Es geschieht am 30. August!

An diesem Datum ist letztes Jahr Oliver Sacks, der die Neurologie in literarischen Kreisen salonfähig gemacht hat, gestorben, in New York City. Seither wissen wir alle, dass es mindestens einen Mann gibt, der seine Frau  mit einem Hut verwechselt. Den gleichen Todestag wählte Charles Bronson, nachdem ihn Sergio Leone endlich für einen Western engagieren konnte, für den unsterblichen Streifen „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die evangelische Kirche feiert an diesem Tag den reformatorischen Maler Matthias Grünewald. Warren Buffett, der Finanzweltrekordler, feiert Geburtstag. Genau hundert Jahre früher kam im südfranzösischen Beaucaire ein Knabe, getauft auf den Namen François-Marie-Anatole auf diese unsere Welt, der später Bischof von Montpellier und päpstlicher Kardinal wurde, und darum kaum mehr Zeit zum Boulespiel fand. Am 30. August brach ein Stück des Allalingletschers los und verschüttete alle 88 Bauarbeiter, welche die Staumauer des Mattmarksees errichteten – Vater hat uns Fotos davon gezeigt, Militär wurde aufgeboten. Der französische Passagierdampfer Natal rammt vor Marseille einen Tanker und versinkt innert weniger Minuten – die Scheinwerfer waren aus, weil Weltkrieg war. Am selben Tag, ein Jahr später, schoss Fanny Kaplan zwei Kugeln auf Lenin ab, weil sie ihn für einen selbstherrlichen Verräter der Revolution hielt. Fanny traf die Schulter und den Hals. Erst 1922 wurde die Kugel in Lenins Hals operativ entfernt, nachdem ein deutscher Arzt urteilte, Lenins Kopfschmerzen seien vom Blei verursacht, das das Gehirn vergifte. Die roten Telefone in Washington und Moskau wurden 1963 an diesem schicksalstriefenden Spätsommertag installiert, nachdem die Kubakrise alle sprachlos machte. 1978 landete ein polnisches Verkehrsflugzeug auf dem West-Berliner Flughafen Tempelhof statt im realsozialistischen Schönefeld, weil eine Paar aus der DDR eine Spielzeugpistole gezückt hatte. Die britische Band Oasis veröffentlicht ihr Debüt-Album Definitely maybe, das war am 30. August 1994. Der 30. August wird auch als internationaler Tag der Verschwundenen, unter dem Patronat des Genfer IKRK, begangen.

An diesem Kalendertag ist auch die süsse blonde Nola verschwunden, noch keine sechzehn Jahre alt. Für immer. Adieu, allerliebste Nola. Diese Worte stehen auf einem Manuskript, das 33 Jahre nach ihrem Verschwinden zusammen mit den Überresten der Leiche des verschwundenen Mädchens gefunden wird. Ausgerechnet im Garten von Harry, dem berühmten Schriftsteller, der sich, damals 33 Jahre alt, unsterblich in das Mädchen verliebte. Er kann Lola nicht loslassen und belehrt seinen Schüler Markus, dass es im Leben eines Schriftstellers darum geht, sich fallen lassen zu können. Es geht um Lola, nicht um Lolita, auch wenn Nabakow auf dem Altar des Genfer Jung-Autors Joël Dicker steht. Nabakow wurde Ende fünfzig mit der Erotikgeschichte berühmt und berüchtigt, so dass er später noch ein Meisterwerk, Fahles Feuer, nachschieben konnte. Harry hingegen wird durch den Fund der ermordeten Nola erledigt, obwohl er sich die körperlichen Anteile seiner Liebe für später aufgehoben hatte. Lola ihrerseits ist ins Büro des Polizeipräsidenten gegangen, hat die Tür hinter sich geschlossen, ist unter den Tisch gekrochen, hat den Reissverschluss der präsidialen Hose geöffnet und dem Ordnungsmann eine höllisch himmlische Fellatio beschert, nur um ihn danach darauf hinzuweisen, dass er nun ein Verbrecher sei (sie habe sich vor diesen Worten den Mund abgewischt, das mit dem Spucken steht nirgends im Buch). Natürlich nur, um ihren geliebten Harry vor den Machtspielen der Polizei zu bewahren. Harry kann die Wahrheit nicht aussprechen, weil er das gefundene Manuskript als sein eigenes Buch herausgibt – der halbfiktive Briefwechsel zwischen Nola und einem durch eine Schlägerbande verunstalteten Maler Caleb, der die Briefe von Nola abfängt und an Harrys Stelle schreibt und dessen Liebesgeschichte mitspielt. Das Schicksal setzt sich am Schluss immer durch, meint Harry auf Seite 716. Ziemlich vertrackt, die ganze Geschichte von Joël Dicker, der Jura studiert hat, weil er in Mathe und Schreiben schwach war. Sein Stil ist eine mathematische Schreibe, da ist alles genau kalkuliert, geht flüssig auf, geht rasant in die Breite.

Fiktionalisierung und Realisierung halten sich in Schwebe. Das Unmögliche, Undenkbare wird dank empirischen Tatsachen und Beweismitteln real; das Objektive und die Wirklichkeit werden zur Fiktion, weil die subjektive Sicht die Dinge verändert und zu neuer Wirklichkeit treibt. Dann übertreibt die Wirklichkeit und die Simpsons mischen sich unter die Gäste. Selbst ein psychiatrisches Gutachten, das für die seit 33 Jahren tote Lola nachträglich eingeholt wird, fehlt nicht, nachdem sich in deren Kindheit ein evangeliakanischer Teufelsaustreiber vergeblich mit dem besonderen Kind abgemüht hat (Schläge auf den Körper und Kopf unter – geweihtes? – Wasser halten. Die neunjährige immerfröhliche Blondine hatte  das Schlafzimmer der strenggläubigen Mutter und gestrengen Hausherrin in Brand gesteckt und auf dem Balkon gesungen, während Mama verbrannte, was den Pastorpapa etwas verunsicherte und Hilfe beim befreundeten Pfingstgemeindechef nachsuchen liess). Nola hätte nach dem unglücklichen Brandopfer an schizophrenen Schüben gelitten, vermutete das Gutachten, nämlich immer dann, wenn sie sich selber und die Rolle ihrer Mutter abwechselnd personifizierte und dialogisierte, währenddem sie sich selber mit einem Eisenlineal auf alle erreichbaren Stellen schlug und mit sich selbst am Haarschopf Guantanamo spielte. Kein Wunder, hat sich der Schriftsteller-Star Harry in die Kleine verknallt. Welch sonderbare weibliche Ausstrahlung muss das blonde Wesen besessen haben: Mutter und Tochter in einem! Würde man einen Psychologen über die Figur Harry befragen, würde der Sätze mit den Signalmarkern erfolgsorientiert und auch einsam aus seiner empirischen Werkzeugkiste klauben und stolz Schriftstellphänomen nachschieben. Ein erfolgsverwöhnter Schönling, der immer Angst hat, als Bluffer enttarnt zu werden und hervorragend im Roman mitspielt. Wie auch der Ich-Erzähler, der Schüler von Harry. Und Boxpartner. Und gegenseitig einziger Freund. Beziehungskisten wie Comix-Boxen. Der treue Schüler Markus befolgt Harrys 31 schriftstellerische Lehrsätze und schreibt im Roman an dem Roman, den man in Händen hat. Alles ist möglich. Daran hat Joël Dicker geglaubt, als er diesen Roman schrieb, in dem es eigentlich nur um den Erfolgsroman und das Schreiben geht, der Rest ist ein rasend vergnüglicher Krimi. Und dem Autor Joël Dicker widerfährt, was Markus widerfährt, nachdem es Harry widerfahren ist: Der Erfolgsroman. Gut drei Millionen Leser haben das Buch gekauft. Literarische Bundesliga. Markus‘ Verleger plädiert in der Geschichte dafür, Schriftsteller mit Erfolgsaussichten mit einem Vorschuss wie einem Fussballer-Top-Salär zu bezahlen – so komme man frühzeitig in die Schlagzeilen und daher sei das eine rentable PR- und Werbeinvestition, die sich schnell auszahlt. Alles ist möglich. Nur eines scheint sehr schwer möglich zu sein: Das graphologische Gutachten einzuholen, das Harrys Untersuchungshaft beenden und die Anklageerhebung verhindern könnte. Das ist der einzige Moment im Plot, wo die Protagonisten nicht das Heft in die Hand nehmen und die ganze Geschichte kraftvoll vorantreiben. Sie warten tagelang, ohne einmal nachzufragen oder nachzusehen, wie sie das ununterbrochen machen. Nach ein paar hundert Seiten entlastet das Gutachten Harry und belastete den Maler und Schriftstellerneuling Caleb, der seinen Liebesbriefwechsel mit Lola kopierte und Harry überreichte mit der Frage, ob das Literatur sei?. Aber der Mörder ist der Fellatio-traumatisierte Polizeichef vom Provinznest, wie es eben in Amerika so ist. Marcus, der Harry-Schüler und Ich-Erzähler verabschiedet sich im letzten Satz des Romans: Ich mache mich auf die Suche nach der Liebe.