Coinflip

Bei der geschlechtlichen Vermehrung werden die Erbinformationen der Erzeuger in nicht vorherbestimmbarer Weise kombiniert. Objektiv ist die Neukombination aber nicht ohne Ursache, also purer Zufall. Das Liebesspiel hat sein eigenes Regelwerk. In der makroskopischen Welt gibt es keinen objektiven Zufall, in unserem Denken hängt alles von verborgenen Ursachen ab. Nach der Kopenhagener Deutung sind aber viele Ereignisse der Quantenmechanik fundamental unbestimmt und unreduzierbar, verborgene Variablen werden ausgeschlossen: Das Atom zerfällt, wie es ihm passt. Dieser Indeterminismus gesteht der Welt, die wir nicht begreifen können, ihren freien Willen zu.

Weiter südlich von Kopenhagen, in Rotterdam, ereignete sich eine Entscheidung, deren ursächliche Verkettung selbst für Quantentheoretiker rätselhaft bleibt. Das Fussballspiel zwischen Liverpool und Köln um den Einzug in den Halbfinal um den Europacup stand nach torlosem Hin- und Rückspiel auch nach dem Entscheidungspiel unentschieden; selbst die Verlängerung änderte nichts am Gleichstand. Der belgische Schiedsrichter klaubte deshalb  die Münze aus der Hosentasche, mit der er die Seitenwahl zu Beginn des Spiels ausgelost hatte, warf sie über Kopfhöhe und sah die Münze, nach wildem Wirbeln in der erwartungsschwangeren Luft, senkrecht im feuchten Rasen zwischen den verdutzten Mannschaftskapitänen stecken. Ohne zu zögern und ohne den Rückhalt einer reglementarischen Weisung warf er die Münze nochmals und zeigte auf die Engländer: Das ist die Siegermannschaft. Ein Deutscher Schiedsrichter brachte fünf Jahre später im bayrischen Fussballverband die Elfmeterregel durch, die heute den internationalen Standard bei unentscheidbarem Gleichstand bildet. Erstmals an einem grossen Turnier angewendet wurde diese Regel im Finale der Europameisterschaft 1976, und prompt zogen die Deutschen wieder den Kürzeren.

Der Rotterdamer Münzwurf ist fussballhistorisch eine Singularität, was mathematisch einem objektiven Zufall nahekommt. Die Engländer der Küstenstadt mögen im Endergebnis eine mehr oder weniger zwingende Logik finden, aber das grenzt an Apophänie, jener modernen Geisteskrankheit, welche im vernebelten Inselstaat modrig irrlichtert. Den schottischen Poeten Burnside schickte sie auf die Suche nach dem Hypernarrativ, dem Jenseits. Doch sein nüchternes Ideal enttarnte den heiligen Geist als Windböe.

Wenn immer möglich setze ich auf Kopf, auch wenn der Münzwurf mit gleicher Wahrscheinlichkeit Zahl zeigt. Ich mag es, wenn der Gegner einer sonntäglichen Boule-Partie Kleingeld hervorklaubt, mich fragend ansieht, ich auf mein oberstes Chakra tippe, der Spielhungrige sich – ja, direkt vor mir – niederbeugt und mir die Kopfseite der aufgelesenen Münze zeigt. Der Glücksvogel hat sich auf meiner linken Schulter niedergelassen. Da kann der Verlierer noch so hämisch anmerken, so dürfe ich das Cochonnet wenigstens diese eine Mal auswerfen. Wenn aus irgendeinem Grund ein anderes Auslosungsprozedere stattfindet oder der Münzkopf im Staub liegt, lässt mich das kalt. Unbedeutender Zufallsentscheid.

Pascal hat mit einer ähnlichen Wette einen spieltheoretischen Gottesbeweis geliefert. „Wozu ist der Mensch überhaupt berufen?“ fragte er seinen Besucher Gombaud rhetorisch. „Sie wissen es wie ich: zum Denken. Darin liegt seine Würde und sein ganzes Verdienst. Und es besteht seine ganze Pflicht darin, so zu denken, wie es richtig ist.“ Und was bestärkt sie in der Überzeugung, richtig zu denken? fordert ihn Gombaud heraus. Pascal erläutert seinem Gegenüber, dass die Vernunft zwingend den Glauben wählt. „Die Münze kann auf Kopf oder Zahl fallen. Ich setze auf Kopf. Ich weiss nicht, wie die Münze fallen wird. Wenn ich nichts in der Natur sähe, das auf eine Gottheit hindeutet, würde ich Leugnung wählen. Wenn ich überall Spuren einer Gottheit sähe, würde ich keine Münze werfen. Aber ich meine, das ganze Universum besteht nur darum, mir meine Ungewissheit und Ratlosigkeit bewusst werden zu lassen. Die Münze wirbelt durch die Luft und weder der esprit de géométrie, das logische Denken, noch der esprit de finesse, das intuitive Denken, verraten mir, ob sie auf Zahl oder Kopf fällt.“ Und dann beschreibt er die Spieltabelle mit seinen Wahrscheinlichkeiten und Ergebnissen: Setzen Sie auf den Unglauben und behalten recht, so gewinnen Sie leider nichts. Setzen Sie auf den Unglauben und verlieren die Wette, so verlieren Sie ein Himmelreich. Setzen Sie auf den Glauben und verlieren die Wette, so verlieren sie trotzdem nichts. Setzen Sie aber auf Kopf und gewinnen Sie, so gewinnen Sie ein ganzes Himmelreich. Es ist also vernünftig, zu glauben.

Gombaud gibt nicht bei. Woher wollen wir wissen, dass die Wettchancen fifty-fifty sind? Woher sollen wir wissen, dass der Gewinn ein Himmelreich ist? Vielleicht ist Gott ein Falschspieler? Oder der Teufel fordert zu diesem Spiel? Mich interessieren nur Spiele, bei denen ich sofort gewinnen kann. Ich passe. Ich suche nicht das grosse Glück, mir reicht das kleine Glück. Mehr kann man vernünftigerweise nicht wollen. „Bei meiner Wette spielt man mit dem Dasein“, soll Pascal geantwortet haben, „dieser Wette kann man sich nicht entziehen“, bevor er sich ins Himmelreich verabschiedete.

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