Statt Mammon: Freistatt

Während dem zweiten Weltkrieg konnte Ruth dank guter schulischer Leistungen eine kaufmännische Lehrstelle in einer Druckerei antreten, nicht weit von ihrem Wohnort. Der lebhafte Betrieb umfasste auch eine Buchbinderei, einen Verlag, eine Versandlogistik, Redaktionsräume. Wenn der Fahrplan aus Termingründen am 1. Mai gedruckt werden musste, verdunkelte man die Fenster im Geschoss mit den Druckmaschinen, damit von der Strasse aus die Drucker nicht als Streikbrecher erkannt werden konnten. Der Betriebsgeist war patriarchalisch, aber recht gutmütig und liberal. Während der Kriegs- und Lehrjahre wurde Ruth jeweils für drei Wochen vom Staat zum Landdienst aufgeboten. Zweimal arbeitete sie als Magd bei armen Pächterfamilien, wurde wie alle anderen mit Kartoffeln ernährt, musste aber aus Platzgründen im nächstgelegenen Schulhaus in einem improvisierten Schlafsaal übernachten. Das dritte mal aber bestieg sie den Krautberg, nicht weit von ihrer väterlichen Heimat im Emmental, und begegnete den Familien Schwarz, die zwei benachbarte Höfe bewirtschafteten. Im Stöckli neben dem Hof wohnte während seiner Frei- und Ferientage der eindrückliche Bruder des Bauern, der in Ruths Lehrbetrieb als Redaktor der Zeitung „Freies Volk“, Nachfolgerin der „Freistatt“, ein- und ausging. Mit ihm, dem Fritz Schwarz, waren gelegentlich auch seine zweite Frau und ihre zwei gemeinsamen Kinder. So auch die Sekundarschülerin Ruth.

Nach der Schule besuchte diese Ruth eine Schauspielschule in London, lernte später Buchhändlerin und fand schliesslich ihre Berufung in ihrem selbsterfundenen Beruf als erste freie Presseagentin und Kulturvermittlerin. Ihre Mutter hatte ihren Beruf als Sekundarlehrerin aufgegeben, um bei den Verlagsarbeiten ihres Mannes mitzuhelfen, und so wuchs Ruth zwischen Büchern, Zeitschriften und Schreiberlingen auf. Erst war sie Mädchen für alles, dann Grand Dame für alle. Sie erhielt Dankesbriefe von Grössen aus Literatur, Theater, Musik und anderen Künsten, weil sie diese mit den Möglichkeiten der Kulturgesellschaft und des Kulturbetriebes zusammenbrachte sowie persönlich unterstützte. Diese Dankesbriefe und -karten steckte sie in einen Karton. Autographen von Mann, Mitscherlich, Meienberg. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde ihr vom Kanton Zürich mit der höchsten kulturellen Auszeichnung, der goldenen Ehrenmedaille, für ihr Lebenswerk gedankt. Die Kartonschachtel öffnete Ruth wieder, als die Stadtzürcher Präsidialabteilung im Stadthaus zu ihrem 70. Geburtstag eine Ausstellung plante und vorschlug, ihr Lebens- und Netzwerk mit Exponaten aus ihrer Schachtel zu visualisieren. Ruth wurde vor der Häckel-Plastik im Irchelpark fotographiert, welche umherfliegende Bücher in Stein meisselt. Sie kannte jeden amtierenden Stadtpräsidenten persönlich und mein damaliger Chef durfte die Ausstellung eröffnen.

Nach der Ausstellung veröffentlichte der „Schweizer Buchhandel“ eine von Ruth unterzeichnete Einsendung. Die Aktivitäten und die Medienberichte hatten Ruth die Zusendung von Dutzenden hand- und autosignierter Büchern beschert, mit Begleitkarten, welche Bezug auf ihren Schachtelinhalt nahmen und auf ihre Promotion hofften. „Die Autoren waren mir ebenso unbekannt wie die Namen der Verlage“, fügte sie hinzu. Nachher kamen die Sammler, mit denen sie kaum eine gemeinsame Sprache fand. Drittens meldete sich eine Firma, welche Aufbewahrungssysteme für Autographen und dergleichen herstellt.  Etwas enttäuscht war sie auch, als ein Anrufer berichtete, dass er ebenfalls himmlische Heidelbeerkonfitüre zubereite, mit ihr etwas fachsimpelte, aber sich dann weigerte, ein Glas Konfitüre auszutauschen. Dafür hat sie die andere Ruth getroffen, die auf dem Krautberg im Landdienst war und in der Druckerei gearbeitet hatte, welche die Gedanken der Freiwirtschaft verbreitete. Sie schrieb ihr eine persönliche Widmung in den Ausstellungskatalog, ein Autograph im Autographenbuch, und metakommunizierte per Buchhandelsblatt die Ankündigung eines Telefonanrufes. Meine Mutter hat mir das alles gezeigt. Eine Urenkelin vom Krautberg-Hof schaut gelegentlich bei ihr vorbei. Im Hof gegenüber lebt eine WG, das Land wurde zusammengelegt.

Die Realität ist ganz schön phantastisch, aber die Politik ist weit davon entfernt, die Möglichkeiten auszuloten. Fritz Schwarz, die Verbindung zwischen den beiden Ruth, hat einige Möglichkeiten ausgeschöpft. Als Jüngster von fünfzehn Kindern hätte er nach Emmentaler Erbrecht den ganzen elterlichen Hof übernehmen können. Während er Vieh hütete, lernte der Bub weite Teile der Bibel auswendig und wählte später den Lehrerberuf. Am pädagogischen Seminar stellte er fest, dass 75% den Beruf wegen dem sicheren Einkommen gewählt hätten und stellte sich vor die Seite der 25% Weltverbesserer; er schloss sich den Sozialdemokraten an. Zusammen mit seinem Studienkolleg Ernst Nobs organisierte er am Lehrerseminar einen Streik und agitierte für den pazifistischen Friedensverein. Politisch wurde er durch die Schriften von Silvio Gesell, der den Zins abschaffen will und damit auch das Grundeigentum, ein weiteres mal erweckt. Seine erste Frau zeigte bald Lähmungserscheinungen an der Seite des unermüdlichen Aktivisten, der im ersten Weltkrieg seinen Lehrerberuf an den Nagel hängte und in seiner Wohnung die Geschäfte der freiwirtschaftlichen Gesellschaft führte, deren Zeitschrift Freistatt redigierte, und weitere Vereinigungen beherbergte wie die Liga für Menschenrechte, den abstinenten Lehrerverein, die Coué-Gesellschaft. Aktiv war er auch für den Konsumverein, für Frauenrechte und zeitweise für Vegetarismus und Nacktkultur. Als der mit ihm nun persönlich befreundete Gesell 1919 von Landauer als Finanzminister der Münchner Räterepublik berufen wurde, reiste Schwarz ihm nach, doch die Kommunisten hatten Gesell schon abgesetzt. Schwarz schlug sich zu Fuss durch die Fronten zurück in die Schweiz, Gesell wurde von der Schweizer Fremdenpolizei trotz zwanzigjähriger Niederlassung mit einem Einreiseverbot belegt, weil er sich einer revolutionären Regierung angeschlossen hatte. Die Grundpfeiler der Freiwirtschaft sind Gemeineigentum des Bodens uns Zinsverbot. Die Grundrente ist das unchristliche Grundübel, die feudalen Manieren der katholischen Kirche im Mittelalter ein abendländischer Sündenfall. Schade, haben die Bauern in den spätmittelalterlichen Kriegen nicht das Zepter und die Monstranz übernommen. In der Zwischenkriegszeit war allerdings – nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise – die Währungs- und Geldmengenpolitik im Vordergrund der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung. Unterdessen war Fritz Schwarz eine neue Liaison eingegangen. Die Sekundarlehrerin Elly und zukünftige Mutter von Ruth gab ihre Bezahlstelle auf und zog in den ärmlichen stadtberner Polit-Haushalt, während seine erste Frau Anna, durch ihre multiple Sklerose arg geschwächt, sich in das Spital zum Sterben zurückzieht. Auch nach dem zweiten Weltkrieg bleiben die Grundpfeiler der Freiwirtschaft im Hintergrund und 1949, mindestens zehn Jahre zu spät, wird schliesslich von der Liberalsozialistischen Partei das Volksbegehren zur „Sicherung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung“ eingereicht. Mit von der Partie ist nun Hans Bernoulli (die Häuschen gegenüber dem Kraftwerk 1 stammen von ihm), der wegen seiner Politik an der ETH Lehrverbot erhält. Die Initiative erhält weniger Ja-Stimmen, als Unterschriften gesammelt wurden. Einige der Initianten schliessen sich dem Landesring der Unabhängigen an. Fritz Schwarz bereist später Bagdad. Er wird ausgelacht, weil er seine Koffer aus Prinzip nicht abschliesst, dann aber Geld vermisst. Ein Jahr später wird ihm die Botschafterin aus Bagdad das Geld überreichen, das sich in einen schweren Fauteuil verkrochen hatte. Auf der Strasse spricht er mit den Kindern. Auf die ungläubige Frage eines Journalisten, in welcher Sprache er sich denn unterhalten habe, antwortet er: „Auf Berndeutsch natürlich. Sie haben mich gut verstanden.“ Die Grundrente ist rund um den Erdball verpönt, in den kälteren Zonen etwas weniger, weil dort der Boden manchmal friert. Würde lieber an einer globalen Abstimmung über die Grundrente teilnehmen als an der nationalen über das bodenlos niedrige Grundeinkommen.

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