Meine Self-Agency

In der Schule überspringt Sheldon enige Klassen und erhält als Texaner mit 15 Jahren eine Gastprofessur in Heidelberg, wo er ein Jahr später den Titel Ph.D. für eine Arbeit über die Twistor-Theorie verliehen bekommt – eine mathematische Liebesaffäre zwischen Gravitation und Quantenfeldtheorie, in England erfunden zur Zeit, als die Beatles All You Need is Love sangen. Der hochbegabte Nerd Sheldon geht gelegentlich zur Psychotherapie, weil er an der Umwelt ständig abprallt. Der kollegiale Therapeut rät zu konsequenter Selbst-Objektivierung. Beobachte Dich, zeige Dich, beobachte die Reaktionen, beobachte Dich u.s.w. Zurück in der Wohngemeinschaft rapportiert und reflektiert er diese Psychotechnik. In der fünften Staffel von „The Bing Bang Theorie“ erklärt er sich mit Amy zum Paar und die beiden besiegeln das Paarsein mit einer Beziehungsrahmenvereinbarung. Amy verlässt Sheldon, sucht ihn wieder und er kann sich das erste Mal beim Sex beobachten.

Das psychologische Selbstbild des Menschen ist auch in der Pädagogik weitverbreitet. Der Königsweg der Metareflexion ist die mentale Vorhaltung, die Vorstellung des Selbst als Objekt. Die Naturwissenschaften führen neue, schwer messbare Grenzen ein: Zumindest Primaten und auch primitivere Affen nehmen ohne zu überlegen das Gefäss mit Futter, wenn sie zusehen können, wie es gefüllt wird. Wenn ihnen das Zusehen verunmöglicht wird, schauen sie zuerst, in welchem Behälter das Futter steckt. Sie überlegen und schlussfolgern also, dass sie zuerst Nachschauen müssen, weil sie ja nicht gesehen haben, wo das Futter landete. Ein intentionaler Akt der Metakognition. Auch Affen sind nur Maschinen.

Selbst der Bereich der Selbstentwicklung, ein Term aus der von Psychologen und Soziologen beeinflussten Sozialisationsforschung, ist affiziert vom Dogma der Selbstobjektivierung, trotz ihrem trutzigen Festhalten an der subjektiven Hoheit des Selbst. Das libertäre und emanzipatorisch flammende Konzept der Selbstentwicklung wird zur Selbst-Agentur, das sozial-marktwirtschftliche Nachfolgemodell der Ich-AG. Die Verarbeitung von Handlungserfahrungen durch ein reflektierendes Subjekt als erlebende, planende und handelnde Instanz („agency“) führt zu einer Selbstobjektivierung. Dieser vorstehende Satz hat mit dem erstmaligen Eintrag der Selbstentwicklung Eingang in das massgebende Handbuch gefunden. Da wird auch noch der fundamentale Begriff der Selbstobjektivierung präzisiert: Diese besteht aus dem Selbstkonzept (kognitiver Aspekt), dem Selbstwert (affektiver Aspekt) und dem Selbstvertrauen und Kontrollbewusstsein (konativer Aspekt).

Selbstvertrauen und Kontrollbewusstsein unter der gleichen Führung durch das Selbst? Die neulateinische conatio bezeichnet den Drang oder die Absicht, etwas zu tun. Die entsprechende altlateinische Subjektzuschreibung ist die intentio. Selbstkontrolle müssen wir haben wollen, wenn wir nicht über unseren eigenen Selbstkontrollverlust lachen können. Selbstvertrauen ist die grössere Herausforderung für mich als Inhaber meiner Selbst-Agentur. Die im Sport erfolgreichen Mentaltrainer wissen um den Zusammenhang von Erfolg und Vertrauen in den Erfolg. Wieder so ein mathematisches Liebespaar, das Momentum. Mein Selbstvertrauen ist quantenphysisch verschränkt mit dem Nicht-Selbst, also unkontrollierbar.

Anders als in psychologischen Varianten der Sozialisationstheorie neigen soziologisch und pädagogisch sozialisierte Sozialisationsforscher dazu, sich von substantiellen Aussagen über die Subjektseite fernzuhalten. Wir können uns aber die Frage nicht ersparen, ob ein Begriff der Selbstsozialisation ohne einen korrelierenden Subjektbegriff ein leeres politische oder pädagogisches Programm bleiben muss. Selbstsozialisation ja, aber bitte nach unseren pädagogischen Werten, dem hidden curriculum. Im Radio läuft Lennons Imagine.

Freud hat Stirner gründlich missverstanden, als er das stirnersche Jenseits-in-Uns in das freudsche Über-Ich der soziokulturellen Genese verbannte. Stirner anerkannte das Heiliggesprochene als Heilig, seine Kraft schöpfte er aus der dem Menschen innewohnenden Transzendenz. Er war gläubiger Anarchist und kirchenfeindlicher Pädagoge. Stirners Philosophie einer konsequenten Individualität trägt allerdings Züge des methodologischen Solipsismus, er sieht das Subjekt als Eigner und Einzigen. Der eigene Geist ist Material, mit dem ich anfangen kann, was ich will. Wer sich aber darauf beruft, Einziger und eine Singularität zu sein, reklamiert für sich damit, so Sloterdijk, den Status eines Monsters. Die Menschheit eine Horde affiger Meta-Monster.

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