mutmasslich mutwillig

Vielleicht haben die Feuerwehrmänner im letzten Moment das Sprungtuch weggezogen wie weiland der Stierkämpfer seine rote Handfahne, bevor ihm der Stier das linke Auge aussticht, von unten, durch Kinn und Mund hindurch. Auf jeden Fall springt der junge Mann aus dem fünften Stock des Asylheimes und liegt nun tot auf der Strassenbefestigung. „Spring doch!“-Rufe hätten sie gehört, berichten Augenzeugen. Der Totstürzer verstand kaum ein Wort Deutsch, so dass niemand auf die Idee kommen sollte, einen sozialpsychopolitischen Zusammenhang mit der historischen Schuldfrage zu behaupten, auch wenn die Deutschen ein Nazikonzert geben, bei Ulrich Bräker und Toni Brunner zuhause. Die Irritation kommt immer von Osten. Blosse Mutmassungen.

Die Selbstmordrate unter jungen Migranten richtet sich mit jeder Einreise neu an der einheimischen Quote aus, eine statistische Akkulturation. Gegenüber den Brüdern im Herkunftsland steigt die Rate meist um das Doppelte oder Mehrfache. Junge Migranten sind überdurchschnittlich agil, abenteuerlustig, risikobereit und mutwillig. Das führt bisweilen in einem Umfeld, das stärker an Werten wie Stabilität, Sicherheit, Prävention und Ordentlichkeit orientiert ist, zu Spannungen, welche die ganze Situation in eine brennende Kraft verwandeln, die sich gelegentlich in unerwarteten Sterbefällen manifestiert. In diesen apokalyptischen Momenten und basalen Banalen entlädt sich der Opferttäter seines Lebens. Die Feuerkugel verschwindet im schwarzen Loch seiner eigenen Mitte. Zurück bleiben statistische Werte und Mutmassungen über die Seele der Anderen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich selbst zu töten. Dem Selbsttötenden hat die Vernunft sich verweigert oder wurde verschmäht. Wir huldigen der menschlichen Vernunft, wenn wir Unverständnis gegenüber dem Freitod hegen, besonders dann, wenn der Tat eine kausalpsychologische Verwicklung vorausging, in die wir möglicherweise verstrickt sind. Der Asylbewerber hätte aufgefangen werden müssen, die Fachleute hätten dann mit ihm langwierige Gespräche geführt (mit dolmetschenden Secondos dabei) und sicher gibt es auch ein geeignetes Medikament, das uns Gewissheit gibt, dass er nicht mehr auf die Fenstersimse klettert. Die Vernunft darf sich nicht selbst aus dem Fenster stürzen.

Dem jungen Syrer, der sich im Gefängnis erhängt hat, hat man nicht helfen wollen. Sein Freitod wurde zum Justizskandal, weil man aus dem mutmasslichen Opferattentäter Informationen über eine mutmassliche Kommandostruktur der feindlichen Glaubenskrieger herausarbeiten wollte.  Jabr hatte Aceton und Wasserstoffperoxid in seine Unterkunft geschafft; aus diesen Zustanden lässt sich Sprengstoff mischen. Als er Heisskleber kaufen wollte, wie ihn Kindergärtnerinnenn verwenden, schlug die Polizei Alarm – der Kleber erlaubt das Basteln einer Sprengstoffweste. Doch Jabr rennt zwischen den schwer bewaffneten und noch schwerer gepanzerten Polizisten hindurch und entwischt in seinem schlurfenden Gang. Er wird zur Fahndung ausgeschrieben. Dank Facebook findet Jabr Unterschlupf in einer WG von Landsleuten in der Nachbarstadt. Die rasieren ihm dort auf Wunsch die Kopfhaare. Dank Facebook erfahren die Kumpels, dass ihr Gast von der Polizei gesucht wird. Seelenruhig bleiben sie und fesseln ihn nach dem Einschlafen. Die Polizei nimmt das trojanische Geschenk des Integrationsbeweises durch unentgeltlichen Einsatz für den Rechtsstaat und die hiesige Obrigkeit gerne an. Am Montag Nachmittag sitzt Jabr im Untersuchungsgefängnis. Suizidgefahrstufe hoch; viertelstündige Kontrollbesuche rund um die Uhr. Am Dienstag wird er durch eine Psychologin begutachtet, die ihn als ruhig und zurückhaltend wahrnimmt und die Selbstgefährdungsprävention auf dreissigminütige Intervalle zurückfährt, ab Mittwoch, neun Uhr vormittags. Eine Viertelstunde später beschleicht die Gefängniswärterin eine Ahnung, kehrt zu Jabr zurück, der sich mit seinem T-Shirt, dem Oberteil des Gefängnis-Anzuges, an der Gitterwand erhängt hat, vor wenigen Augenblicken, der Blick jetzt verdreht und erstarrt.

Die Mutmassungen bleiben verloren zurück, wie die Erinnerung an die in Streifen gerissenen T-Shirts der Schweizer Fussballnati. Wir hätten vielleicht eine Verbindung zu einem Funktionsträger des Islamischen Staates herstellen können. Der Bundesinnenminister schreit nach vollständiger Aufklärung, obwohl nichts unklar bleibt. Ja, Jabr hat im Gefängnis ausser Wasser nichts zu sich genommen, sei das aus suizidaler Neigung, als politschem Hungerstreik oder wegen dem ungeniessbaren Frass. Riesige politische Opportunitätskosten! Die Staatsräson muss das implizite Recht auf Freitod wirksam einschränken können. Wo kämen wir hin, wenn sich alle Gefangenen einfach feige in den Freitod verabschieden würden, mutwillig entschwinden könnten? Nicht, dass da Rache- und Sühnegedanken mitschwingen würden, nein, hier geht es um das Prinzip, unsere Form der säkularen Staatlichkeit.

Nach seinem subjektiven Empfinden habe man ihn zerstören wollen, sagt Bernard Rappaz, als man ihn mit 100 und zwei Polizeibeamten dingfest macht. Ein einfacher Telefonanruf hätte genügt, und er hätte sich umgehend auf dem nächsten Polizeiposten gemeldet, lässt er uns wissen. Bernard trat in den Hungerstreik. Die gleichaltrige Sicherheitsdirektorin legt sich mit ihm an und ordnet Zwangsernährung an, weil das medizinische Personal signalisierte, nach ihrem Berufsethos würden sie ebendies unterlassen, wenn es ihnen nicht verordnet wird. Bernard feiert zwei Mal einen Erfolg und wird zweimal entlassen und vorübergehend bei sich zu Hause unter Arrest gestellt, wo er sein Essen wieder geniesst. Nach der dritten Inhaftierung zieht er einen 120-tägigen Hungerstreik durch. Esther besucht den Hungerkünstler wieder im Spitalgefängnis, das Bundesgericht hatte ihren Zwangsernährungsbeschluss inzwischen sanktioniert und Bernard nimmt lebenswichtige Zusatzstoffe zum obligaten Hungerstreikleitungswasser. Und beendet seine Vorführung an Weihnachten, wie ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geraten habe. Sterben wollte er nie.

Der mutmassliche Selbsttötungsversuch eines fanatischen Politkiffers entpuppt sich als mutwillige Renitenz gegen die moderne Obrigkeit, den Rechtsstaat. Mutwille im Sinne von Vorsatz, Absicht, wirkt in unserem Rechtsverständnis strafverschärfend. Natürlich nur bei Missetaten. Wer den Mut seines Willens dafür einsetzt, ein hehres Ziel zu erreichen, dem wird Glück beschert. Mutwillig ist einer, der sich nach keinem anderen Willen richtet, als nach dem seiner inneren Sinne und Stimme. Der Mutwillige beschränkt also sein inneres Kraftgefühl in keiner Weise. Er lässt seinem Willen die Zügel schiessen. Der Mutwille ist der Helden- wie der Schandtat inne. Mutmasslich.