Die in liberaler Tradition stehenden Zürcher haben sich immer etwas geärgert, dass Pater Alberik Zwyssig in der Innerschweiz mit diversen Monumenten als Schöpfer der Schweizer Nationalhymne gefeiert wurde. Zwyssig hatte ja nur seine 1835 im Kloster Wettingen komponierte Messe „Diligam te Domine“ (www.schweizerpsalm.ch/Hoerbeispiele/Diligam%20te%20Domine.mp3) etwas zurechtgestutzt, um die Hymne zu vertonen. Der lateinische Text passt much better. An der Ecke Eugen-Huber-/Rautistrasse in Altstetten wird Zwyssig entsprechend bescheiden gefeiert. Im fin de siècle wurde dann der fortschrittsgeistige Dichter Leonhard Widmer als Urheber lanciert. Das Schweizerpsalm-Denkmal, das seit 1910 auf dem Zürichhorn steht, wurde dann aber dank stadträtlicher Konkordanz sowohl dem Textautor als auch dem Komponisten geweiht. Das etwas martialisch geratene Jugendstil-Monument erhielt vom Volksmund die Bezeichnung „Rakete“. Nach dem letzten grossen Krieg erhielt der Lyriker Widmer neben dem Meilemer Bahnhof, auf dem Grundstück seines Geburtshauses, ein eigenes Denkmal: Vorerst kniete die Knabenfigur neben dem Geleise und hält Ausschau nach dem geröteten Alpenfirn, später steht sie, weil ihr der neue Bahnhof die Sicht in die Alpen versperrte. Der Doppelspurausbau überrollte dann die standfeste Figur, so dass sie die Politiker ans Seeufer zügelten. Die Bahnkunden werden nun mit einem Gedenkstein neben den Parkplätzen abgespiesen. Seither fahre ich alljährlich am Nationalfeiertag zu diesem kurzbehosten und lang vogelbekackten Jüngling zum pique-nique patriotique am Gestade. Am Buss- und Bettag, der 1832 durch die Tagsatzung proklamiert wurde und dessen christlich-nationalen Rituale damals die politischen Kantonalbehörden zu vollziehen hatten, besuche ich das Eidg. Boule- und Pétanque auf dem Zürcher Lindenhof.
Die konservativ-liberale Kooperation von Zwyssig und Widmer ist eine historische Unregelmässigkeit in der Regenerationszeit, in der sich die beiden Parteien nichts schenkten. Zwyssig, mit 13 Jahren aus dem Uri in die Klosterschule Wettingen versenkt, musste 1841 aus den Klostermauern zurück in die Innerschweiz flüchten, weil Widmers Gessinnungsgenossen im Aargauer Grossrat gerade beschlossen hatten, sämtliche Kloster unter staatliche Verwaltung zu stellen (hier zweigt die Geschichte der Monstranz aus dem Kloster Muri in der Aussersihler Mutterkirche ab!). Der Aargauer Oberst Frey-Herosé, späterer Generalstabschef im Sonderbundskrieg und Mitglied des ersten Bundesrates (ja, mit Schneider-Ammann verbindet ihn der eheliche Doppelname, den sich Fritz zugelegt hatte, um unverwechselbar zu werden – noch später wurde daraus wider ein Kurzname: Chocolat Frey), verlangte den Schlüssel zu den Kirchenschätzen und verjagte die Mönche reussaufwärts. Der eher geschäftliche Kontakt der beiden Musikliebhaber Widmer und Zwyssig – Widmer betrieb eine Lithographie und gab Notenblätter heraus – brach für ein gutes Jahr ab. Zu dieser Zeit schrieb Widmer den originalen Schweizerpsalm. 1833 war Widmer wegen einer Stelle als Schönschreiblehrer, die er dann doch nicht erhielt, zum zweiten Mal in die Limmatstadt gezogen, als Kostgänger der Witwe Huber am Stüssihof, deren Tochter Louise hervorragend kochte und seine Frau wurde. Eines Tages erhält Zwyssig Post, die von wackeren Männern überbracht wurde: Den Schweizerpsalm von Widmer, mit der Bitte um Vertonung. Zwyssig liest den Brief ein zweites Mal, schaut auf den Zugersee und denkt an sein „Diligam te Domine“. Über die editorischen Verhandlungen der beiden ist leider nichts bekannt; auf jeden Fall gelangte die gemeinsame Version unabhängig voneinander im September 1841 in Zug und Zürich erstmals zur Aufführung. Am eidgenössischen Sängerfest in Zürich, keine zwei Jahre später – und gleichzeitig mit der Herausgabe der ersten kontinentaleuropäischen Briefmarke durch den Staate Zürich -, wurde am 26. Juni das Lied in der ersten Abteilung des Hauptprogrammes durch den gastgebenden Gesangsverein Harmonie aufgeführt. Begeisterungsstürme. Schüsse in die Luft.
Das Blatt mit der „Hymne für unsere Erde“ (©1989), aus dem Romanischen vom Autor Flurin Spescha selbst hilfsübersetzt (das ist sein Wort), ist handschriftlich mit der Widmung „Per Gieri“ versehen. Die metaphorische Abfolge der Strophen entspricht fast Widmers Werk: Morgenrot (das sich in Widmers Urversion auf Gott reimt!), Sternenhimmel, Meer (bei Widmer lediglich: Nebel), Sturm. Flurin drückte mir die One-world-Version („Meine Seele weiss, dies ist unsere einzige Welt“) in die Hand, nachdem ich am Vortag von Widmer erzählt hatte. Flurin hat 1993 mit „Fieu e Flomma“ (Feuer und Flamme) den allerersten Roman in Romantsch Grischun geschrieben. Als ich eine neue berufliche Position übernahm, blieb er bei Mägi im Hinterzimmer des stadtpräsidialen Vorzimmers. Er heiratete und starb kurz darauf. Sein Grabmal im Sihlfeld D – von Heinz Häberli – ist ein durchsichtiger, filigraner und doch stürmischer Kubus aus ehernen Buchstaben, das Original seiner Welt-Hymne liegt unbeachtet in seinem Nachlass. Anderen Gegenentwürfen zum Schweizerpsalm erging es nicht besser. Nachdem der Bundesrat 1961 – erstmals überhaupt, vorher hatten die Kantone die Kompetenz, irgendeine Landeshymne zu singen (beliebt war „Rufst Du mein Vaterland“ von Hansrüedu Wyss, der ein Jahr später mit seinem Vater, dem gleichnamigen Münsterpfarrer zu Bern, den „Schweizer Robinson“ schrieb und damit das Original von Defoe in der europäischen Hitparade hinter sich liess. Wyss hatte sein Lied zur Melodie „God save the queen“ getextet, was gemäss Pro Helvetia an internationalen Treffen für Verwirrung sorgte) – den Schweizerpsalm für die Armee und diplomatische Vertretungen provisorisch zur Nationalhymne erklärte, ging gleich das Hickhack über das veraltete Lied los. Zwanzig Jahre nach dem ersten Bundesratsenscheid zur Landeshymne folgte der zweite BRB: Die Landeshymne ist definitiv geregelt, lasst die Sache auf sich beruhen. Denkste! Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, älter als der helvetische Bundesstaat, machte sich 1859 mit dem Kauf der Rütliwiese, welche sie der Eidgenossenschaft schenkte, einen Namen. Die 1- August-Feierlichkeiten auf dem Rütli sind noch heute Sache der SGG, vor wenigen Jahren hielt mein Doktorvater von Matt die Festrede. Derweil stellt der Vorstand der Gemeinnützigen fest, der Text der Nationalhymne entspreche nicht mehr der Realität, weil neben der Frömmigkeit keine anderen Werte erwähnt würden. Lanciert einen Wettbewerb: Die bekannte Melodie soll beibehalten werden, ein neuer Text sich inhaltlich an der Präambel der neuen Bundesverfassung von 1999 orientieren. Denkste! Der mit einem online-voting gekürte Siegerbeitrag von Werner Widmer, Gesundheitsökonom vom Zollikerberg, vermeidet das Wort Gott, weil sich in unserem Land über ein Viertel der Bevölkerung „zu keinem religiösen Glauben bekennt“. Die Bundesverfassung aber beginnt mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“
Nun, Kindergarten und Primarschule Nuolen (ein St. Galler Dörfchen Nähe Amriswil) werden den neuen und kindergerechten Kehrreim singen: „Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund…, singen alle wie aus einem Mund“ – obwohl das Kompetenzzentrum zu Fragen rund um den Schweizerpsalm den Lehrkräften hervorragende Arbeitsblätter zu Verfügung stellt. Die freisinnige Lilo Lätzsch vom Zürcher Lehrerverein empört sich, dass es im Glarnerland Schulleiter geben soll, die in ihren Schulhäusern die neue Hymne nicht gesungen haben wollen. Chris von Rohr hingegen bezichtigt die Kritiker der herkömmlichen Hymne hochnäsiger Arroganz und kultureller Verblendung. Differenzierter argumentiert das reformierte Kirchenblatt und stellt fest, das der alte Text auch auch für Nichtchristen akzeptabel sei und durchaus auch von „grossmütigen Atheisten“ gesungen werden könne. Der Schweizerpsalm ist das einzige Lied, das zu lernen sich wirklich lohnt“, sagt der studierte Grundschullehrer Ludovic Magnin, „das habe ich mir schon in der Schule gut überlegt – für den Fall, dass ich einmal in der Fussball-Nati spiele“. Nur Streller hat noch schöner gesungen. Seit die beiden weg sind, verziehen die Tschütteler kaum mehr eine Miene, wenn der Schweizerpsalm im Stadion daherscheppert und die Fans den Refrain grölen. Gott sei Dank haben wir jetzt ein Frauen-Nati, die das Liedchen mit geschwollener Brust und voll Inbrunst singt.