Vorbei an an den letzten innerstädtischen Beton-Baracken, vorbei am Riesenloch des Justizzentrums, in dem 1600 Besoldete und 350 Gefangene verschwinden werden, auf die längste Eisenbahnbrücke über die Schienenstränge des Letzigrabens. Bebrilltes Karohemd liest Thilo Sarrazin auf dem E-Reader. Die Fettfalten der jungen Frau im Träger-Shirt überquellen fremd und mutig. Frischbärtiger Rammstein klammert sein Zellenphon. Mit grünem Marker arbeitet sich die Lehrerin durch die „Inklusion von innen“ und droht mit sonderpädagogischer Geiselhaft. Im Zugfenster erscheint meine Terrasse.
Ausgerechnet während dem vielleicht wichtigsten Fussballspiel der Schweiz findet die Generalversammlung der Genossenschaft pro Litteris statt (die Urheberrechtsgesellschaft, die auch von der Zürcher Bildungsdirektion Gebühren einzieht, für Kopierautomaten, das Computernetz, den Pressespiegel, Leerdatenträger). Warnleuchte. Ausrechnen konnte dies niemand, denn die Daten der Europäischen Meisterschaft waren in der Planung des Vorstandes und der Geschäftsleitung kein Thema. Die Koinzidenz der Ereignisse und damit der logische Ausschluss, beiden Ereignissen beizuwohnen, harrte der kreativen Verwirklichung, die sich unweigerlich und grundlos einstellen würde. Ein wahres „Entweder – Oder“, wie der Titel des ersten Werkes von Sørensen Kierkegaard, in dem er die Liebe und die Ehe unter ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten analysiert und in einer dialogischen Geschichte integriert. Der Band enthält die Ich-Erzählung von Johannes, ein dänischer Don Giovanni, der die Angebetete ehelicht und dann dazu bringt, die Scheidung zu wollen, weil aus ästhetischen Gründen die reine Liebe ohne Ehe ist. Darauf folgt die briefliche Argumentation des ethischen Ehemannes Wilhelm, der gegenüber Johannes ästhetische Argumente für die Ehe ausbreitet. Kierkegaard gab das Werk als Viktor Eremitus (der siegreiche Einsiedler, der glückliche Single) heraus. Viktor hat die unterschiedlichen Teile des Buches in einem gekauften Möbel gefunden, wie er im Vorwort verrät. Johannes gibt seinerseits an, das entscheidende „Tagebuch eines Verführers“ nicht selbst verfasst zu haben. Im Nachwort äussert Viktor seine Vermutung, dass Johannes dessen Autor sei. Eine Interpretation des Buches ist schwierig, weil eine Wertung der widersprüchlichen Positionen durch den Autor fehlt. Zwei Jahre vor der Publikation seines Textes hat Kierkegaard die Verlobung mit der vierzehnjährigen Regine Olsen aufgelöst, weil er zum Schluss gekommen war, dass es nicht in seiner Macht stünde, sie glücklich zu machen. Der dänische Originaltitel lautet „Enten – Eller“. Im Fussball gibt es die Ethik-Kommission, in der Pro Litteris die Kunstkommission.
Damit die Kreativität zu ihrem Recht kommt – so ein Slogan der Pro Litteris, der grössten der fünf Urhheberrechtsgesellschaften – braucht es natürlich Juristen. Präsident und der fast neue Direktor sind solche. Wir haben es hier mit dem eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum zu tun, die Pro Litteris beaufsichtigt und vorschlägt, mehr zu kontrollieren und neu die Kosten für die vermehrte Kontrolltätigkeit direkt Pro Litteris zu belasten. Die Vizedirektorin hat 28 Bundesordner zur Prüfung eingereicht. Genau, auch dieser Text besagt nichts und genügt sich selbst, weil er über sich hinausweist. Der Bieler Stapi – natürli Sozi – erläuterte der Versammlung, dass See, Flüsse und Kanäle dem örtlichen Leben Ruhe und Qualität bescheren. Den Brexit wollte er der TV-Arena überlassen, stolperte aber über die Europäische Juni Juni Junion wie seinerzeit das Appenzeller Mostbröckli über das Pü Pü Pündnerfleisch. Dann wurden die verstorbenen Genossenschaftsmitglieder benannt, Arno Grün, Werner Morlang (die Wiederkunft von Robert Walser und Gerhard Meier!), Dante Andrea Franzetti, dann machte ich weitere 25 Striche. Alle erhoben sich. Ich blieb sitzen, aus Respekt vor religiösen Ritualen und weil ich ja vorgealterte Beine haben könnte, und schätzte die Zeitdauer, wie ich das in der Schule als Übung zur Verbesserung meiner inneren Sicherheit und Sebstkompetenz praktiziert hatte. Die Nachspielzeit der Dichter dauerte eine lange Schweigeminute, in der die Blicke gesenkt blieben. Es war den Teilnehmern nicht anzusehen, ob sie vor dem eigenen oder einem fremden Grab standen. Der juristische Kopf der Schweizer Urheber führt Musterprozesse zur Klärung von Urheberrechtsfragen, das gehört zum Kerngeschäft. Es braucht auch EU-Rechtsspezialisten, denn in Belgien ist auf Grund der europäischen Regelung der dortigen Schwestergesellschaft verboten worden, Urheberrechtsentschädigungen an die Verlage auszuschütten, was dem Pro Litteris-Präsident Men Haupt (welch wegweisender Name, der stammt aus der Verlegerfamilie Paul Haupt in Bern) zuwider ist.
Am Bundesgericht ist ein interner Fall hängig. Ehrlich: Erich Hefti hat sich schon heftig bedient an diesen Urheberrechtsgeldern. Vielleicht muss der ehemalige Direktor etwas Kleines zurückzahlen, gegen den Willen der heute Verantwortlichen. Die aktuelle Gesetzgebung spült rund 30 Millionen in die Kasse der Pro Litteris. Allerdings bedingt das Ausgaben von fast einer Million für das Inkasso, weil nicht alle ihrer Zahlungspflicht freiwillig und rechtzeitig nachkommen. Und dann kommt die trickreiche Verteilung der Gelder an die über 10’000 Mitglieder, das verschlingt dann mehr als ein Fünftel. Um einen ebensolchen Fünftel sollen nun die Verwaltungskosten gesenkt werden, und das Ziel ist in kurzer Zeit beinahe erreicht. Die Mitgliederzeitschrift und Kunstprodukt Gazetta – der Altlinke Alexander J. Seiler und eine Studienkollegin konnten sich damit austoben – wurde eingestellt. Und die Reisekosten an die Generalversammlung, die bisher allen interessierten Mitgliedern gemäss den vollen Tarifen des öffentlichen Verkehrs vergütet wurden, gekürzt: Neu gibt es einen Gutschein, der am Bahnschalter gegen ein Bahnbillet 2. Klasse eingetauscht werden kann. Damit konnte man die Ausgaben für die An- und Rückreise auf fast einen Drittel senken, handelte sich aber ein neues Dauertraktandum der Generalversammlung ein. Den Spezial- und Einzelfällen versucht das neue Regime mit zwei Formularen Herr zu werden, welche die Übernahme von reglementarisch nicht vorgesehenen Kosten wie Autofahrten, Begleitpersonen oder Drittfahrkosten erlauben, wenn dazu eine medizinische Expertise vorliegt. Darauf entgegnete eine selbstbekennende Sehbehinderte, die vorgängig den Reise-Check als für Sehbehinderte unzumutbare Abwicklungsform der Reisespesen geisselte, dass sie auf ihre Reisespesen verzichten werde, wenn die anderen Gegner der neuen Regelung leer ausgehen würden. (Ich hatte kein Problem mit dem Check, obwohl ich ihn auf Grund der Aufschrift „Gültig für Hin- und Rückreise“ für eine Fahrkarte hielt. Den Schaffner begrüsste ich mit den Worten: „Ich habe Ihre Ausführung über den Unterschied von Check und Billet, die sie der Dame drei Abteil weiter vorne erteilt haben, bereits zur Kenntnis genommen. Ich erlag einem sprachlichen Kurzschluss, entschuldigen Sie mich bitte.“ „Gehen Sie an den Schalter in Biu“ (Schreibweise korrekt). „Ja“). Der Präsident liess alle reden und fragte nach, ob noch jemand reden wolle, obwohl er eingangs berichtet hatte, dass sich nicht wenige gemeldet hätten, die der Meinung seien, dass darüber genug geredet worden sei.
Ich versuche mich an nicht performativem Slam. Echt-Zeit-Text. Wenn Du das liest, treffen sich mein Geist und Dein Geist. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich viele Leser abgehängt habe. Ich habe mich nun dazu entschlossen, das Wetter dafür verantwortlich zu machen. Bei schönem Wetter liest man nicht, schon gar nicht über Wasserleichen. Sprache ist das Überschiessende, das künstliche im Leben, das wir selber produzieren. Das Leben selbst ist wortlos. Oder das biblische Am-Anfang-war-das-Wort ist das Leben. Oder was dazwischen, wie meist (Jetzt hat der Verfasser wieder einmal etwas viel von sich gegeben, ohne was dazuzulernen – d. Hrsg.). „Könnte das Buffet noch etwas bescheidener gestaltet werden angesichts des weltweit verbreiteten Hungerleidens?“ lautete dann die nächste Herausforderung an die Genossenschaftsführung, Die satte Beteuerung, dass die evaluierten Sparmassnahmen auch im Food-bereich bereits umgesetzt seien, stellte auch den letzten Skeptiker zufrieden und schmälerte den kollegialen Appetit nicht. Nach Rauchpause und gedrängtem Anstehen überholte ich die Warteschlange und verköstigte mich erst mal mit etwas warmer Hauptspeise. Lachs und Roast-Beef dann zum Hauptgang. Der Kulturpreis ging an den greisen Markus Werner, dessen Figuren barocke Weltverdammer sind. Werner („Das Unvermögen, alleine zu sein, heisst kommunikative Kompetenz“) vergibt den Förderpreis an Christoph Simon, Der stellt sich im unverschämt hellen Konfirmandenanzug, mit weissem Hemd und schmaler roter Krawatte, ans Pult und weint sich vor dem undurchschaubaren Alten-Publikum in grosser Bescheidenheit aus. Der Slam-Meister verschwindet rasch nach Ende der moderierten Sequenz der Generalversammlung und kurz nach mir, der ich erst mal eine rauche, zieht sich den 80er-Jahre-Schlips vom Hals und stellt sich beim Restaurant vis-à-vis vor den Bildschirm.
Das statistisch voraussehbare Drama gegen Polen erlebte ich inmitten einer riesigen Ausländerbande, die Schweizer Leibchen trugen und unter wolkenverhangenem Himmel „Sommer“ schrien. In der Altstadt – nach einem Spaziergang am See und entlang der Kanäle und Quaianlagen – überlegte ich mir, ob ich nach Biel ziehen sollte, da an bester Lage eine Dreieinhalbzimmerwohnung für Tausend zu haben ist. Für Internet-Werke kriegen die Urheber nichts, da ist man einfach noch nicht so weit. Am Bieler Literaturinstitut untersucht man verschiedene Autorinstanzen. Copy-paste geschieht nicht am gebührenpflichtigen Kopiergerät. Fliessende Grenzen zwischen literarischem Schaffen und digitalem Littering. Historische Festigkeit in der Uhrenstadt: Gusseisensitzbänke, Eisenzäune, Gitter, Gartenlauben. Über allem das Grün der Baumkronen, im Herzen die Elfenau. Der Bilderbuchknastbruder schaut wehmütig über das Kanalwasser an die eingewachsene Gefängnismauer, bekrönt mit dichten Stacheldrahtrollen. Die grosse Dornenkrone. Bildverarbeitung von Ausgangstexten: Induktive Bildung von thematischen Clustern und Kategorien, dann Neugestaltung von Mustern durch Zufall und Abstraktion. Den Text lesen und neu interpretieren. Der wahre Urheber ist der Leser. Das Wort wird wahr.