Aljoscha auf Hiddensee

Kommerziell erfolgreich war Feeling B (B steht für Berlin) zu keinem Zeitpunkt. Kopf der DDR-Punk-Band war Aljoscha Rompe, sein anarchischer Gesang und sein wildes Leben verbreiteten im realsozialistischen Untergrund den unvergleichlichen Geschmack der grossen Freiheit. Aljoscha spielte mit den Teenagern Landers und Lorenz, die später als Rammstein Metallparty feiern werden. Aljoscha spielte in den bewegten Sommern der 80er-Jahre auf unbewilligten Strandfeten auf Hiddensee. Er starb um die Jahrtausendwende in seinem Berliner Wohnwagen, an Erkältung. Dieser Aljoscha ist das Kind eines Schweizer Schauspielers, gezeugt in Zürich zum Kriegsende, und einer Deutschen, die kurz darauf mit ihrem Vater, Basler Jurist und Mitbegründer der Partei der Arbeit, in die Sowjetzone umzog und Robert Rompe als Stiefvater erwählte. Der in Petersburg geborene Physiker engagierte sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten und erlebte nach dem Einmarsch der Sowjets in Berlin eine steile Karriere als einflussreichster Wissenschaftspolitiker und ZK-Mitglied der SED. Anfang der 50er-Jahre verlor er alle politischen Ämter, weil er im Kontakt mit Noel Field gestanden hatte, wurde aber nach Stalins Tod vollständig rehabilitiert. Der Stiefsohn Aljoscha erfuhr zufällig von seinem leiblichen Vater, als aus der amtlichen Schweiz dessen Tod vermeldet wurde. Darauf machte er als 30-Jähriger sein Schweizer Bürgerrecht geltend und trug darauf zwei Pässe auf sich, was für einen Punk nur Vorteile hat. Der Stiefvater besass ein Haus in Kloster auf Hiddensee. Wenige Jahre nach dem Mauerfall wurde er auf dem Inselfriedhof begraben.

Zwei Tage nach dem Ende der Schlacht um Berlin und dem Selbstmord von Hitler und Goebbels betrat russisches Militär das Künstlerrefugium Hiddensee. In der jüngeren Steinzeit lümmelten sich Germanen auf dem idyllischen Eiland, gefolgt von Slaven, die dann im Spätmittelalter christianisiert wurden und unter die dänische Krone kamen. Der dänische König stiftete ein Zisterzienserkloster, Nikolaikamp genannt, nach dem Schutzpatron der Seefahrer. Das Dörfchen Kloster mit dem Gasthaus Klausner ist das Herz des Seepferdchens in der aussüssenden Ostsee. Die Sowjets lösten den Gutshof auf und schufen 18 Neubauernstellen, die dann später von den Einheitssozialisten wieder zu einer LPG zusammengelegt wurden. Die Insel ist einer steten Strömung aus Westen ausgesetzt, so dass die Kliffkante der Dornbusch genannten Norderhebung jedes Jahr 30 cm schwindet, dafür im Osten sandige Landzungen um ein Dutzendfaches wachsen. Die beiden Sandhaken, die ikonographisch den Kopf und die spitze Schnauze des Seepferdchens bilden, heissen der Alte und der Neue Bessin. Der Neue entstand um 1900  und stand von den sommerurlaubenden Künstlern und Freikörperkulturellen unter Beobachtung. Im Sommer kann man den Rücken des wachsenden Sandwals barfuss begehen. Dafür spaziert man am heute musealen Sommerhaus von Gerhard Hauptmann entlang, der fast 50 Jahre nach dem Aufstand der schlesischen Fabrikhaus-Weber das damalige Drama auf die Theaterbühne brachte. In der Weimarer Republik galt er daher als Sozialdemokrat und er wurde bei den Sowjets verehrt. Sein Beitrittsgesuch zur NSDAP wurde 1933 abgelehnt – wahrscheinlich wusste Gerhard nichts von der Aufnahmesperre, welche die Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung erliessen, um trotz Ansturm von Mitläufern Herr in der eigenen nationalsozialistischen Einheitspartei zu bleiben. Hauptmann las Hitlers mein Kampf, strich sich vieles an und kritzelte die Seiten voll, legte das Büchlein beiseite und kümmerte sich wieder um sein Leben als Literat und ausgelassener Lebemann.

Hiddensee bleibt auch als Teil der DDR Kult wie im Westen Sylt. Die Naturidylle bleibt frei von Kraftfahrzeugen, selbst die bewaffneten Grenzpatrouillen sind auf dem Fahrrad unterwegs. Die Pensionen und Wirtshäuser wurden 1953 unter staatliche Verwaltung gestellt und von Berlin Hauptstadt aus geleitet. Verschiedene Gebäude und Betriebe wurden enteignet und als Volkseigentum aus der fernen Zentrale geführt. Die Fischer wurden in einer staatlichen Fischereiproduktionsgenossenschaft kollektiviert und erzielten prompt Rationalisierungsfortschritte. Die Insel blieb eine Nische für Aussteiger und Andersdenkende sowie Liebhaber rustikaler Sättigung. Die Inselbevölkerung wurde geprägt durch die wenigen Einheimischen und die alternativen Saisonkräfte sowie die Grenzwacht, die bisweilen auch zum Freikörpersonnenbad kam. Die Punks wurden im Abwasch vor den Tagestouristen versteckt. Im Service nicht selten Literaten und Professoren, welche Wortwechsel mit den angeschwemmten Terrassenhockern suchten. Schiffbrüchige nennt Lutz Seiler die Hilfsarbeiter, welche sich im Sommer als Saisonkräfte (DDR-Deutsch: SKs, sprich Esskaas) gleichzeitig verdingten und kommunitierten, indem sie eine verschworene Solidargemeinschaft wurden. Jedes Jahr verschwanden einige von der Insel Richtung Dänemark oder Schweden, fünfzehn tauchten spurlos als Wasserleiche auf. Der Baufacharbeiter Lutz Seiler, der im Wehrdienst seine Liebe zur Literatur entdeckte und dann das universitäre Studium der Literatur aufnahm, arbeitete im Wendejahr 1989 während der Semesterferien im Klausner als Saisonkraft.

Es kann frustrierend sein, wenn man alles genau mitverfolgen möchte, aber man ist Säugling und ziemlich unbeweglich. Sieben Jahre nach der Wende und sieben Monate nach der Geburt meines Sohnes war ich als Kurzurlauber da auf Hiddensee. Auch ich habe mich sofort in die Insel verliebt. Thilo wahrscheinlich auch, allerdings ohne bewusste Erinnerung. Er lernte sitzen und überschaute die halbe Insel aus unserem mit Schilf gedeckten Pavillon, der zur Verfügung der damaligen Ehefrau meines jenerzeitigen Lebensabschnittsschwiegervaters befand und uns überlassen wurde. Thilos Mutter, der ich in Petersburg an einer Vodka-Punk-Party begenet bin, legte tagsüber Abschlussprüfungen an der Uni Greifswald ab. Ich überblickte mit unserem Buddha-Sohn das Inselglück. Auf der Speisekarte des Klausner prangt immer noch das funktionskulinarische Angebot der Sättigungsbeilage. Die Freiheit rauscht leise und der Sand rieselt bis das Körnchen schwimmt. Das Licht als offenes Tor zum Himmel, wie es Caspar David Friedrich mit seinen Kreidefelsen auf Rügen malerisch dramatisierte. Die Lichtmagie des tatkräftigen Mondes in der Nacht. Neumondsichtung. Ich habe heute mit einem Muslim geredet, der den Ramadan mit seinem alkoholfreien Freidenkermonat zusammengelegt hat und wusste, dass er ziemlich genau in der Mitte seines flagelanttischen Monats stand, aber gleichzeitig daran glaubte, dass der Vollmond vor etwa zwei Wochen datierte. Meiner aus eigener Überzeugung gewonnenen Ansicht, dass der Ramadan von Neumond zu Neumond dauere, konnte er nichts abgewinnen.

Im vorletzten Herbst erhielt Lutz Seiler den deutschen Buchpreis für seinen Romanerstling Kruso. Bislang hatte er vor allem Lyrik publiziert. Seine Sprache und seine Poetologie haben eine Qualität, wie sie in Romanen selten sind. Der Plot ist gut, weil er das persönliche Verhältnis zu Realität festhält. Er schildert aus der Perspektive von Ed, der viele Fakten und Erlebnisse mit seinem Autor teilt, das Leben als Gastro-Saisonkraft im Klausner und die Begegnung mit Alexander Krusowitsch, genannt Aljoscha, Anführer der Saisonkräfte auf Hiddensee im Sinne eines Kommunarden, der die Rituale (ewige Suppe, Waschung, der buddhistische Baum, Vergabe) vollzieht und alle ziehen mit – und ebenfalls vieles aufweist, was den Autor umtreibt. Eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in dem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgewachsene Wahnvorstellung, lässt Seiler eine seiner Figuren kommentieren. Im Epilog erzählt Edgar, wie er am Grab von Aljoscha Krusowitsch den Verstorbenen um Erlaubnis bittet, sich um den Kollegen Speiche zu kümmern. Speiche hatte als Vorgänger von Ed im Klausner gearbeitet, Ed konnte in Dänemark die Wasserleiche aufgrund eines Stofffetzens und des Gebisses identifizieren. Speiche war Heimkind. Ed musste zu ihm schauen. Er holte Speiches drei zurückgelassene Sachen aus dem verlassenen Klausner und legte sie in Dänemark auf sein Grab. Die Krönung der inneren Freiheit in ihrem Ruhezustand.

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