Urheber

Vorbei an an den letzten innerstädtischen Beton-Baracken, vorbei am Riesenloch des Justizzentrums, in dem 1600 Besoldete und 350 Gefangene verschwinden werden, auf die längste Eisenbahnbrücke über die Schienenstränge des Letzigrabens. Bebrilltes Karohemd liest Thilo Sarrazin auf dem E-Reader. Die Fettfalten der jungen Frau im Träger-Shirt überquellen fremd und mutig. Frischbärtiger Rammstein klammert sein Zellenphon. Mit grünem Marker arbeitet sich die Lehrerin durch die „Inklusion von innen“ und droht mit sonderpädagogischer Geiselhaft. Im Zugfenster erscheint meine Terrasse.

Ausgerechnet während dem vielleicht wichtigsten Fussballspiel der Schweiz findet die Generalversammlung der Genossenschaft pro Litteris statt (die Urheberrechtsgesellschaft, die auch von der Zürcher Bildungsdirektion Gebühren einzieht, für Kopierautomaten, das Computernetz, den Pressespiegel, Leerdatenträger). Warnleuchte. Ausrechnen konnte dies niemand, denn die Daten der Europäischen Meisterschaft waren in der Planung des Vorstandes und der Geschäftsleitung kein Thema. Die Koinzidenz der Ereignisse und damit der logische Ausschluss, beiden Ereignissen beizuwohnen, harrte der kreativen Verwirklichung, die sich unweigerlich und grundlos einstellen würde. Ein wahres „Entweder – Oder“, wie der Titel des ersten Werkes von Sørensen Kierkegaard, in dem er die Liebe und die Ehe unter ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten analysiert und in einer dialogischen Geschichte integriert. Der Band enthält die Ich-Erzählung von Johannes, ein dänischer Don Giovanni, der die Angebetete ehelicht und dann dazu bringt, die Scheidung zu wollen, weil aus ästhetischen Gründen die reine Liebe ohne Ehe ist. Darauf folgt die briefliche Argumentation des ethischen Ehemannes Wilhelm, der gegenüber Johannes ästhetische Argumente für die Ehe ausbreitet. Kierkegaard gab das Werk als Viktor Eremitus (der siegreiche Einsiedler, der glückliche Single) heraus. Viktor hat die unterschiedlichen Teile des Buches in einem gekauften Möbel gefunden, wie er im Vorwort verrät. Johannes gibt seinerseits an, das entscheidende „Tagebuch eines Verführers“ nicht selbst verfasst zu haben. Im Nachwort äussert Viktor seine Vermutung, dass Johannes dessen Autor sei. Eine Interpretation des Buches ist schwierig, weil eine Wertung der widersprüchlichen Positionen durch den Autor fehlt. Zwei Jahre vor der Publikation seines Textes hat Kierkegaard die Verlobung mit der vierzehnjährigen Regine Olsen aufgelöst, weil  er zum Schluss gekommen war, dass es nicht in seiner Macht stünde, sie glücklich zu machen. Der dänische Originaltitel lautet „Enten – Eller“. Im Fussball gibt es die Ethik-Kommission, in der Pro Litteris die Kunstkommission.

Damit die Kreativität zu ihrem Recht kommt – so ein Slogan der Pro Litteris, der grössten der fünf Urhheberrechtsgesellschaften – braucht es natürlich Juristen. Präsident und der fast neue Direktor sind solche. Wir haben es hier mit dem eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum zu tun, die Pro Litteris beaufsichtigt und vorschlägt, mehr zu kontrollieren und neu die Kosten für die vermehrte Kontrolltätigkeit direkt Pro Litteris zu belasten. Die Vizedirektorin hat 28 Bundesordner zur Prüfung eingereicht. Genau, auch dieser Text besagt nichts und genügt sich selbst, weil er über sich hinausweist. Der Bieler Stapi – natürli Sozi – erläuterte der Versammlung, dass See, Flüsse und Kanäle dem örtlichen Leben Ruhe und Qualität bescheren. Den Brexit wollte er der TV-Arena überlassen, stolperte aber über die Europäische Juni Juni Junion wie seinerzeit das Appenzeller Mostbröckli über das Pü Pü Pündnerfleisch. Dann wurden die verstorbenen Genossenschaftsmitglieder benannt, Arno Grün, Werner Morlang (die Wiederkunft von Robert Walser und Gerhard Meier!), Dante Andrea Franzetti, dann machte ich weitere 25 Striche. Alle erhoben sich. Ich blieb sitzen, aus Respekt vor religiösen Ritualen und weil ich ja vorgealterte Beine haben könnte, und schätzte die Zeitdauer, wie ich das in der Schule als Übung zur Verbesserung meiner inneren Sicherheit und Sebstkompetenz praktiziert hatte. Die Nachspielzeit der Dichter dauerte eine lange Schweigeminute, in der die Blicke gesenkt blieben. Es war den Teilnehmern nicht anzusehen, ob sie vor dem eigenen oder einem fremden Grab standen. Der juristische Kopf der Schweizer Urheber führt Musterprozesse zur Klärung von Urheberrechtsfragen, das gehört zum Kerngeschäft. Es braucht auch EU-Rechtsspezialisten, denn in Belgien ist auf Grund der europäischen Regelung der dortigen Schwestergesellschaft verboten worden, Urheberrechtsentschädigungen an die Verlage auszuschütten, was dem Pro Litteris-Präsident Men Haupt (welch wegweisender Name, der stammt aus der Verlegerfamilie Paul Haupt in Bern) zuwider ist.

Am Bundesgericht ist ein interner Fall hängig. Ehrlich: Erich Hefti hat sich schon heftig bedient an diesen Urheberrechtsgeldern. Vielleicht muss der ehemalige Direktor etwas Kleines zurückzahlen, gegen den Willen der heute Verantwortlichen. Die aktuelle Gesetzgebung spült rund 30 Millionen in die Kasse der Pro Litteris. Allerdings bedingt das Ausgaben von fast einer Million für das Inkasso, weil nicht alle ihrer Zahlungspflicht freiwillig und rechtzeitig nachkommen. Und dann kommt die trickreiche Verteilung der Gelder an die über 10’000 Mitglieder, das verschlingt dann mehr als ein Fünftel. Um einen ebensolchen Fünftel sollen nun die Verwaltungskosten gesenkt werden, und das Ziel ist in kurzer Zeit beinahe erreicht. Die Mitgliederzeitschrift und Kunstprodukt Gazetta – der Altlinke Alexander J. Seiler und eine Studienkollegin konnten sich damit austoben – wurde eingestellt. Und die Reisekosten an die Generalversammlung, die bisher allen interessierten Mitgliedern gemäss den vollen Tarifen des öffentlichen Verkehrs vergütet wurden, gekürzt: Neu gibt es einen Gutschein, der am Bahnschalter gegen ein Bahnbillet 2. Klasse eingetauscht werden kann. Damit konnte man die Ausgaben für die An- und Rückreise auf fast einen Drittel senken, handelte sich aber ein neues Dauertraktandum der Generalversammlung ein. Den Spezial- und Einzelfällen versucht das neue Regime mit zwei Formularen Herr zu werden, welche die Übernahme von reglementarisch nicht vorgesehenen Kosten wie Autofahrten, Begleitpersonen oder Drittfahrkosten erlauben, wenn dazu eine medizinische Expertise vorliegt. Darauf entgegnete eine selbstbekennende Sehbehinderte, die vorgängig den Reise-Check als für Sehbehinderte unzumutbare Abwicklungsform der Reisespesen geisselte, dass sie auf ihre Reisespesen verzichten werde, wenn die anderen Gegner der neuen Regelung leer ausgehen würden. (Ich hatte kein Problem mit dem Check, obwohl ich ihn auf Grund der Aufschrift „Gültig für Hin- und Rückreise“ für eine Fahrkarte hielt. Den Schaffner begrüsste ich mit den Worten: „Ich habe Ihre Ausführung über den Unterschied von Check und Billet, die sie der Dame drei Abteil weiter vorne erteilt haben, bereits zur Kenntnis genommen. Ich erlag einem sprachlichen Kurzschluss, entschuldigen Sie mich bitte.“ „Gehen Sie an den Schalter in Biu“ (Schreibweise korrekt). „Ja“). Der Präsident liess alle reden und fragte nach, ob noch jemand reden wolle, obwohl er eingangs berichtet hatte, dass sich nicht wenige gemeldet hätten, die der Meinung seien, dass darüber genug geredet worden sei.

Ich versuche mich an nicht performativem Slam. Echt-Zeit-Text. Wenn Du das liest, treffen sich mein Geist und Dein Geist. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich viele Leser abgehängt habe. Ich habe mich nun dazu entschlossen, das Wetter dafür verantwortlich zu machen. Bei schönem Wetter liest man nicht, schon gar nicht über Wasserleichen. Sprache ist das Überschiessende, das künstliche im Leben, das wir selber produzieren. Das Leben selbst ist wortlos. Oder das biblische Am-Anfang-war-das-Wort ist das Leben. Oder was dazwischen, wie meist (Jetzt hat  der Verfasser wieder einmal etwas viel von sich gegeben, ohne was dazuzulernen – d. Hrsg.). „Könnte das Buffet noch etwas bescheidener gestaltet werden angesichts des weltweit verbreiteten Hungerleidens?“ lautete dann die nächste Herausforderung an die Genossenschaftsführung, Die satte Beteuerung, dass die evaluierten Sparmassnahmen auch im Food-bereich bereits umgesetzt seien, stellte auch den letzten Skeptiker zufrieden und schmälerte den kollegialen Appetit nicht. Nach Rauchpause und gedrängtem Anstehen überholte ich die Warteschlange und verköstigte mich erst mal mit etwas warmer Hauptspeise. Lachs und Roast-Beef dann zum Hauptgang. Der Kulturpreis ging an den greisen Markus Werner, dessen Figuren barocke Weltverdammer sind. Werner („Das Unvermögen, alleine zu sein, heisst kommunikative Kompetenz“) vergibt den Förderpreis an Christoph Simon, Der stellt sich im unverschämt hellen Konfirmandenanzug, mit weissem Hemd und schmaler roter Krawatte, ans Pult und weint sich vor dem undurchschaubaren Alten-Publikum in grosser Bescheidenheit aus. Der Slam-Meister verschwindet rasch nach Ende der moderierten Sequenz der Generalversammlung und kurz nach mir, der ich erst mal eine rauche, zieht sich den 80er-Jahre-Schlips vom Hals und stellt sich beim Restaurant vis-à-vis vor den Bildschirm.

Das statistisch voraussehbare Drama gegen Polen erlebte ich inmitten einer riesigen Ausländerbande, die Schweizer Leibchen trugen und unter wolkenverhangenem Himmel „Sommer“ schrien. In der Altstadt – nach einem Spaziergang am See und entlang der Kanäle und Quaianlagen – überlegte ich mir, ob ich nach Biel ziehen sollte, da an bester Lage eine Dreieinhalbzimmerwohnung für Tausend zu haben ist. Für Internet-Werke kriegen die Urheber nichts, da ist man einfach noch nicht so weit. Am Bieler Literaturinstitut untersucht man verschiedene Autorinstanzen. Copy-paste geschieht nicht am gebührenpflichtigen Kopiergerät. Fliessende Grenzen zwischen literarischem Schaffen und digitalem Littering. Historische Festigkeit in der Uhrenstadt: Gusseisensitzbänke, Eisenzäune, Gitter, Gartenlauben. Über allem das Grün der Baumkronen, im Herzen die Elfenau. Der Bilderbuchknastbruder schaut wehmütig über das Kanalwasser an die eingewachsene Gefängnismauer, bekrönt mit dichten Stacheldrahtrollen. Die grosse Dornenkrone. Bildverarbeitung von Ausgangstexten: Induktive Bildung von thematischen Clustern und Kategorien, dann Neugestaltung von Mustern durch Zufall und Abstraktion. Den Text lesen und neu interpretieren. Der wahre Urheber ist der Leser. Das Wort wird wahr.

Aljoscha auf Hiddensee

Kommerziell erfolgreich war Feeling B (B steht für Berlin) zu keinem Zeitpunkt. Kopf der DDR-Punk-Band war Aljoscha Rompe, sein anarchischer Gesang und sein wildes Leben verbreiteten im realsozialistischen Untergrund den unvergleichlichen Geschmack der grossen Freiheit. Aljoscha spielte mit den Teenagern Landers und Lorenz, die später als Rammstein Metallparty feiern werden. Aljoscha spielte in den bewegten Sommern der 80er-Jahre auf unbewilligten Strandfeten auf Hiddensee. Er starb um die Jahrtausendwende in seinem Berliner Wohnwagen, an Erkältung. Dieser Aljoscha ist das Kind eines Schweizer Schauspielers, gezeugt in Zürich zum Kriegsende, und einer Deutschen, die kurz darauf mit ihrem Vater, Basler Jurist und Mitbegründer der Partei der Arbeit, in die Sowjetzone umzog und Robert Rompe als Stiefvater erwählte. Der in Petersburg geborene Physiker engagierte sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten und erlebte nach dem Einmarsch der Sowjets in Berlin eine steile Karriere als einflussreichster Wissenschaftspolitiker und ZK-Mitglied der SED. Anfang der 50er-Jahre verlor er alle politischen Ämter, weil er im Kontakt mit Noel Field gestanden hatte, wurde aber nach Stalins Tod vollständig rehabilitiert. Der Stiefsohn Aljoscha erfuhr zufällig von seinem leiblichen Vater, als aus der amtlichen Schweiz dessen Tod vermeldet wurde. Darauf machte er als 30-Jähriger sein Schweizer Bürgerrecht geltend und trug darauf zwei Pässe auf sich, was für einen Punk nur Vorteile hat. Der Stiefvater besass ein Haus in Kloster auf Hiddensee. Wenige Jahre nach dem Mauerfall wurde er auf dem Inselfriedhof begraben.

Zwei Tage nach dem Ende der Schlacht um Berlin und dem Selbstmord von Hitler und Goebbels betrat russisches Militär das Künstlerrefugium Hiddensee. In der jüngeren Steinzeit lümmelten sich Germanen auf dem idyllischen Eiland, gefolgt von Slaven, die dann im Spätmittelalter christianisiert wurden und unter die dänische Krone kamen. Der dänische König stiftete ein Zisterzienserkloster, Nikolaikamp genannt, nach dem Schutzpatron der Seefahrer. Das Dörfchen Kloster mit dem Gasthaus Klausner ist das Herz des Seepferdchens in der aussüssenden Ostsee. Die Sowjets lösten den Gutshof auf und schufen 18 Neubauernstellen, die dann später von den Einheitssozialisten wieder zu einer LPG zusammengelegt wurden. Die Insel ist einer steten Strömung aus Westen ausgesetzt, so dass die Kliffkante der Dornbusch genannten Norderhebung jedes Jahr 30 cm schwindet, dafür im Osten sandige Landzungen um ein Dutzendfaches wachsen. Die beiden Sandhaken, die ikonographisch den Kopf und die spitze Schnauze des Seepferdchens bilden, heissen der Alte und der Neue Bessin. Der Neue entstand um 1900  und stand von den sommerurlaubenden Künstlern und Freikörperkulturellen unter Beobachtung. Im Sommer kann man den Rücken des wachsenden Sandwals barfuss begehen. Dafür spaziert man am heute musealen Sommerhaus von Gerhard Hauptmann entlang, der fast 50 Jahre nach dem Aufstand der schlesischen Fabrikhaus-Weber das damalige Drama auf die Theaterbühne brachte. In der Weimarer Republik galt er daher als Sozialdemokrat und er wurde bei den Sowjets verehrt. Sein Beitrittsgesuch zur NSDAP wurde 1933 abgelehnt – wahrscheinlich wusste Gerhard nichts von der Aufnahmesperre, welche die Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung erliessen, um trotz Ansturm von Mitläufern Herr in der eigenen nationalsozialistischen Einheitspartei zu bleiben. Hauptmann las Hitlers mein Kampf, strich sich vieles an und kritzelte die Seiten voll, legte das Büchlein beiseite und kümmerte sich wieder um sein Leben als Literat und ausgelassener Lebemann.

Hiddensee bleibt auch als Teil der DDR Kult wie im Westen Sylt. Die Naturidylle bleibt frei von Kraftfahrzeugen, selbst die bewaffneten Grenzpatrouillen sind auf dem Fahrrad unterwegs. Die Pensionen und Wirtshäuser wurden 1953 unter staatliche Verwaltung gestellt und von Berlin Hauptstadt aus geleitet. Verschiedene Gebäude und Betriebe wurden enteignet und als Volkseigentum aus der fernen Zentrale geführt. Die Fischer wurden in einer staatlichen Fischereiproduktionsgenossenschaft kollektiviert und erzielten prompt Rationalisierungsfortschritte. Die Insel blieb eine Nische für Aussteiger und Andersdenkende sowie Liebhaber rustikaler Sättigung. Die Inselbevölkerung wurde geprägt durch die wenigen Einheimischen und die alternativen Saisonkräfte sowie die Grenzwacht, die bisweilen auch zum Freikörpersonnenbad kam. Die Punks wurden im Abwasch vor den Tagestouristen versteckt. Im Service nicht selten Literaten und Professoren, welche Wortwechsel mit den angeschwemmten Terrassenhockern suchten. Schiffbrüchige nennt Lutz Seiler die Hilfsarbeiter, welche sich im Sommer als Saisonkräfte (DDR-Deutsch: SKs, sprich Esskaas) gleichzeitig verdingten und kommunitierten, indem sie eine verschworene Solidargemeinschaft wurden. Jedes Jahr verschwanden einige von der Insel Richtung Dänemark oder Schweden, fünfzehn tauchten spurlos als Wasserleiche auf. Der Baufacharbeiter Lutz Seiler, der im Wehrdienst seine Liebe zur Literatur entdeckte und dann das universitäre Studium der Literatur aufnahm, arbeitete im Wendejahr 1989 während der Semesterferien im Klausner als Saisonkraft.

Es kann frustrierend sein, wenn man alles genau mitverfolgen möchte, aber man ist Säugling und ziemlich unbeweglich. Sieben Jahre nach der Wende und sieben Monate nach der Geburt meines Sohnes war ich als Kurzurlauber da auf Hiddensee. Auch ich habe mich sofort in die Insel verliebt. Thilo wahrscheinlich auch, allerdings ohne bewusste Erinnerung. Er lernte sitzen und überschaute die halbe Insel aus unserem mit Schilf gedeckten Pavillon, der zur Verfügung der damaligen Ehefrau meines jenerzeitigen Lebensabschnittsschwiegervaters befand und uns überlassen wurde. Thilos Mutter, der ich in Petersburg an einer Vodka-Punk-Party begenet bin, legte tagsüber Abschlussprüfungen an der Uni Greifswald ab. Ich überblickte mit unserem Buddha-Sohn das Inselglück. Auf der Speisekarte des Klausner prangt immer noch das funktionskulinarische Angebot der Sättigungsbeilage. Die Freiheit rauscht leise und der Sand rieselt bis das Körnchen schwimmt. Das Licht als offenes Tor zum Himmel, wie es Caspar David Friedrich mit seinen Kreidefelsen auf Rügen malerisch dramatisierte. Die Lichtmagie des tatkräftigen Mondes in der Nacht. Neumondsichtung. Ich habe heute mit einem Muslim geredet, der den Ramadan mit seinem alkoholfreien Freidenkermonat zusammengelegt hat und wusste, dass er ziemlich genau in der Mitte seines flagelanttischen Monats stand, aber gleichzeitig daran glaubte, dass der Vollmond vor etwa zwei Wochen datierte. Meiner aus eigener Überzeugung gewonnenen Ansicht, dass der Ramadan von Neumond zu Neumond dauere, konnte er nichts abgewinnen.

Im vorletzten Herbst erhielt Lutz Seiler den deutschen Buchpreis für seinen Romanerstling Kruso. Bislang hatte er vor allem Lyrik publiziert. Seine Sprache und seine Poetologie haben eine Qualität, wie sie in Romanen selten sind. Der Plot ist gut, weil er das persönliche Verhältnis zu Realität festhält. Er schildert aus der Perspektive von Ed, der viele Fakten und Erlebnisse mit seinem Autor teilt, das Leben als Gastro-Saisonkraft im Klausner und die Begegnung mit Alexander Krusowitsch, genannt Aljoscha, Anführer der Saisonkräfte auf Hiddensee im Sinne eines Kommunarden, der die Rituale (ewige Suppe, Waschung, der buddhistische Baum, Vergabe) vollzieht und alle ziehen mit – und ebenfalls vieles aufweist, was den Autor umtreibt. Eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in dem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgewachsene Wahnvorstellung, lässt Seiler eine seiner Figuren kommentieren. Im Epilog erzählt Edgar, wie er am Grab von Aljoscha Krusowitsch den Verstorbenen um Erlaubnis bittet, sich um den Kollegen Speiche zu kümmern. Speiche hatte als Vorgänger von Ed im Klausner gearbeitet, Ed konnte in Dänemark die Wasserleiche aufgrund eines Stofffetzens und des Gebisses identifizieren. Speiche war Heimkind. Ed musste zu ihm schauen. Er holte Speiches drei zurückgelassene Sachen aus dem verlassenen Klausner und legte sie in Dänemark auf sein Grab. Die Krönung der inneren Freiheit in ihrem Ruhezustand.

Die beste aller möglichen Welten

Draussen regnet es ununterbrochen. Gutes Wetter, für die Triebe, das Blätterwerk und die heranreifenden Früchte. Unter dem Schirm lächelt der Bauer am Sonntag: Grüssgott, herrlich, hier zu spazieren! Der Liberalsozialist Fritz Schwarz, von dem neulich wieder mal zu lesen war, wuchs im wahren Glauben auf. Wahrer Glaube ist, hatte er im Katechismus gelernt, nicht bloss ein Fürwahrhalten all dessen, was der christliche Gott in seinem Wort hat geoffenbaret, sondern vielmehr ein gläubiges Vertrauen, Vertrauen auf eine Führung. Das habe nichts Fatalistisches, berichtet Schwarz, sondern sei eher ein „kräftiges und zuversichtliches Sich wehren“, ganz nach dem Motto: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Im Emmental hatte man einen gewissen Wohlstand zu verteidigen und die Bauern zwangen wenige Jahre nach Leibniz‘ Geburt die Stadtberner Patrizier in die Knie, doch die eidgenössische Tagsatzung schickte dann Militär los. Die Emmentaler hielten weiterhin zu Luther und beteten, als nütze Arbeit nichts, und arbeiteten, als nütze Beten nichts. Die Landbevölkerung trug Holz, aber liess den lieben Gott kochen. Das geht heute nicht mehr. Ich habe eine Kiste Feuerholz nach Hause getragen und neben den Grill gestellt, aber kochen musste ich dann irgendwann doch selber. Wichtig sei, fasste Fritz mit einem Bibelvers zusammen, dass man den wahren Glauben bewahre, den Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Egal, ob beschnitten oder unbeschnitten, wird im Galaterbrief, 5. Kapitel, vorangestellt, religions- und sexualpolitisch völlig korrekt.

Angesichts der Unfassbarkeit, ja Absurdität des eigenen Daseins kann man in gutem Glauben Atheist sein, weil es einfach unlogisch und darum logisch unwahr ist, einen allmächtigen und allgütigen Gott zu postulieren. Mein Mantra gegen die existentielle Erfahrung der pubertären Hirnumbauten fiel mir experimentell zu: „Gegen die Absurdität im Kopf nimm Butter und Gugelhopf.“ Mich hat niemand gefragt, ob ich gezeugt oder geboren werden würden wolle. Nachwuchs zu zeugen ist unverantwortlich und zynisch. Es gibt keinerlei Argumente für das Leben, schrieb Cioran, Wir reden hier von einer verfehlten Schöpfung, vom Nachteil, geboren zu sein, vom prinzipiellem Zerfall. Aber irgendwie spürt man noch den Sohn des jüdisch-orthodoxen Priesters: „Ohne den von Gott gegebenen Impuls würde das Bedürfnis, die Kette der Wesen zu verlängern, nicht bestehen, noch auch die Notwendigkeit, die Umtriebe des Fleisches zu unterschreiben. Jedes Gebären ist verdächtig; die Engel sind dazu glücklicherweise unfähig.“ Susan Sontag sieht in Cioran den „Nietzsche unserer Tage“. Cioran selbst hielt Nietzsche schliesslich für naiv und wenig mutig. Pessimisten sind auf den Vorteil aus, nur positive Überraschungen zu erleben. Oder zumindest keine Enttäuschungen. Statistisch ist allerdings offensichtlich, dass die Erlebnisergebnisse mit den entsprechenden Erwartungshaltungen stark positiv korrelieren. Lassen wir Psychologie und Biochemie aussen vor. Niemand leugnet das Leiden in und an der Welt. Nach den antiken Gesetzen der Logik ist es offensichtlich, dass es den einen allmächtigen und allgütigen Gott nicht gibt, denn seine unendliche Güte und sein mächtiger Wille würden logischerweise das Übel von der Welt pusten. Dieser antike Atheismus nahm nach Leibniz Fahrt auf und gehört heute zum abendländischen Allgemeinwissen.

Leibniz stellte diese Argumentation auf den Kopf, verteidigte die Idee der Allmacht und Allgüte Gottes als Axiom und führte so in seinem Buch ‚Theodizee‘ den Beweis, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Die Textsammlung war eine Auftragsarbeit für die Kurfürstin von Brandenburg, die um den Universalgelehrten buhlte. Leibniz hielt sich an alle Regeln der logischen Vernunft und fand für das reale Übel in der Welt auch argumentative Notwendigkeit und kausale Erklärung. Ich hege die Vermutung, dass Leibniz mit seinem Werklein die Adressatin zufriedenstellen wollte, in dem er sich ihrem personalisierten Gottesbild näherte und gleichzeitig die ganze Partitur von Syllogismen und deren schlüssiger Verknüpfung vorführte. In seinen metaphysischen Texten erscheint Gott als Urmonade, Die Monadologie, die Lehre vom Einen verbindet Gott mit allem, denn in allem ist eine Monade und jede Monade ist von Gott. Die Monade ist die kleinste Substanz, kleiner als das Atom. Die Monade ist des Körpers Vorstellung. Jede Monade ist in sich und spiegelt gleichzeitig das ganze Universum. Alle sind sie voneinander verschieden. Alle sind sie in Aristoteles‘ Sinn Entelechien, die ihre Ziele in sich haben, das Prinzip der Selbstverwirklichung. Theologie und Philosophie waren nur Denkaufgaben, Leibniz kümmerte sich um vieles andere. Er erfand die Staffelwalzenrechenmaschine, welche Multiplikationen und Divisionen ausführen konnte. Er setzte Gott als 1 und Nichts als 0 und begann damit zu rechnen: Er entwickelte die operativen Grundlagen des Binärsystems als universaler Computersprache. Er hat herausgefunden, dass die unendliche Rechnung mit Brüchen mit ungeraden Nennern mit alternierenden Subtraktion und Addition (1 – 1/3 + 1/5 – 1/7 + 1/9 …) gleich π/4 ist. Schön, oder? Leibniz wusste nicht, dass man das in Indien schon seit drei Jahrhunderten wusste. Leibniz hat die boolsche Verbandsordnung entdeckt und damit die heutige Suchmaschinenlogik. Er ist Vater der Modallogik, der Integral- und Differentialrechnung, also der Infinitesimalrechnung. Er machte paläontologische, historische, philologische Entdeckungen und Beweisführungen, entwickelte das Förderband und die Belüftungsanlage für den Bergbau und nahm die Evolutionstheorie vorneweg. Mit 26 Jahren schlug er dem französischen Sonnenkönig eine Art Kreuzzug gegen Ägypten vor, um ihn von seinen europäischen Kriegsabsichten abzubringen. Ludwig XIV. lehnte ab, aber mehr als hundert Jahre später setzte Napoleon den Plan als wissenschaftlicher Feldzug nach und gegen Ägypten um. Ein kluger Kopf der Frühaufklärung, er gilt heute als letztes Universalgenie. So möchte man ihm gerne Glauben schenken. Vielleicht ist unsere Welt doch die beste aller möglichen Welten, sie besitzt einen unermesslichen Reichtum von Momenten, sie prangt mit der grösstmöglichen Mannigfaltigkeit. Es ist die bestmögliche Welt, in der wir leben, nicht ihr bestmöglicher Zustand. Die Welt bietet unendliche Möglichkeiten, bietet auch die bestmögliche Möglichkeit und ist deshalb die bestmögliche Welt.