diese bereits zum Schluss kam, stellte ein Junge den Antrag, dass morgens wieder Hafersuppe gereicht werde. Die Mädchen kreischten empört. Gossauer musste schliesslich in geheimer Abstimmung den Entscheid finden lassen, das Prozedere entsprach dem Standard der Nationalversammlung. Die Hafersuppe kam dank dem absoluten Mehr wieder auf den Frühstückstisch. Dem Personal musste Gossauer aber zugestehen, dass sie in diesem Punkt nicht dem Willen der Landsgemeinde unterstünden. Da sich die Stadt weigerte, das Areal durch ein angrenzendes Waldstück zu arrondieren, liess er ein Wäldchen neben den westlichen Pappeln anlegen, pflanzte Birken um den Ziergarten und setzte an der Zufahrt einen kleinen Riesen-Mammut, in der Gewissheit, dass dieser kalifornische Baum überragend genug werde, um die Kraft und den Geist dieses Ortes auch späteren Generationen vor Augen zu führen. „Haus und Garten sowie die Lage sind so schön, dass alle Zöglinge es sich zu ihrer Ehrenpflicht machen sollten, auch das Leben gut und schön zu gestalten“, liess er im Protokollbuch seine Rede niederschreiben.