Padouk und Banyan

In seinem Stammholz findet man keine Dendriten oder Neuriten, so dass das Gehirn des Baumes ganz anderer Art sein mag. In den Trachen finden sich die Lumen, Hohlräume der Leitzellen, und darin rotschimmernde Mikrofasern, die zumindest geeignet scheinen, Ionenströme zu leiten und photovoltaische Energie zu modulieren. Wird der Baum dereinst gefällt oder fällt er selbst, so kann man den mächtigen Stamm in dünnste Scheibchen zerlegen und versuchen, das Phänomen besser zu verstehen. Analoge Tomographie. Doch das wird schwierig werden. Nicht einmal sein Alter wird man bestimmen können, hier gedeiht der Baumriese nicht in Jahreszeiten entsprechenden Schüben, die sich später als zählbare Jahrringe zeigen, sondern in einem kontinuierlichen Wechsel-Drehwuchs, der die Zellen in einer verschränkten Fibonacci-Anordnung sich vermehren lässt. Dies führt zu einem rekursiven Glanz des Querschnittes, der mehr irritiert als erklärt. Aber auch als totes Holz Klarheit und Sättigung emittiert. Wird das lebende Holz verletzt, tritt ein roter Saft aus und der Duft von Vanille entströmt. Die Andamanen haben mit dem frischen Baumblut das Tilaka der geschlechtsreifen Jungfrauen, das dritte Auge, mit dem zinnoberroten Porenpulver das Bindi der verheirateten Frau als dritte Bremsleuchte gezeichnet.

Evident ist, dass dieser jahrhundertealte Padouk eine Art Erinnerung in sich trägt, die aber nicht mit einem abgeschlossenen physischen System gleichgesetzt werden darf, weil Externalisierungseffekte auftauchen, die bei manchen Menschen sprachliche, bildhafte oder gar szenische und filmische Bewusstseinsinhalte entstehen lassen. Der titanische Zitan, Pterocarpus indicus, nimmt einen unter seine mentalen Fittiche, wenn man in seinen Kronenradius gerät. Man spürt, dass man zu seinem Haushalt gehört, ja hier zu Hause ist. Durchschnittlich jeden Tag mit zehn Millimeter Meteorwasser besprüht, schüttelt er sich nur nach den ergiebigeren Regenfällen im Sommermonsun. Aber er lässt das ganze Jahr einzelne Blätter welken und die gedörrten Luftschiffchen aus seinem immergrünen Morgenmantel rieseln. Gelassen, ja fast herablassend betrachtet er seine Nachbarn. Die Kokospalmen scheint er zu verachten, nicht wegen ihrer wässrigen Milchkugeln, sondern wegen ihrer geringen Standfestigkeit, ihrem lächerlich kleinen Wurzelballen. Dort, wo die Mangroven ihre gestelzten Wurzelsiebe aufschlagen, bleiben die medizinballgrossen Stümpfe dieser faserigen Stängelpflanze liegen und schmirgeln ab: Typisch Homorhizie! In Padouks Brettwurzeln scheint die spontane Erinnerung zu hausen. Legt man seine Stirn an die lebenden Holzflossen, so spürt man dessen Assoziationen in seine eigenen Gedanken einsickern. Die Kolonialgeschichte zieht in komödiantischen Episoden vorbei, Kriege werden zum Karneval. Der Elefant bewegt sich in Zeitlupe. Seine Hautfarbe spiegelt Padouks Rinde. Mit dem Rüssel streicht er über die Wurzelschultern, als danke er seiner Mutter. Die Früchte des Padouk sind grosse Ravioli, hellgrüne Teigtaschen mit einem einzelnen Kern. Die Hülsenfrüchte des Schmetterlingsblütlers öffnen sich nicht selbstständig. Nur der Elefant hat das nötige Feingefühl.

Im Schatten seines mattgrünen Hutes versammelten sich die halbnomadischen Andamaner, ihr Kraushaar aufgetürmt, zu seinen Ehren mit einem pfefferroten Band umwunden. Der Älteste sass unter dem mächtigen gotischen Wurzelportal von der Grösse des Chorfensters im Prager Veitsdom. Da konnte er ohne weiteres Zutun seine Gedanken mit der Erfahrung, dem Überblick und der hunderttausendgliedrigen Sensorik des roten Sandels vereinen und seine Gemeinschaft durch die Jahrhunderte führen und Rat finden. So auch im Dezember 2004. Ein Epizentrum jenes Erdbebens, welches das Wort Tsunami auch in die kalten Höhenlagen anderer Kontinente spülen hiess, liess sich vorgängig unter dem Narrabaum vernehmen, so dass alle Indigenen sich auf die Hügel zurückzogen und dem Wüten und Bersten aus der Ferne beiwohnten. Danach blieben sie noch ganze drei Tage in den Kokoswäldern, bis sie sich wieder nach abwechslungsreicherer Nahrung umsahen. Und diese zuerst ihrem Padouk darbrachten. Seither ist das Wort Tropenkopf aus den Vokabularien verschwunden. Die Ektropenköpfe haben sich ins Richipedia verkrochen. Mit ihnen sind durch die Springflut ein Dutzend Inseln verschwunden.

Nah genug, dass sich die Blattaugen tief in die Blütenkelche sehen können, hat sich Banyan niedergelassen. Steht man zwischen dem ungleichen Baumpaar, so spürt man, dass sie Brautbäume sind. Die erdverhafteten Brettwurzeln bewundern seine sadhugleichen Luftwurzeln; der Epiphyt, die Aufsitzpflanze, ihre hochstrebende Standfestigkeit. Im Zwischenbereich, dem gemeinschaftlichen Raum, verliert sich die vertikale Orientierung in einen märchengleichen Schwebezustand, der am besten liegend erfahren wird. Ehe er es sich versah, lag er auf einem herrlichen Tagesbett mit schwellenden Kissen von leuchtender Seide. Ein Traumraum. Ein Wunschbaum, der Banyan. Er greift aus, stützt sich ab, ohne je Padouk zu umarmen. Padouk möchte schon seine Wurzeln um ihre Taille spüren, seine luftigere Form der Ewigkeit berühren. Padouk wuchs nur mit Luft, Wasser und Licht auf. Und abgeschuppter Rinde. Bis er mit seinen länger werdenden Wurzelarmen den Boden aufkratzt und Halt findet. Aber wenn er ganz gross geworden ist, so ist kein Platz mehr für jene, auf deren Schoss er gesessen und dann umarmt hat. Erst bleibt eine Holzscheide, dann wächst auch diese zu. Überwuchert, die dänischen Kolonialherren, österreichischen Höflinge, schliesslich die britischen Aufseher ihrer Strafkolonie und die japanischen Krieger.

Unter einem von Padouks Ahnen meditierte Siddharta Gautama, bis er vollkommen erwachte. Ja, unter Lichtfressern wird man beschattet und erleuchtet. Der antike König Ashoka, der seine staatlichen und philosophischen Fühler bis nach Burma und Athen ausstreckte und dessen Namen heute jeden zweiten Lastwagen ziert, nahm im dritten vorchristlichen Jahrhundert einen Steckling des heiligen Baumes nach Sri Lanka. Wie historische Schriften belegen, wurde der Nachwuchs schnell zu einem neuen Zentrum des Buddhismus, was später die Shivaiten dazu verleitete, den Baum zu fällen. Ein Steckling des Gefallenen soll wieder in dessen ursprüngliche Heimat zurückgebracht worden sein. Buddhisten werden im heutigen Indien zu den Hindus gezählt. Nun sind die Pappelfeige und die Banyan-Feige kaum mehr zu unterscheiden. Heilig sind sie allemal. Banyans am Strassensaum tragen eine Vielzahl von kleinen Säckchen, in welchen menschliche Wünsche auf ihre Erfüllung warten. Malerische Bilder mit viel Jute und farbigen Bändern gibt es nur noch im Internet. Padouk wir nie erleben, so lange seine Wurzeln reichen, dass ein Wunsch aus einer Plastiktüte Erfüllung findet. Banyan und Padouk berühren sich gelegentlich in der unterirdischen Rhizosphäre und in luftiger Blattkronenhöhe. Wunschlos im zeitlosen Glück.