Die Weltseele

Die Welt ist stur. Mit 1,7 Mach rasen wir um die Erdachse, die ewig schief in der Sonnenumlaufbahn steckt. Mit 1000 Mach umrunden wir die glühende Sonne, gerade schnell genug, um die Runde nach genau einem Jahr zu beenden. Und das mit der starren Sturheit der Tagestaktgeberachse beschert uns den nebligen Herbst und den kalten Winter. Die Welt dreht gedankenvergessen vor sich hin, flüchtig scheint die Weltseele.

Aus gedankerloser Flüchtigkeit habe ich neulich den Anlass gegeben zum Versand einer Karteikarte aus meinem digitalen Zettelkasten, welche bei den belieferten Abonnenten missbilligendes Kopfschütteln veranlasste. Das Missgeschick ist Ausdruck des universellen Lebensprinzips und der Verdauung. Nun diese nachgereichte und gereicherte Vertextung. Hegels kryptische Bemerkung, in Napoleon sehe er die Weltseele, löst den ganzen Neuronenkrach aus. Was mag er gemeint haben, der die Seele aus dem philosophischen Vokabular gestrichen hatte? Sein ausgeklügeltes und transzendentes System mit Weltgeist, absolutem Selbstbewusstsein, ideellen-reellen Entitäten wurde von seinen Jüngern aufgeteilt in den marxschen Materialismus und den Messianismus der Vernunft.

Das hegelsche Diktum wähnt in der heutigen Zitierweise denn auch den Weltgeist in Napoleon, an Stelle der Weltseele. Marx hat später dem idealen Weltgeist das Eigenleben ausgetrieben und mit dem Glauben an den Weltmarkt gleichgesetzt, als List der Vernunft. Vielleicht war der Zeitgeist in Napoleon. Das aus der selbstverschuldeten Unvernunft entschlüpfte und aus der feudalen Verdingung befreite Individuum, das sich selbstbewusst erhöht und eigenhändig nach den Transzendentalien greift (O-Ton Hegel: Es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht). Napoleon hat dieses neue Konzept der Weltpsyche inszeniert. Der Soldat hat das Szepter übernommen. Die Weltseele macht ein Nickerchen.

In der Alltagssprache lebt die Seele ruhig weiter. Als werthaltiges Attribut gesellt sie sich gern zu besonders friedlichen und harmonischen Momenten, in denen der Ursprung und die Gemeinsamkeit des Lebens eine wohlige Wärme spenden. Und im Sinne der alten Griechen lebt die Seele, unbehelligt von der wissenschaftlichen Verbannung, in allem Lebenden inne, als eines und umfassendes Lebensprinzip. Wie die alten Inder gingen einige gar so weit, Atmen mit Leben gleichzusetzen. Das Sanskrit-Wort Atman bedeutet sowohl Atem wie Seele. Die Seele macht sich von alleine bemerkbar, sie gebiert die beschränkte Vernunft, die dank ihrer Beschränktheit sich als Betrachter erlebt und damit Selbstbewusstsein und Geist erlangt. Schelling nannte diese Dynamik der Seele „absolutes Selbstbewusstsein“. Das Erste trägt das Zweite in sich.

Die Weltseele träumt in verschiedenen Formen weiter. Sie zeigt sich in Archetypen, in unbewusst Kollektivem, als heiliger Geist. In den zahllosen Universalien des Menschseins. Taucht im digitalen Nebel der Vernetzung auf. Schart Flow-Anhänger um sich. Aus dem Sprachleben ist sie aber verschwunden. Solowjew hatte beobachtet, wie sich die Weltseele aus dem Mittelpunkt der All-Einheit des göttlichen Daseins entfernt hat und an die Peripherie der geschöpflichen Vielheit gefallen ist. Das kümmert jene wenig, die aus Prinzip zu ihr halten, weil sie gerne immer mal wieder mit ihr schmusen wollen. Die subjektive wie die universale Seele umarmen sich gegenseitig.

Die heutige Psyche, die Welt der Gefühle und Gedanken, kommt weitgehend ohne Seele aus. Hinter der Vernunft beginnt der vernünftige Erwartungshorizont. Kognitiv wird Transzendenz negiert: Man braucht zwar täglich Begriffe wie sein, gut, wahr, pocht aber darauf, nicht wissen zu können, was das heisst, weil das relative Begriffe seien. Das aber sind absolute Begriffe, die drei Grundbegriffe der religionsphilosophischen Metaphysik: Sie lassen sich nicht mit Vorausgehendem logisch verknüpfen. In der aristotelischen Tradition gingen die Scholastiker vom zentralen Begriff des Seins aus. Von de meisten gleichgesetzt mit dem Einen. Duns Scotus erweiterte die Transzendentalien zu einem philosophischen System, das die Disjunktion und modallogische Verknüpfungen integrierte. Der doctor subtilis unterschied erstmals philosphische Wahrheit von religiöser Wahrheit.

Das Verschwinden der Transzendenz und der Seele hat das subjektive Erleben des Menschseins nachhaltig verändert. Ich fühle mich und bin mir nicht mehr selbstverständlich. Das Selbstbewusstsein wird gesteigert zur Selbstobjektivierung. Das Selbstvertrauen ist ein sporttechnischer Begriff. Das Vertrauen in die eigene Lebenskraft hat dem Wissen um den Placebo-Effekt Platz gemacht. Wir sind aber stark empfänglich geblieben für das verführerische „Ich-werde-Dir-gefallen“. Die Wirksamkeit im Sinne von subjektivem Wohlbefinden und objektiver Symptomverringerung ist erstaunlich hoch. Rund die Hälfte der Ärzte nutzt diese Wundermedizin. Die Welt-Ärzteorganisation will das unterbinden: Nur der vollständig aufgeklärte Patient und nach dialogisch gefestigter Einwilligung darf den Placedo-Effekt in der wissenschaftlichen Medizin wünschen. Dumm ist, dass genau unter diesen Voraussetzungen keine Wirksamkeit der Behandlung mehr messbar ist. Damit ist die Wunderpille Placebo aus der Medizin entlassen, und bald werden ein paar Jungunternehmen mit Placebo-Abgabestellen reich werden und allerlei wirksame Drogen auf dem Ladentisch auslegen. Marx zwinkert rüber: Die Weltseele hilft weiter.

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