Die Schädeldecke quetscht die Gedanken bei Schreibstau, einer Art zerebraler Verstopfung. Der Neuronenfluss verlandet, Vorstellung und Einbildung verklumpen. Die Grammatik ausgetrocknet, die Wörter spröde. Dazwischen banale Würmchen und basale Larven: Karma zum Kauen. Der zähflüssige Verstand sammelt sich in der Beule, schillernde Adjektive spalten die Ketten und Verbindungen. Ein Bläschen platzt und prokrastinierter Geist entweicht und setzt sich frei. Die Bummelanten jubeln schlafend.
Die Unart, sich fälschlich auf den gesunden Menschenverstand zu berufen, hat stark zu seiner Abwertung beigetragen, behauptet der Kantianer Robert Nehring. Kant war zur Desillusion gelangt, dass die Möglichkeiten des Menschen begrenzt und endlich sind; der Mensch ist gottlos und ohne die Gewissheit der Freiheit. Er erfährt alles, nimmt alles wahr, aber erkennt nichts. Immerhin kann er sich auf seinen gesunden Menschenverstand in seiner schönsten Form der Vernunft berufen, um den Gebrauch und die praktische Anwendung ebendieses gesunden Menschenverstandes in falsch und richtig zu scheiden. Falsch ist es, sich explizit auf den gesunden Menschenverstand als vernünftiger Beweis für die Wahrheit meiner Aussage zu berufen. Diese Beweisführung steht einem nur zu, wenn der Wahrheitswert der Aussage auf gemeiner Erfahrung beruht, Gemeingut ist.
Das induktive Wahrheitsurteil muss durch einen deduktiven Wahrheitsbeweis nach logischem Muster gebildet werden. Logische Syllogismen und damit vernünftige Wahrheit ergeben sich nur auf der Grundlage axiomatischer Begriffssysteme. Wir schwören auf unsere Begriffe, nicht auf unsere Verstandesgesundheit. Auf den gesunden Menschenverstand kann man sich nur berufen, wenn man Gesundheit im Sinne von Allgemeingültigkeit versteht: Ich und alle wissen es, nur Du nicht.
Im Jahrhundert der Aufklärung wurden die zum gesunden Menschenverstand synonymen Begriffe Gemeinverstand und Gemeinsinn bevorzugt. Der lateinische sensus communis erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – als Hochaufklärung – seine Blüte als Philosophie des gesunden Menschenverstandes, als schottischer Common-sense-hype. Die Morgenzeitung als Frühstück für den gesunden Menschenverstandes, neben der Stiftsbibliothek, wo alles geschrieben steht. Der latinisierte Begriff des Gemeinsinnes ist die Übersetzung von koine aisthesis: Aristoteles bezeichnete damit den übersinnlichen Sinn, den inneren Sinn, der alles zusammenhält. Das ist die unsterbliche Instanz des griechischen nous, in unterschiedlichen Denktraditionen als Seele oder als Vernunft übersetzt. Die koine aisthesis wurde in der hyppokratischen Folgemedizin als Konästhesie eingedeutscht und fachgerecht in die Philosophie übernommen. Die Medizin kennt nur noch Kinästhesie und Synästhesie. Selbst philosophiehistorisch taucht die Konästesie ab. Der sechste Sinn ist verkümmert.
Der Schlüssel aristotelischer Lebensauffassung und Weltanschauung, die Physik und Metaphysik durch Logik und Vernunft integrierte, droht verloren zu gehen. Das Körper-Geist-Problem spaltet die Philosophie in vorsokratisch naturphilosophische Materialisten und spätplatonische Idealisten. Logisch aber ist: Körper und Geist, oder in vorhergebräuchlicher Formulierung Leib und Seele, sind weder zwei unterschiedliche Dinge, noch dasselbe. Es sind zwei Aspekte des Einen. Voilà. Diese monistische Einsicht formulierte Aristoteles Jahrhunderte vor den Aposteln und den Kirchenvätern, die den durch die Moslems zurückgebrachten Aristoteles als einen der Ihren erkannten.
Wissenschaftlich scheint das Körper-Geist-Problem entschieden. Bei einer Expertenabstimmung innerhalb der Philosophie herrscht ein materialistischer Dualismus vor. Der expertengestützte, gesunde und mehrheistfähige Menschenverstand sagt aus: Du bist nicht Dein Leib – Du hast einfach einen Körper. Du bist nicht Seele, Du hast nich einmal eine Seele – Dein Geist ist eine vergängliche Körperfunktion, Deine Psyche ein fehlleitbares Soziobionarrativ. So ist der Gemeinsinn zur Gemeinheit verkommen. Binäre Ordentlichkeit statt monistische Einsicht. Selbst die empirische Methodik, die den gesunden Verstand ausmachte, ist einer Analytik gewichen, welche anstelle der Phänomene die formalen Strukturen untersucht. Kategorienfehler! rufen die analytischen Philosophen. Man darf Leib und Seele begrifflich nicht verbinden! Philosophische Agnostiker, Feiglinge, gibt Aristoteles zurück.
In metaphysischen Fragen kann man sich nicht auf den empirischen und gesunden Verstand berufen, ergänzt Kant, weil man nicht vom Konkreten ausgehen kann. Aber hilfreich bleibt die Methodik des kantianischen Menschenverstandes alleweil: Erstens selbst denken. Zweitens an der Stelle jedes anderen denken. Und drittens: Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Letzteres dürfte die grösste Herausforderung sein. Dazu braucht man einen selbstbewussten konästhetischen Sinn oder zumindest die Gnade eines souveränen sechsten Sinnes. Hegel bezeichnete den gesunden Menschenverstand als Abneigung der Vernunft gegen sich selbst, als Misologie. Marx sprach gar sinonym von historischer Dummheit und Nietzsche rettete den Verstand in den Übermenschen. Fest steht: Wer etwas vertritt, wofür ihn, sofern er nach seiner Überzeugung lebt, andere für wahnsinnig halten, gerät für seine Meinung unter eine erhöhte Argumentationslast. Mit dem Herzen zu denken fordert Vernunft und Verstand.
Der sechste Sinn steht zwar jenseits der fünf physiologischen Klassikern, aber wird mit unbewussten Wahrnehmungen gespeist. Das Auge sieht mehr, als ich sehe. Meine Hand spürt mehr, als ich denke. Meine Nase riecht eher gustatorisch als olfaktorisch. Mein linkes Ohr pfeift mir etwas vor. Die Nahsinne gewinnen Oberhand. Was nah ist, nehme ich stärker wahr. Noch stärker: In der Berührung entsteht Wahrheit. Mein Mund tut mir kund. Körpersinne, Sozialsinne und Erkenntnissinne in freundschaftlicher Kooperation, immer bestrebt, mit sich selbst einstimmig zu denken, zu sein und wahrzunehmen. Vereint im Sprachsinn, der gestaltet und versteht. Das Wort schöpft sich und genügt sich selbst.