Dieses eine Mal nur bin ich ihm begegnet. Bei eben diesem Mahl. Das musste ich erst mal verdauen. Darum blieb ich der Beisetzung fern.
Ich wusste eigentlich kaum etwas über Saimur, den ältesten Sohn eines meiner Cousins, väterlicherseits. Er hätte meine Texte gelesen und würde sich freuen, wenn ich seiner Einladung Folge leisten würde, liess mich der Neffe zweiten Grades via WhatsApp wissen. Meine Neugier war grösser als das ungute Gefühl, so dass ich vorbeigehen und mir ein persönliches Urteil bilden wollte. Er sei ein Genie auf dem Gebiete der Biochemie, hiess es, hatte sein Grundstudium gleich mit einer Dissertation gekrönt und in Japan im Team des nachmaligen Nobelpreisträgers Yoshinori Ohsumi gleich die Forschungsleitung übernehmen können. Sie hatten einiges darüber herausgefunden, wie die intrazellularen Umbauprozesse vor sich gehen: Es war ihnen gelungen, mittels Hochfrequenzstrahlen Zellen dazu anzuregen, sich in rudimentäre chemische Bausteine aufzulösen und nach vorgegebenem genetischem Plan neu zusammenzuraufen. Die Pharmaindustrie bewarf die Homunkulusbastler mit Milliardenbeträgen. Doch nach kaum mehr als einem Jahr kehrte er zurück, niemand wusste Genaueres. Beide Beine amputiert, ganz am Rumpf.
Die Tür wurde von einem kräftigen und grossgewachsenen Ostasiaten geöffnet, der mich auf Deutsch hereinkommen hiess. Den Kopf kahlrasiert und in einer hochgeschlossenen weissen Kleidung, so dass er wohl Bodyguard und Pflegefachmann in einem war. Er führte mich ins Obergeschoss, wo um einen runden Tisch der Gastgeber, eine androgyne Volltätowierte sowie der Professor bereits Platz genommen hatten. Diese Formulierung mochte auf Saimur nicht passen, er wurde wohl eher platziert. Sein Rumpf steckte in einem bauchnabelhohen, schwarzbraunen Lederkissen, einer Art Ringboje, die auf einem Rohrstuhl mit Rollbeinen festgemacht war. Der linke Arm war auch weg. Er trug einen engen, schwarzen Leibesanzug, der links ohne Armöffnung war.
Er streckte mir die rechte Hand entgegen und drückte die meine betont und damit unangenehm kräftig: „Schön, Dich hier zu haben, bevor von mir gar nichts mehr übrig ist“, lachte er mich an. „Das ist Robertone, der Professor Pertavita, der mir die Grundlagen der Biologie eingeflösst hat.“ Der Professor schob sich die Brille in die Stirn und grinste weise. „Und Tanathie, meine Begleiterin und mein Mikro-Yoga-Guru. Yeswikan hast Du ja schon kennengelernt, er ist mein Diener und Zuchtmeister.“ Der Hühne verbeugte sich ein wenig und trat einen Schritt zurück. Im tätowierten Gesicht gegenüber konnte ich keine Regung wahrnehmen; die Yogatechniken mussten sich auf die Zellebene beziehen. Ich überlegte kurz, ob ich eine Nettigkeit zur Begrüssung äussern sollte, eine zynische Bemerkung über Leibesübungen machen wollte oder einfach aufmerksam die Phänomene beobachten, was eine allfällig notwendende literarische Verarbeitung erleichtern würde, da hob Saimur seinen Kupferbecher und herrisch verströmte die lautlose Aufforderung, es ihm gleichzutun. „Wir sind mitten im reissenden Strom des Lebens, wir halten uns in diesen Moment am gleichen Schwemmholz und stossen auf das andere Ufer an, Prosit!“ und leer war ihr Becher. War selbst ihre Zunge tätowiert? Sie schien meine Gedanken zu lesen, leckte sich die Lippen und streckte kurz die Zunge heraus, so dass das gestochene Bild einer weiteren Zunge die Welt verhöhnte. Ich nippte aus meinem Becher. Lauwarmer Sake, seichter Alkohol. Der Professor murmelte etwas von einem ewigen Kreislauf und trank in kleinen Schlückchen, als wäre er in einer Selbsthilfegruppe, die mit Urin experimentiert.
Der Asiate hatte sich an der Hauselektronik zu schaffen gemacht und rundum wurden die Wände zu Projektionsflächen, an denen die Bilder im Gegenuhrzeigersinn langsam über alle vier Himmelsrichtungen wandern sollten. Das erste zeigte einen jungen Inka-Häuptling, der in einer weissen Frauenhaut steckte, direkt über Tanathie. Sweet surrender to love ertönte aus den Lautsprechern, die geheimnisvolle Stimme von Tim Buckley, welche die Liebhaber schwarzer oder weisser Musik mit Sehnsucht plattwalzt. Bevor ich diese Musik in den Schutz meiner Vernunft nehmen konnte, meinte Saimur, es brauche keine besondere Vorstellungskraft, um die Kleidung des kannibalischen Inka als die Macht der magischen Selbstverwandlung zu erkennen, welche heute an die Medizinaltechnik delegiert werde. Die Menschheit täte gut daran, ihre Experimente wieder ins Existentielle zu weiten, frei nach Nietzsche, wenn sie nicht in vegetativer Lethargie versinken wolle. Man sollte ein Buch schreiben, das mit einer Fussnote die Drehrichtung der Erdkugel umkehrt.
Der Inka wanderte nach links, Richtung Professor. Hinter die Volltätowierte schiebt sich ein barockes Portrait von Daniel Defoe, dazu die berauschte Amy Winehouse. Der Asiate trägt die dampfende Suppenschüssel auf und Saimur schöpft die braune Mehlsuppe in die Teller der Gäste. Bei Thanatie und mir lässt er sich Zeit, um die richtigen Klösse herauszufischen. Als ich ihn frage, was er an Amy Winehouse besonders mag, bekennt er, dass er sie erst zu schätzen begann, nachdem sie dem Club 27 beigetreten war, respektive beigelegt wurde. Sie gehöre nun einfach dazu. Aber die Ehrenplätze würden Jimi Hendrix, Janis Joplin Und Kurt Cobain belegen. Ich löffle etwas von der Suppe, die Klösse schiebe ich beiseite. Nein, ich hätte wenig Appetit, entgegne ich der aufdringlichen Frage, ob mir die Suppe nicht schmecke.
Nachdem die Löffel eingesammelt, das Suppengeschirr abgetragen und ein fast zähflüssiger Rotwein kredenzt worden war, fuhr der schlitzäugige Kliniker einen Servierwagen mit einer Schüssel voll dampfendem Risotto und einer grossen Schale mit Saucenfleisch auf. Nun überliess Saimur seinem Gehilfen den Service mit der Bemerkung, dass Osso buco mit Gremolata und etwas Sardellen sein Leibgericht sei und er selber für die Zubereitung vollauf verantwortlich zeichne. Hinter dem Tattoo-Gesicht, in dem die Knödel wie pochierte Wachteleier verschwunden sind, erscheint das Bild eines Zeitgenossen in legerer Businesskleidung. Das Gesicht ist ziemlich ausdruckslos, etwas nerdig. Erst später wurde mir klar, dass es sich um Armin Meiwes handelte, den Informatiker, der als Rotenburger Kannibale vom Landgericht zu achteinhalb Jahre Gefängnis verurteilt wurde. Die Lektüre von Robinson Crusoe, im Alter von vierzehn Jahren, hätte ihn auf die Idee gebracht. Der Bundesoberstaatsanwalt riss entsetzt das Dossier an sich und nun sitzt er lebenslänglich, auch wegen Störung der Totenruhe – immerhin hatte er nicht nur auf Verlangen getötet, sondern auch eine Leiche verspiesen. Irgendwie liess Meiwes Bild die ganze Szene etwas entspannter wirken, der Osso buco schmeckte nicht übel. Der Risotto liess zu wünschen übrig. Den krieg ich deutlich schmackhafter hin. Saimur lächelte zufrieden, als alle kauten. Übrigens lese ich gerade Stephen King, liess er uns wissen, „Der Formit“. Vor allem die Geschichte „Survivor Type“ hat es mir angetan. Aber das beste sind Deine Texte, wandte er sich an mich. Dein Buch „Anständig sterben auf Reisen“ ist ein wahres Geschenk, das ist der beste Ratgeber seit den Heiligen Büchern. Das Gefälle der Gedanken ist grandios wie gnadenlos. Moment mal, Junge, unterbrach ich ihn. Ich habe dieses Buch gar nicht geschrieben. Niemand hat dieses Buch geschrieben. Es gibt kein solches Buch. Und trotzdem hast Du es falsch verstanden! Überlegen lächelte er, „wem gehört eine Geschichte, ich zitiere Gstrein“ und blickte allwissend in die reglosen Gesichter der Tischgenossenschaft. Der Professor nickte, „vom homo erectus zum homo verrecktus, Kollege Richard Peto hat Recht: Unglücklichsein hat nichts mit Sterblichkeit zu tun“. Dem Kahlkopf gab Saimur ein Zeichen und der stellte ein eisnebliges Glas vor mich. Aus den Boxen dröhnte nun Jim Morrison, The End. Die Nahaufnahme des ermordenten Tamilen, die ich vor kurzem auf dem Handy der Tochter einer Freundin zu sehen bekam, erschien im Grossformat an der gegenüberliegenden Wand. Zahllose tiefe Schnitte, die Gebeine liegen blank, die Fleischstreifen von der Dicke von Kalbshaxen. Ich trank. Und hoffte, es sei mein Schierlingsbecher.
Das alles kann ich nun leichter nehmen, während ich es in Worte zu fassen versuche. Mein Notebook sitzt wie ein Buddha auf dem Bett, nur der Bildschirmrücken neigt unnatürlich nach hinten. Ich bin zur gewohnten Ruhe gekommen. Ich schreibe nur mit der rechten Hand, da bleibt die FESTSTELLTASTE schon mal vergessen, auch wenn ich nur den einen Grossbuchstaben schreiben will. An der Decke rauscht der Ventilator und sorgt für Sauberkeit im Aschenbecher. Saimur hiess mit Taufnamen Damiens, wie der erfolglose Königsmörder, dem die schwitzenden Rosse seine Glieder aus dem Leibe rissen. Viergeteilt, das letzte Glied verblieb am Rumpfstumpf. Auf dem Friedhof stellte ich fest, dass die Eitelkeit zu Stein erstarrt ist. Von Gottes Staub keine Spur. Saimur liess eine kleine Platte am Rande des rasenbewachsenen Urnenfeldes anbringen mit seinem Rufnamen, der Zahl 27 und der Inschrift Autophag. Er passte wohl in eine XS-Aschenkapsel. Vom Eingangstor bis zum Urnenhain sammelte ich meinen Speichel, mein Mund war gefüllt. Voller als bei der Dentalhygiene. Eigentlich wollte ich am Bestattungsort ausspeien, auf das Grab spucken, um das letzte Üble, das noch in mir war, loszuwerden. Doch ich schlucke runter. Drehe an meinem Flachmann und fülle die Mundhöhle mit gebranntem Weintreber. Zünde mein Feuerzeug und spucke prustend durch die aufs Maximum gedrehte Flamme. Aus das Irrlicht.