Das Opferlamm

Darüber huscht die Schwebebahn berührungslos dahin. Ein leises Säuseln in der bewegten Luft. Fahrgästen und äusseren Beobachtern ist der Blickkontakt durch das Magnetfeld versagt. Die Kraftwirkung der gleichgerichteten Leptonen ist so stark, dass ein fingerdicker Bergkristall im Fussboden verschwindet, wenn er seinen Hautkontakt verliert und fällt. Die Aktentaschen lassen sich an die Waggondecke klicken, wenn sie über die vom Bahnbetreiber gratis an die Abonnenten abgegebene Vorrichtung verfügen, und werden so zum persönlichen Haltegriff in der unmöblierten Offenraumklasse. Per Knopfdruck lassen sich die Mappen und Köfferchen lautlos vom Shuttlehimmel lösen und ihre Tragkraft bleibt wellig zurück. Digitale Datenträger werden nicht beeinträchtigt durch den elektromagnetischen Zauber, aber Nahrungsmittel werden während der Reise sterilisiert und konserviert. Wer über ein Implantat neuerer Generation verfügt, dem wird die Batterie des Herzschrittmachers durch die Pendlerfahrt nachhaltig aufgeladen, lebenslänglich, garantiert auch bei tiefer Reisefrequenz. Gerüchte über Todesfälle durch Herzversagen in diesem Zusammenhang haben sich als unwahr erwiesen; alle Opfer trugen veraltete Herztakter in sich oder waren völlig auf ihr eingeborenes System angewiesen. Inkompatibilität dieser Bahntechnik mit der hergebrachten Humankonstitution tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von lediglich 0,3 Tausendstel Promille auf. Das sind gerade mal drei bekannte Fälle. Eine junge Frau erlitt eine Spontangeburt, als der Zug beschleunigte, obwohl sie nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, ja, nicht einmal wissen konnte! Berichtet wird auch von einem Liebespaar, das über die ganze Fahrstrecke epileptisch ineinander verkopuliert war und erst mit einer Taserfräse getrennt werden konnte, als die Zugskomposition zum Stillstand kam. Und da ist jener Mönch, der seine Reise zum Sterbehospiz nicht überlebte.

Darunter steht Onkel Saddhu und schneidet dünne Scheiben von seinem Lammspiess, quer zur Faser. Wenn er mit der Klinge durch die Kruste fährt und das Innere seine flüchtigen Inhaltsstoffe freigibt, Pheromone des göttlichen Glücks, strahlen seine Augen und sein Blick hebt nach oben. Seine fahrbare Grillküche steht seit einer Woche unter dem Viadukt und die Wohlgerüche ziehen abends die Flaneure an. Alle wollen kosten. Wer sich das Fleisch nicht leisten will, das ohne Besteck auf den rechten Handteller gereicht wird, erhält seinen Reis umsonst. Der Onkel hat seinen Spass daran, wenn die vom Geruch verführten Passanten mit ihrem Happen Opferlamm verdutzt und ratlos dastehen, wenn sie zur Gelbbörse greifen wollen und nach sorgfältigem Fummeln hinter dem Rücken dann das Glücksgefühl empfinden, zum ersten Mal in ihrem Leben mit der linken Hand im richtigen Moment ein Kunststück hergezaubert zu haben, und dem Onkel gleich das gesamte Portmonnaie samt Portfeuille hinstrecken. Dann legt der den vereinbarten Betrag sorgfältig vor den Käufer, dem der erste Bissen ziemlich gross geraten ist, und fragt, ob er noch etwas dazulegen solle, für den dadurch möglichen Kauf von neuem Opferlamm. Der Käufer ist erwischt bei einem zwar verständlichen, aber doch unziemenden Anflug von Gier, schluckt den ungekauten Brocken und holt erst Luft, nachdem er „Nämed-si-di-gröscht-Note“ herausgespuckt hat. Ein Moment von wechselströmender Vernunfthaftigkeit liegt in ihrem Blick, wird aber gleich wieder überflutet von der Kraft der Konästesie, die es leider offiziell nicht mehr gibt, aber die in jedem Moment und Augenblick schlummert, wie eben das Glück darauf wartet, als solches in Ruhe gelassen zu werden. Mit den Besuchern plaudert Saddhu dann über Abraham, der Anstoss war zur Tradition dieses Opferfestes, obwohl er gewillt war, seinen Sohn zu braten, um die Nase seines Gottes, des Einen, zu verwöhnen und sein nichtiges Ich selbst zu nichtigen. Gott musste einen Engel vorbeischicken, damit der aramäische Abrahom, der Vater vieler Völker, keine Dummheit machte. Er hat die Schandtat nicht begangen, aber die Dummheit war in die Familie geraten. Die Nachfahren von Isaak behaupten, ihr Vorfahre sei auf den Rost gebunden worden, diejenigen von Ismael beharren darauf, dass es der Ahne ihres Mohammed betroffen hätte. Alle wollen wegen dem Engel dasein. Bringen wir noch die Mütter, die Herrin Sara und die Magd Hagar ins Spiel, so wird die Geschichte so schön verwirrlich, dass man guten Grund hat, das Opferfest zu feiern, so wie jeder Feiertag ein Grund ist, den Tag zu feiern und jeder Tag das Zunderzeugs hat zu einem Feiertag.

Seine Frau, die Tante, liegt oben in der Nähe seines Vaters, hinter vorgehängten Laken, ihre Schwestern um sich, auch ihre Mutter, die berufene Hebamme, in Händen ein kristallenes Fläschchen mit Wunderbaums Rizinusöl. Mitten im Mitternachts-Glockengeläut reisst die Fruchtblase und die Frauenblicke treffen sich schirmhaft über der hoffnungsprallen Wölbung. Oxytocin überschwemmt die Empfindungen der umfassenden Gemeinschaft; sie fasst die Hände ihrer Schwestern und spitzt den Muttermund zum Kusse. Es soll ein Junge werden; Isaak („Gott hat gescherzt“). Im gegenüberliegenden Wohnhaus haben sich Partygemeinschaften eingemietet. Die Zimmerwände im Erdgeschoss mit Bildern bespielt, Schriftzügen und Symbolen, angestrahlt von bewegtem Licht in sirrenden Frequenzen, die Fenster stehen weit offen und trichtern die Bässe und Beats auf die Strasse. Über die Fensterbankgesimse beugen sich Köpfe, um die andere Hälfte nicht zu verlieren. Flaschen klatschen, zugeschäumt der Brandherd kühlt. Die Leiber flanschen, flutschen feucht und aufgewühlt. Die Zusammenhänge zerhackt zu stroboskopischen Hautfetzen. Die dunkle Luft zieht sich zusammen und plötzlich steigt aus dem oberen Fenster eine faustgrosse Feuerkugel, sinkt langsam zu Boden und zerstiebt als funkensprühender Derwisch. Vater hat die Augen geschlossen, er öffnet sie kaum noch. Die ersten drei Tage hat er ruhig mit gekreuzten Beinen dagesessen, auf seiner Bettstatt, die Wärme der Öllichter in seinem Lächeln, die Seele sein Schwerpunkt. Stumme Besucher suchen die Nähe zu seiner Ruhe und betrachten die betenden Hände. Saddhu stellt ihm jeden Abend ein frisches Glas Wasser zur Seite, das er nie angerührt hat. Der Geruch des gebratenen Schafes markiert im Hirn die vegetative Ewigkeit, des Schlafes Bruder. Saddhu hebt die Schultern und die Brauen vor den fragenden Augen, um dann zu lachen und erkennen zu geben, dass seine Gesichtszüge nun denen seines Vaters ähnlich geworden sind. Das Lächeln der Ahnen mischt sich in den Duft des Opferlammes, umwogt das Geheimnis der Liebe. Die Schwebebahn hat sich lautlos hingesetzt. Über die Laken blinzelt die Geburt.

Daheimimschlossgarten

Schnarren. Ein kreisender Milan. Leere Nester in den Rosetten der Turmspitzen. Die Sonnenseite des tausendgliedrigen Lebensbaumes flirrt. Rotgoldene Blütenpokale laden die schwankenden Falter zum Trunke. Schattige Mooskissen, trockengehärtete Nadelhecken und sirrende Blätterkronen grünen sich. Horizontale Giebelstufen ducken sich vor dem strahlenden Himmelswegweiser unter dem gewölkten Blass. Fensterkreuze strecken ihre verdorrten Arme von sich. Die fahlen Teichfische dicken nach. Sanft sieht die Tulpenmagnolie in den vor Algen blinden Wasserspiegel. Die randständige Eiche knorrt auf die Wiese als möchte sie ein biegsamer Grashalm sein, der vom Sturm sich streicheln lässt. Nur der Farn bleibt ritterlich und sittsam ruhig, im Schatten des Schlosses.

In roten Hosen brannten die Franzosen alles nieder, weil da kein Wein mehr war in der Vogtei. Am Flussufer unten war das Volk geblendet vom lichterloh brennenden Dachstock und die Frauen senkten den Blick, als die fuchtelnde Feuergestalt aus dem obersten Fenster stürzte, wie weiland in Konstanz und Prag, Verbrennung und Fenstersturz in einem. Die Bauern hielten diesen unseligen Vorfall für ihre Befreiung aus der Knechtschaft, doch in Wahrheit schwebt der Geist der Schlossherrin für immer über dem Park und holt sich nachts in den Träumen der Anreiner das, was diese nie hergeben wollen: Ihre Unschuld. Der Schlossgeist ist Missionsbraut und feiert in den Männerschädeln gottgewollte Hochzeit.

Unterhalb des magischen Quadrates aus dickstämmigen Platanen, beschattet von einer elefantenfüssigen, hier eingeborenen Blutbuche, döst der hergebrachte Pavillon. Liedertakte unter der Decke, eine Fermate im Spinnengewebe als Blicküberwachung. Gläser mit Tee aus Ostindien mit arabischem Sukkar. Über dem First tanzen Rosenblätter. Züchtige Sehnsucht, am späten Nachmittg auch mal Hysterie. Verse wie „Dich, Dich habe ich gesucht“ und „Oh Glück, das Du bescherst“ flattern an der Wetterfahenstange aus flammofenfrischem Schmiedeeisen.

Hacke und Rechen geschultert stapft der Schlossgärtner am frühen Nachmittag vom Gewächshaus abwärts und bleibt unter der Blutbuche stehen. Aus der Hauptstadt brachte er selbstgepflückte Dahliensamen mit, von dieser unglaublich roten Schönheit, der auserwählten Mutterpflanze – ohne dass er um Erlaubnis fragte. Aus den Samen der Roten erwuchsen dank achtfachem Chromosensatz und der vorher Vaterpflanzen besuchenden Bienen erst Gelbe, dann sprossen Weisse. Und die Farben mischten sich im dritten Jahr wie im Pavillon die bunte Gästeschar. Da schaut er hoch zur Wetterfahne, schickt seinen Gärtnergeist zum Damengeist und steigt seelenruhig ab zur Arbeit im kühlen Grottenwäldchen. Als sich sein Stellenantritt zum neunten Mal jährte, spürte er, wie sein Vorgänger in ihm lebendig wurde. Unter dem vielstämmigen Lebensbaum wurde ihm klar, dass alle Schlossgärtner, bis auf diesen ersten, welcher den giftigen Riesen aus einer von Amerika stammenden Samenkapsel gezogen hatte, in ihm weiterlebten. Sie alle waren eins. Seither verbringt Rüegseggers Geist die Siesta mit der ewigen Herrin des Schlosses.

Gemeinsam bammeln sie über die Kräuterbeete, die warme Luft um die Brust, kitzeln hochfliegende Sommervögel. Ihre Zeremonie beginnt über dem gelben Salbei, der hiesigen Züchtung, gewidmet und benannt nach dem Paar, das vor hundert Jahren das Schloss gekauft und der Kommune geschenkt hat. Nachdem es vor nochmals hundert Jahren durch die ferne Stadt an den reichen Salzhandelskommissar und Grossrat Sulzer verkauft wurde, welcher das Angebot der politischen Ortsgemeinde mit einem saftigen Aufschlag vom Tisch gewedelt hatte. Sein Sohn Fritz liess den Pavillon bauen und die Familie trat aus der Landeskirche aus. Als die letzte der von Sulzer im Schloss starb, versammelte sich die politische Gemeinde und beriet über einen Kauf. Nach dreimal gezählter Stimmengleichheit holte der Gemeindepräsident zum Stichentscheid aus und wuchtete das Schloss vom Hügel. Als Fredi, Sohn des lokalen Schlossers, der mit seinem Vater sonntags Gottesdienste im Schloss besucht hatte und sich dann im fernen Colombo selbständig und Geld mit Dünger gemacht hat, davon hörte, kaufte er das Schoss stellte es der Gemeinde zur Verfügung. Als er dann von der Absicht erfuhr, das Bezirksgericht und einige Beamte im Schloss einzuquartieren, öffnete er seine Brieftasche erneut und bezahlte den Umbau zur Golden-Age-Residenz. Seither blüht der gelbe Baur-Salbei in Ruhe neben der roten Pfirsichsalbei und der gegenblütigen Salvia aus den Höhen von Peru. Die Geister wiegen und wogen einander und sich; die Muskatellersalbei duftet ihnen blinzelnd zu. Das Ritual findet seinen Höhepunkt in berauschendem Tanz der Pelargonien, einer Duftorgie, welche den Geist ausdehnt bis an den äussersten Rand des Nichts. Erst Muskat und Pfefferminz, dann erfrischender Rosen- und Limonenduft, im Abgang Zimt und süssharzige Noten. Man streichelt sie, dann werden wir gestreichelt, lächelt der Gärtner.