Status quo der tausend Worte

Alles soll bleiben, wie es ist. Mantra der Nunc-stans-flower? Nein, die würden: Alles ist, wie es ist… murmeln. Sture Panta-rhei-hater? Die neigen zur Formulierung: Alles bleibt, wie es immer war. Was die Gruppe betrifft, kann nur mit dem allseitigen subjektiven Willen zu Veränderung führen. In der Demokratie ist dieses individuelle Vetorecht einer Nein-Mehrheit gewichen, die sich in der Regel aus den beiden politischen Flügeln gegen das Zentrum bilden kann. Eine Nein-Mehrheit sagt Ja zum Status quo. Der Mensch sei so ein Nein-Sager, lassen uns Kognitionspsychologen und Sozioökonomen wie Verhaltensbiologen wissen: Der Mensch neigt tendenziell, aber doch grundsätzlich dazu, nichts verändern zu wollen. Vielleicht entspringt diese Formulierung einem Menschenbild, das sich selbst auf der anderen Seite wähnt, der offenen und zukunftsfreudigen, und darum eine polare Skala zwischen flexibel und beratungsresistent legt, als Massstab der Status-quo-Affinität. Der Status quo ist selten der beste Zustand. Eher eine politische Methode, das Wachstum von Wünschen und Differenzen einzudämmen.

Vielleicht wird eine interreligiöse One-world-Gemeinschaft die politische Macht über das Wohnerbrecht erhalten und dazu die finanziellen Mittel, um konfessionsgemischten Familien Wohnraum in der Innenstadt von Jerusalem anbieten zu können. Nach dem Ableben der heutigen Bewohner ziehen Familien und andere Wohngemeinschaften ins Zentrum der ewigen Stadt und des jahrtausendealten Konfliktzentrums. In diesem Umkehrprogramm soll eines bleiben, wie es war: Die Kirchentür wird durch die Muslimische Familie Nusseibeh geöffnet und geschlossen – diese Aufgabe erledigen sie seit 637, der Eroberung Jerusalems durch die Nachfolger Mohammeds. Nachts aufbewahrt wird der Schlüssel bei der Familie Joudeh, das hat Sultan Saladin 1187 nach der Vertreibung der Kreuzfahrer aus der heiligen Stadt so verfügt. Die durch die Schlüsselgeschichte inspirierten interkonfessionellen Wohngemeinschaften leben das vor, was die Politik nachvollziehen wird. Sie leben in friedlicher Gemeinschaft und freiem Glauben, ohne Grundeigentum und ohne Zins, dafür mit grosser Selbstbestimmung und gemeinsamer Sorge für das Gemeingut und die Geschichte. Der Kreis des Friedens wird sich immer weiter um die Altstadt ziehen und den Nahostkonflikt ausdünnen wie die heisse Luft über den heiligen Kuppeln der Weltkirchen. Neue Ideen werden entstehen, wie das Allerheiligste der Juden und das Drittheiligste der Moslem ihre göttliche Bestimmung finden. Alles ist möglich. Jesus hat es ja daselbst vorgetanzt: Mit etwas Geschick kommt man unbemerkt in den Himmel.

Das Jerusalemma-Projekt, dieser stadtentwicklerische Trick mit dem wachsenden säkularen Klostergürtel um das Zentrum, könnte auch dem Christentum zu einer neuen Lebensform verhelfen. Auch das Allerheiligste der Christenheit hat es verdient, etwas liebevoller verehrt, bewohnt und bewirtschaftet zu werden. Das Auferstehungswunder ist christliches Dogma, sei es nun menschlich, konfessionell oder philosophisch verstanden. Der Ort der Auferstehung, das Grab Jesu ist das Allerheiligste. Die darüber gebaute Kirche heisst bei den Orthodoxen Auferstehungskirche, bei den Westkirchen Grabeskirche. Die verschiedenen Namen für das gemeinsame Gotteshaus deuten an, dass da kulturelle Eigenheiten und historische Linien Differenzen schaffen. Die von Jesus ernannten Apostel schwärmten nach verschiedenen Richtungen aus und die örtlichen Glaubensgemeinschaften berufen sich auf sie, um ihre Legitimität und Autorität zu behaupten. So geht das immer noch zu und her in der Grabes- und Auferstehungskirche: Die Armenier waren zuerst, ihre Kirche geht auf den Apostel Bartholome zurück, der bei uns noch immer den Most holt. Sie haben einen Patriarchen direkt neben der Auferstehungskirche und einen in Istanbul, wo aber der ökumenisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel als primus inter pares der christlichen Orthodoxie das Sagen hat: Bartholomäus I. Dem ist es mit Hilfe der EU gelungen, von Erdogan einige Immobilien zurückzuerhalten – die Basilica der heiligen Weisheit, griechisch Hagia Sophia, gehört leider nicht dazu.

Wie die Schlüsselgeschichte gehört auch Sultan Abdul Majids Dekret, Firman genannt, zu den nachhaltigen Narrativen. Der Text ist eine 1000-Wort-Geschichte aus dem Jahre 1852 und befielt allen Untertanen, am heiligen Grab, in der Bethlehemer Geburtsbasilica, am Maria-Grab im Getsemani-Tal und am Ort der Himmelfahrt, auf dem Ölberg, „keine Änderung einzuführen“. Diese Wortfolge wiederholt sich im kurz als Status Quo bezeichneten Schriftstück fünf mal. Abdul Majid sah sich zu diesem langweiligen Text genötigt, nachdem die Franzosen und kurz darauf die Russen den Serail aufsuchten und im Top-Kapi-Palast versuchten, im Grabkirchen-Streit der Griechen und der Franziskaner (die den römischen Petrus-Stuhl vertreten), ihre eigene Verwandtschaft zu stärken. Nachdem fast fünfzig Jahre vordem die Grabeskirche durch einen Brand in Mitleidenschaft gezogen wurde, hatten die Griechen von Machmud II die Erlaubnis zur Restauration des heiligen Grabes erhalten. Die östliche Grabseite wurde geöffnet, Baumeister Komnenos atmete den herrlichen Duft. Die Franziskaner, die ersten Katholiken, die nach den Kreuzrittern wieder in Jerusalem auftauchten, mussten zusehen. Seitdem verteidigen die Griechen ihr Vorrecht am heiligen Grab. Die letzte Verhaftung eines griechischen Priesters durch die israelische Polizei – wegen blutiger Schlägerei – liegt kaum fünf Jahre zurück. Die Lateiner wollten eine Türe schliessen.

Zeitraffer. Grablegung Jesu. Öffnung des leeren Grabes. Treffpunkt von Christen zur Gottesanrufung. Römischer Venus-Tempel, Auferstehung von Aphrodite. Besuch von Helena, der Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin. Sie liest Holzsplitter auf und verscherbelt diese als Kreuzreliquien. Konstantins Basilica mit Rotunde und Ädikula über dem Grab. Kreuzklau durch die zoroastrischen Sassaniden. Die Byzantiner bringen es zurück. Die Muslime bauen nebenan den Tempeldom und lassen den Christen vorerst ihre Grabstätte-Jesu-Verehrung. Die Schiiten, ismailitische Fatimiden, zerstörten das Grab: Al-Hakim machte Hackfleisch aus den falschgläubigen Nichtgläubigen, nach dem der aus einer toleranten Dynaste stammende Herrscher sich auf dem ägyptischen Thron radikalisiert hatte (vielleicht nervte ihn die Hysterie um die Wiederkunft Christi um das Jahr 1000). Aufschrei des Abendlandes. Al-Hakim lässt die konstantinischen Steine wieder aufschichten. Die Griechen bauen mit den Syrern eine Grababdeckung. Mit drei Bullaugen, durch die man den Kopf stecken kann, um den blutbespritzten und ölverschmierten Boden zu küssen. Kreuzritter campen auf Golgotha und bauen die Basilica aus. Schmücken sie aus. Die Franziskaner ziehen ein, die Armenier, die Griechen. Bald kommen Weitere dazu. Aus Syrien, koptische Ägypter, Äthiopier. Es scheint eine friedliche Phase gewesen zu sein, in der sich der heilige Geist wohlfühlte. Papst Julius lässt während der europäischen Gegenreformation die langsam zerfallenden Bauten umfassend renovieren. Danach herrschen am Grab Jesu die Franziskaner und die Griechisch-Orthodoxen in einer zerrütteten Cohabitation, die Armenier wohnen auch da. Einige Jahre nach dem Status-Quo-Edikt unterschreiben die drei einen ersten Vertrag über die Zusammenarbeit. Einhundertundachtundneunzig weitere folgen. Die israelischen Behörden bestätigen den Status Quo als gültige Anweisung und staatlich gesicherte Ordnung. Die zweihunderste Abmachung funktioniert: Die Grabkammer wird gemeinsam geputzt und das Eisengerüst weggeräumt. Alles andere bleibt. Die gelungene Kooperation wurde am 22. März 2017 mit der ersten ökumenischen Feier am heiligen Grab begangen. Die afrikanischen Mönche sind immer noch auf dem Dach.

Nur die Engländer haben sich um den Status Quo foutiert. Zwei Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges rettete die anglikanische Kolonialmacht das heilige Grab vor dem Einsturz, in dem sie ein Eisengerüst einbaute. In letzter Minute, bevor ihr vom Völkerbund erteiltes Mandat in Palästina auslief. Der aus der Schweiz agierende Völkerbund, der nach dem Grauen des ersten Weltkrieges zum Frieden beitragen sollte, feiert einen späten Sieg. Er verschandelte zwar die Grabeskirche, aber stiftete Frieden in der christlichen Wohngenossenschaft. Die Griechen ziehen Touristen am Kragen vom Grab weg, wenn sie zu lange schnuppern. Die Franziskaner klagen über pietätslose Touristenschlepper, die mit peinlichen Intima aus der Wohntruppe prahlen. Im Vatikan rätselt man über die Steinsäcke, die Papst Julius und Bonifatius hinterlassen haben. In England hofft Christie’s, dass diese Reliquien endlich auf den Kunstmarkt kommen. Damit könnte man das Jerusalemma-Projekt der UNO, dem vormaligen Völkerbund, übergeben. Der Status quo (jetzt ist das Q wieder zum q geworden) wäre davon nur indirekt betroffen, indem man die Klosterleute bitten würde, ihr Hausrecht durchzusetzen und in Zukunft die Führungen an die heiligen Stätten selbst anzuleiten.