Sr. Jessica

Sie selbst nennt einen anderen Namen, den sie bei der Geburt als Zusatz bekam: Einen männlichen Vornamen, der auf einen vielleicht aus Irland stammenden Wandermönch zurückgeht, der den süddeutschen Raum christianisierte und der durch einen Skirennfahrer aus dem Wallis erneut in die Welt ging. Schwester Jessica passt besser: Der unbestreitbar weibliche Vorname stammt aus der hebräischen Bibel und heisst so viel wie „Gott schaut zu dir“. Immerhin hat sie ein mirables Mirakel erlebt. Jessica erinnert auch an die Interjektion Jesses! oder Jessesgott!, mit der noch immer Verwunderung, Erstaunen oder Bestürzung ausgedrückt wird. Die in der geschlechterverwirrten Namensfrage mitschwingende sexuelle Konnotation bleibt erhalten, wenn wir die tschechische Pornodarstellerin Jessica May mitdenken.

Das Wunder fusst im Unglück. Als Jessica dreizehn Jahre alt war, starben innert kurzer Frist Mutter und Vater, Nierenschrumpfung und Lungenfellentzündung. Am Krankenbett der Mutter schwörte sie, später ins Kloster zu gehen. Ihre Pubertät wurde durch die Verantwortung gezeichnet, die sie als Vollwaise für ihre drei jüngeren Kinder zu übernehmen gewillt war. Jessicas Verwandtschaft tauchte im Trauerhaushalt auf, durchwühlte alle Schubladen und beriet vor versammelter Kinderschar über deren Schicksal. Da fiel der Vorschlag, die „Goofen“ in ein Waisenhaus zu geben, eine Institution, die für derartige Fälle die notwendige Fürsorge und Vormundschaft bieten könne. Doch für Jessica hörte sich das an wie die Androhung von Abschiebehaft und sie wandte sich an den Pfarrer, der ihr auf der Stelle versprach, dass weder Jessica noch deren Geschwister gegen ihren Willen in ein Waisenhaus eingewiesen würden.

Jessica übernahm gemäss ihrem Altersrang das Kommando über die verwaiste Geschwistergemeinschaft. Vor allem die jüngste Schwester hat ihr Fett abgekriegt und musste als liebenswürdige Darstellerin jene Rolle spielen, die ihr von Jessica zugewiesen wurde, und jene Worte sprechen, welche ihr vorgesagt wurden. Sie übernahm den Part, die dem Pfarrer zugeneigte Geburtshelferin als Ersatzmutter ins Haus zu holen, nachdem der Pfarrer die Vormundschaft wie versprochen persönlich übernommen hatte, weil die Kinderschar unter Jessicas Anleitung alle Verwandten auf der Liste gestrichen hatte, aus der die Kinder einen Vormund auswählen durften. Jessica dankte der jüngsten Schwester, indem sie ihr bei ihrem Klostereintritt das Bankbüchlein mit dem finanziellen Erbe abtrat, um nach der soeben bestandenen Matur ein Studium angehen zu können. Jessica hatte bis dahin als Kindergärtnerin gejobbt, auch im Ausland. In Frankreich hatte sie den Entschluss erneuert, so bald wie möglich für immer im Kloster zu leben, nachdem sie in einer Don Bosco-Einrichtung algerische und ungarische Waisenkinder betreut hatte. Ihr Vormund aber, den sie in ihre Pläne einweihte, verbot ihr diesen Schritt, weil er als Pfarrer um seinen Ruf als unabhängiger Erzieher fürchtete: „Wenn es eine Berufung ist, so gehst Du auch in zehn Jahren noch in’s Kloster“.

Ihre erste Stelle als Kindergärtnerin trat sie im heimatlichen, aber stockprotestantischen Sarganserland an. Sie wurde einstimmig gewählt, unterrichtete 50 Buben und bekam an katholischen Feiertagen frei. Die zweite Arbeitsstelle war beim Rheinfall, wo Hans um sie warb und Jessica bekniete. Mehr als einen Handkuss gab es aber nicht, und beim Tango informierte sie Hans über ihre Absicht, in ein Kloster einzutreten. Sie reiste ab, vorerst ins Ausland. Später sass sie an einer Kirchenfeier zufällig neben Hans. Er hatte einen Rausch, voll besoffen. „Warum bist Du betrunken?“ – „Warum bist Du weggegangen?“. Noch viel später trifft sie Hans noch einmal, nun als Tagungs-Referent mit Doktortitel. „Grüezi Herr Brunnschwyler“ – „Den Tonfall kenn‘ ich.“ Beide haben die gleiche Mission: Sie unterrichten Pädagogik und Kinderpsychologie. Aber Jessica ist gesundheitlich angeschlagen, sie geht am Stock. Genau zehn Jahre nach der Anordnung des Pfarrers besucht sie ihren Vormund. Dieser lächelt und bemerkt: „Früher wolltest du doch ins Kloster?“. „Ja, das will ich immer noch“. Der Pfarrer sucht in seinen Papieren und zeigt ihr einen Prospekt von St. Ursula in Brig. „Genau da habe ich mich angemeldet“.

Die jüngste Schwester berichtete Jessica, dass sie im Internat so viel gebetet habe, dass das locker für den Rest des Lebens reiche, begleitete sie ins Kloster und hat sich aufgeführt wie auf einer Beerdigung. Der Bruder meinte, ins Kloster komme man nur mit einem psychiatrischen Gutachten. Kurz nach dem Klostereintritt, Jessica war unterdessen Ende zwanzig, versuchte sie, Jesus in der berühmten Leidensgeschichte zu folgen. Im ersten Winter litt sie an Schwellungen, Frostbeulen und Vereiterungen. Dazu kam die Leichenfinger-Krankheit, Polyarthritis, der rechte Arm stirbt langsam ab. Sie wird behandelt mit Spritzen ins Zentralnervensystem, chemischen Präparaten, Operationen, Nervendurchbrennungen ohne Narkose. „Ich will diese Behandlungen nicht mehr“. Der Arzt entgegnet: „Ich übernehme keine Verantwortung. Ich muss das tun“. Jessica zu Gott: „Wenn Du mein Leiden brauchst für Jemand oder Etwas, kannst Du es haben.“ Ergänzen, was an Leiden Christi noch fehlt. Noch schlimmer wird’s. „So habe ich das nicht gemeint, sterben will ich nicht“.

Nach zwanzigjähriger Krankheitsgeschichte wiegt Jessica keine 30 Kilo mehr. Willentlich kann Jessica nichts mehr steuern. Die Spezialärzte im Insel-Spital strecken ihre medizinischen Instrumente und bitten die Ursulinen, Schwester Jessica für den letzten Schritt zu sich zu nehmen. Soll der oberste Chef schauen. In Brig hängten ihr die Therapeutinnen Gewichte an die Glieder, um den Körper aus der Embryostellung zu zwingen. Jessica hadert und zweifelt, ob es richtig war, den lieben Gott zu bitten, den klaren Verstand nicht anzutasten. Gottvater und Gottmutter haben ein Gestürm, und die kleine Schwester Jessica stürmt auch. Dann packt sie Jemand in der Nacht, schüttelt sie kräftig wie einen verstaubten Teppich und kehrt sie. Jessica denkt im tiefen Schlaf, das ist nun die Passage, vor der ich mich immer gefürchtet habe. Herrgott, wenn Du mir noch Zeit zu leben gibst, so gehört sie Dir. Am morgen stellt sie fest, dass sie die Hände bewegen kann. Sie greift sich mit der Hand von hinten über den Kopf und staunt. Frisch regenerierte Zehennägel, wie Infant Jesses. Sie kann stehen. Sie kann gehen. Sie ist völlig gesund.

Das Wunder ist geschehen. Mehr als ein Handkuss gibt’s trotzdem nicht. Ist das die Totenbesserung vor dem endgültigen Aus? Der Geiltrieb der todgeweihten Natur? Furcht und Schrecken überschatten die Freude. Sie vergisst, dass sie die zusätzliche Lebenszeit Gott versprochen hat, und bewundert ihre Zehennägel. Das geschah vor bald dreissig Jahren. Heute ist Sr. Jessica immer noch gesund, psychisch wohlauf und ihrer Seele geht es den Umständen entsprechend ganz gut.

Theogonie, Troja: Schrott!

Die Geschichte von Gott ist die Geschichte der Menschwerdung als selbsterkennender Gottfindung oder als offensichtlicher Offenbarung – der Unterschied ist unentscheidbar, die Gegensätze werden zu einem Satz. Die vermeintliche Zweiheit ist das Eine. Das Subjekt verhält sich zum Objekt wie der Gedanke zum Gehirn. Geist ist ein physikalischer Zustand. Gott ist bei den Muselmenschen ein schwarzer Stein, wahrscheinlich vom Himmel gefallen. Meteoriten sind Morsezeichen aus dem astralen Frontallappen. Der auffälligste Meteorstrom heisst „die Perseiden“, weil er aus dem Sternbild des Perseus kommt, womit wir in der griechischen Mythologie bei einem Sohn von Gott Zeus sind, der aber eine Menschin zur Mutter hat. Ein Heros oder Held. Zeus war ein transkategorialer Sequenzhetero, in unserer abendländischen Ahnenreihe göttlichen Anfangs eine Schlüsselfigur der Menschwerdung.

Aber beginnen wir dort, wo das abendländische Denken, die Kunst, die Weisheit und die Liebe zur Weisheit herkommen. Athene, die Stadtgöttin von Athen und Schutzpatronin der Philosophie ist eine reine, unblutige Kopfgeburt. Zeus hat sie aus dem Kopf geboren, nachdem er seine Sexualpartnerin und Mutter von Athene verschlungen und verschluckt hatte, da ihm prophezeit wurde, der Nachwuchs würde Ärger bereiten. Zeus bekam Kopfschmerzen und als Gott fiel ihm nichts anderes ein, als Hephaistos zu rufen und ihn zu bitten, im den Kopf zu spalten, so dass das Übel entweichen könne. Aus dem aufgeschlagenen Schädel entschlüpfte Athene, in voller Rüstung, mit einem Wurfspeer bewaffnet und  heftige Kriegsrufe ausstossend. Mit dem Wurfspeer tötete sie versehentlich ihre Kampfspielpartnerin und Halbschwester Pallas, deren Name sie sich seither zugesellte. Athene wurde auf der Akropolis als Jungfrau und als Kriegerin verehrt. Sie ist die Schutzgöttin von Odysseus. Zeus‘ Schädel schloss sich wieder mit göttlicher Präzision, das Brummen und Hämmern im Kopf hatte sein Ende gefunden.

Am Anfang war das Chaos, der griechische Gegenbegriff zu Kosmos. Im Hebräischen entspricht dem Chaos das Tohuwabohu, in der deutschen Bibel heisst es später „wüst und leer“. Abkömmlinge des Chaos sind die Göttin der Erde, Gaia, die Finsternis Nyx, die Unterwelt Tartaros mit dem Gott der Unterwelt Erebos sowie der Gott der Liebe, Eros. Diese fünf sind zeitgleich aus dem Chaos entstanden. Gaia gebiert durch Eros den Himmel, Uranos, die Berge und das Meer, alles geschieht unbefleckt. Nyx und Erebos zeugen den luftigen Aither und Hemera, den Tag (kali mera, Griechenlandfreunde!). Uranos aus der Gaia zeugt dann mit der Gaja Titanen, Zyklopen und drei Hekatoncheiren, jeder von ihnen mit 50 Köpfen und 100 Händen. Da die Geschichte ziemlich dramatisch weitergeht, nehme ich an, dass sich Uranos und Gaia befleckt oder zumindest blutig vereint hatten. Göttlicher Inzest gebiert die Urgeschichte des Ödipus. Uranos will nichts wissen vom Nachwuchs und steckt seine Kinder in den Tartaros, doch Gaia stiftet den Titan Kronos an und drückt ihm das erste Metall, in Form einer Sense, in die Hand. Kronos entmannt auf ihren Rat seinen Vater, der neben Gaia nächtigt, mit der Sense und wirft das Glied ins Meer. Damit ist Kronos Herrscher der zweiten Göttergeneration. Aus dem Blut, das aus Uranos’ Glied auf Gaia fällt, entstehen die Giganten, die Erinnyen und Nymphen. Aus dem Samen des in den Pontos geschleuderten Gliedes wächst Aphrodite hervor. In Aphrodite, der Schaumgekrönten, bildet sich die himmlische Zeugungskraft zu dem vollkommenen Schönen. Sie war Auslöser des trojanischen Krieges, weil sie dem trojanischen Königssohn Paris die schöne Helena versprach.

Hesiod hat die Entstehungsgeschichte etwa sieben Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung in seiner Theogonie, von den Musen inspiriert, vorgetragen und aufgezeichnet. Diese älteste Quelle griechischer Literatur ist von Raoul Schrott neu übersetzt worden. In seinem Kommentar zeichnet Schrott den Transfer und die Assimilation der Musen und anderer Gottheiten aus dem assyrischen Raum ins griechische Böotien nach. Der Dichter und habilitierte Literaturwissenschafter Schrott hat das abendländische Bildungsbürgertum auf die Palme gebracht, als er an der Frankfurter Buchmesse 2008 seine eigene Ilias-Übersetzung vorstellte (in heutiger Sprache) und bemerkte, Homer sei kein schöpferischer Geist im westlichen Kleinasien gewesen, sondern ein griechischer Hofschreiber in Kilikien. Und Heinrich Schliemann habe am falschen Ort nach Troja gebuddelt, das echte UNESCO-Weltkulturerbe steht in Karatepe nahe der Nordost-Ecke unseres Meeres (hinreisen! Die Touristen bleiben im Irrtum). Die Geschichte der Ilias hat sind einige hundert Kilometer weiter östlich abgespielt, stellt Schrott fest. Das darf nicht wahr sein, dass wir und unsere Väter falsch unterrichtet worden sind, gesichertes abendländisches Wissen verhöhnt, unsere kulturelle Abstammung missachtet wird. Professoren der Archäologie, der Altphilologie und der Alt-Kulturgeschichte attestieren Raoul Schrott zwar unglaubliche Belesenheit und umfassende Kenntnisse der antiken Sprachen und Räume, können ihn nicht widerlegen, aber glauben ihm einfach nicht. Für das Abendland scheint Troja ein nachbiblischer Glaubenssatz und illusionärer Kulturschatz. Schrott ist eher zufällig auf das richtige Troja gestossen. Er hatte sich während der jahrelangen Übersetzungsarbeit an der Ilias mit neueren internationalen Veröffentlichungen der komparativen Literaturwissenschaft befasst und ist auf vielfache Bezüge zu assyrischen Texten und Verbindungen zur biblischen Genesis gestossen. Gräzisten und Assyriologen nehmen kaum Notiz voneinander, in der Literaturwissenschaft sind Okzident und Orient immer noch ideologisch und kulturell getrennt. Schrott hat dann einen Augenschein genommen und in Karatepe hunderte Details gefunden, die genau der Beschreibung von Troja und Umgebung entsprechen, aber im UNESCO-Troja gänzlich fehlen. Kein Zweifel also. Ich habe ein Interview mit Schrott vor Ort gesehen. Keinerlei Zweifel. Aber die Professoren werfen ihm vor, er sei etwas ausschweifend, mit argumentativen Zuspitzungen, einem Zug ins Schwärmerische und Spekulative. Ein Dichter eben, keiner von ihnen. Homer habe sich entmannen lassen, um den Posten als Schreiberling zu ergattern, meint dazu Schrott, was Eigenheiten seiner Erzählweise erkläre.

Hesiod und Homer bringen die ewig unsterblichen Götter und die Menschen zusammen, durch die Musen. Vernunft und Glaube bilden eine poetische Einheit. In dieser Zeit blühte das Denken der religiös-weltlichen Hochkulturen von China über Indien, Eurasien bis Südamerika. Gottesvorstellungen gewannen die Form von Literatur mit dem Potential zu heiligen Büchern. Karl Jaspers prägte für diese Zeit den Begriff Achsenzeit. Die Ewigkeit und die Zeit finden in Kronos ihren Ausdruck. Es geht nicht um die unaufhörliche Dauer, sondern um die Erfüllung des Augenblicks. „Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philosophierens.“

Statt Mammon: Freistatt

Während dem zweiten Weltkrieg konnte Ruth dank guter schulischer Leistungen eine kaufmännische Lehrstelle in einer Druckerei antreten, nicht weit von ihrem Wohnort. Der lebhafte Betrieb umfasste auch eine Buchbinderei, einen Verlag, eine Versandlogistik, Redaktionsräume. Wenn der Fahrplan aus Termingründen am 1. Mai gedruckt werden musste, verdunkelte man die Fenster im Geschoss mit den Druckmaschinen, damit von der Strasse aus die Drucker nicht als Streikbrecher erkannt werden konnten. Der Betriebsgeist war patriarchalisch, aber recht gutmütig und liberal. Während der Kriegs- und Lehrjahre wurde Ruth jeweils für drei Wochen vom Staat zum Landdienst aufgeboten. Zweimal arbeitete sie als Magd bei armen Pächterfamilien, wurde wie alle anderen mit Kartoffeln ernährt, musste aber aus Platzgründen im nächstgelegenen Schulhaus in einem improvisierten Schlafsaal übernachten. Das dritte mal aber bestieg sie den Krautberg, nicht weit von ihrer väterlichen Heimat im Emmental, und begegnete den Familien Schwarz, die zwei benachbarte Höfe bewirtschafteten. Im Stöckli neben dem Hof wohnte während seiner Frei- und Ferientage der eindrückliche Bruder des Bauern, der in Ruths Lehrbetrieb als Redaktor der Zeitung „Freies Volk“, Nachfolgerin der „Freistatt“, ein- und ausging. Mit ihm, dem Fritz Schwarz, waren gelegentlich auch seine zweite Frau und ihre zwei gemeinsamen Kinder. So auch die Sekundarschülerin Ruth.

Nach der Schule besuchte diese Ruth eine Schauspielschule in London, lernte später Buchhändlerin und fand schliesslich ihre Berufung in ihrem selbsterfundenen Beruf als erste freie Presseagentin und Kulturvermittlerin. Ihre Mutter hatte ihren Beruf als Sekundarlehrerin aufgegeben, um bei den Verlagsarbeiten ihres Mannes mitzuhelfen, und so wuchs Ruth zwischen Büchern, Zeitschriften und Schreiberlingen auf. Erst war sie Mädchen für alles, dann Grand Dame für alle. Sie erhielt Dankesbriefe von Grössen aus Literatur, Theater, Musik und anderen Künsten, weil sie diese mit den Möglichkeiten der Kulturgesellschaft und des Kulturbetriebes zusammenbrachte sowie persönlich unterstützte. Diese Dankesbriefe und -karten steckte sie in einen Karton. Autographen von Mann, Mitscherlich, Meienberg. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde ihr vom Kanton Zürich mit der höchsten kulturellen Auszeichnung, der goldenen Ehrenmedaille, für ihr Lebenswerk gedankt. Die Kartonschachtel öffnete Ruth wieder, als die Stadtzürcher Präsidialabteilung im Stadthaus zu ihrem 70. Geburtstag eine Ausstellung plante und vorschlug, ihr Lebens- und Netzwerk mit Exponaten aus ihrer Schachtel zu visualisieren. Ruth wurde vor der Häckel-Plastik im Irchelpark fotographiert, welche umherfliegende Bücher in Stein meisselt. Sie kannte jeden amtierenden Stadtpräsidenten persönlich und mein damaliger Chef durfte die Ausstellung eröffnen.

Nach der Ausstellung veröffentlichte der „Schweizer Buchhandel“ eine von Ruth unterzeichnete Einsendung. Die Aktivitäten und die Medienberichte hatten Ruth die Zusendung von Dutzenden hand- und autosignierter Büchern beschert, mit Begleitkarten, welche Bezug auf ihren Schachtelinhalt nahmen und auf ihre Promotion hofften. „Die Autoren waren mir ebenso unbekannt wie die Namen der Verlage“, fügte sie hinzu. Nachher kamen die Sammler, mit denen sie kaum eine gemeinsame Sprache fand. Drittens meldete sich eine Firma, welche Aufbewahrungssysteme für Autographen und dergleichen herstellt.  Etwas enttäuscht war sie auch, als ein Anrufer berichtete, dass er ebenfalls himmlische Heidelbeerkonfitüre zubereite, mit ihr etwas fachsimpelte, aber sich dann weigerte, ein Glas Konfitüre auszutauschen. Dafür hat sie die andere Ruth getroffen, die auf dem Krautberg im Landdienst war und in der Druckerei gearbeitet hatte, welche die Gedanken der Freiwirtschaft verbreitete. Sie schrieb ihr eine persönliche Widmung in den Ausstellungskatalog, ein Autograph im Autographenbuch, und metakommunizierte per Buchhandelsblatt die Ankündigung eines Telefonanrufes. Meine Mutter hat mir das alles gezeigt. Eine Urenkelin vom Krautberg-Hof schaut gelegentlich bei ihr vorbei. Im Hof gegenüber lebt eine WG, das Land wurde zusammengelegt.

Die Realität ist ganz schön phantastisch, aber die Politik ist weit davon entfernt, die Möglichkeiten auszuloten. Fritz Schwarz, die Verbindung zwischen den beiden Ruth, hat einige Möglichkeiten ausgeschöpft. Als Jüngster von fünfzehn Kindern hätte er nach Emmentaler Erbrecht den ganzen elterlichen Hof übernehmen können. Während er Vieh hütete, lernte der Bub weite Teile der Bibel auswendig und wählte später den Lehrerberuf. Am pädagogischen Seminar stellte er fest, dass 75% den Beruf wegen dem sicheren Einkommen gewählt hätten und stellte sich vor die Seite der 25% Weltverbesserer; er schloss sich den Sozialdemokraten an. Zusammen mit seinem Studienkolleg Ernst Nobs organisierte er am Lehrerseminar einen Streik und agitierte für den pazifistischen Friedensverein. Politisch wurde er durch die Schriften von Silvio Gesell, der den Zins abschaffen will und damit auch das Grundeigentum, ein weiteres mal erweckt. Seine erste Frau zeigte bald Lähmungserscheinungen an der Seite des unermüdlichen Aktivisten, der im ersten Weltkrieg seinen Lehrerberuf an den Nagel hängte und in seiner Wohnung die Geschäfte der freiwirtschaftlichen Gesellschaft führte, deren Zeitschrift Freistatt redigierte, und weitere Vereinigungen beherbergte wie die Liga für Menschenrechte, den abstinenten Lehrerverein, die Coué-Gesellschaft. Aktiv war er auch für den Konsumverein, für Frauenrechte und zeitweise für Vegetarismus und Nacktkultur. Als der mit ihm nun persönlich befreundete Gesell 1919 von Landauer als Finanzminister der Münchner Räterepublik berufen wurde, reiste Schwarz ihm nach, doch die Kommunisten hatten Gesell schon abgesetzt. Schwarz schlug sich zu Fuss durch die Fronten zurück in die Schweiz, Gesell wurde von der Schweizer Fremdenpolizei trotz zwanzigjähriger Niederlassung mit einem Einreiseverbot belegt, weil er sich einer revolutionären Regierung angeschlossen hatte. Die Grundpfeiler der Freiwirtschaft sind Gemeineigentum des Bodens uns Zinsverbot. Die Grundrente ist das unchristliche Grundübel, die feudalen Manieren der katholischen Kirche im Mittelalter ein abendländischer Sündenfall. Schade, haben die Bauern in den spätmittelalterlichen Kriegen nicht das Zepter und die Monstranz übernommen. In der Zwischenkriegszeit war allerdings – nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise – die Währungs- und Geldmengenpolitik im Vordergrund der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung. Unterdessen war Fritz Schwarz eine neue Liaison eingegangen. Die Sekundarlehrerin Elly und zukünftige Mutter von Ruth gab ihre Bezahlstelle auf und zog in den ärmlichen stadtberner Polit-Haushalt, während seine erste Frau Anna, durch ihre multiple Sklerose arg geschwächt, sich in das Spital zum Sterben zurückzieht. Auch nach dem zweiten Weltkrieg bleiben die Grundpfeiler der Freiwirtschaft im Hintergrund und 1949, mindestens zehn Jahre zu spät, wird schliesslich von der Liberalsozialistischen Partei das Volksbegehren zur „Sicherung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung“ eingereicht. Mit von der Partie ist nun Hans Bernoulli (die Häuschen gegenüber dem Kraftwerk 1 stammen von ihm), der wegen seiner Politik an der ETH Lehrverbot erhält. Die Initiative erhält weniger Ja-Stimmen, als Unterschriften gesammelt wurden. Einige der Initianten schliessen sich dem Landesring der Unabhängigen an. Fritz Schwarz bereist später Bagdad. Er wird ausgelacht, weil er seine Koffer aus Prinzip nicht abschliesst, dann aber Geld vermisst. Ein Jahr später wird ihm die Botschafterin aus Bagdad das Geld überreichen, das sich in einen schweren Fauteuil verkrochen hatte. Auf der Strasse spricht er mit den Kindern. Auf die ungläubige Frage eines Journalisten, in welcher Sprache er sich denn unterhalten habe, antwortet er: „Auf Berndeutsch natürlich. Sie haben mich gut verstanden.“ Die Grundrente ist rund um den Erdball verpönt, in den kälteren Zonen etwas weniger, weil dort der Boden manchmal friert. Würde lieber an einer globalen Abstimmung über die Grundrente teilnehmen als an der nationalen über das bodenlos niedrige Grundeinkommen.

Afferente Affektionen als emergierende Emotionen

Gefühle werden positiv bewertet. Natürlich ist dieser Satz zu absolut. Es gibt auch solche, welche stolz darauf sind, keine Gefühle zu haben, weil sie diese mit ihrem Geist bezwingen. Und solche, welche stolz darauf sind, cool und gefühllos zu sein, weil die rationale Wahrheit eiskalt und geistlos ist. Gefühle werden in unserer medialen Gesellschaft  zumindest meist positiv konnotiert, sei es formuliert oder interpretiert. Der Langstreckenläufer, der in den Armen seiner jungen Freundin weint, weil die Witterung es verhinderte, dass er das Olympia-Limit knacken konnte, zieht die Blicke auf sich. Wir hängen an der Gestik und Mimik der Torschützen. Die im Sport geforderten, miterlebten und gefeierten Emotionen sind der Grundkategorie Sieger versus Verlierer zuzuordnen. Der Sieger zeigt Freude, dankt vielleicht auch dem Herrgott mit dem Finger und bleibt bescheiden oder noch besser demütig und dankbar (Ist Demut ein Gefühl oder eine Idee? Oder gar eine Glaubensfrage?). Der Verlierer hat ein grösseres Reservoir und Repertoire an Gefühlen, die er erleben und zeigen kann: Wut, Trauer, Enttäuschung, Hass, Ärger, Rachelust, Scham, Schuldabweisung bis hin zu rationalen Floskeln und Coolness oder Gefühlskälte. Wir Zürcher sind da schon etwas neidisch auf die Basler, die wissen, wie man einen Schweizermeister-Titel feiert.

Vielleicht fühlen wir uns lebendiger mit Menschen, die ihre Emotionen zeigen. Wir können dann empathisch mithalten und mitschwingen, wenn die Emotionen positiv sind, oder argumentativ und analysierend dagegenhalten. Die Freude mehrt sich, wenn ein Lächeln sich dazugesellt, die Trauer kann das lindern (lindern ist transitiv und verlangt zwei Argumente: Das Lächeln wird hier Subjekt und Objekt). Emotionen oder Affekte sind allerdings etwas anderes als die psychologische Allerweltskategorie „Gefühle“, welche auch mentale Zustände, Ideen und Gedanken einschliessen. Wer sagt, dass er sich fühle wie ein lindenblütenverklebtes Cabriolet hat ein Ich-bin-ein-lindenblütenverklebtes-Cabriolet-Gefühl oder -Syndrom. Das kann man getrost in den Thesaurus der WHO-Klassifikationen aufnehmen, mit einer Ausprägungs-Skala von „Keine Symptome“ bis „Klebrige Haut“ mit „Cabrio-Gesicht“. Eine Emotion aber entsteht aus einer Erregung durch einen äusseren Reiz, und ist daher eine Affektion, das, worauf eingewirkt wurde im lateinischen Ursprungssinne. Die Römer brauchten dieses Wort allerdings auch, um das griechische „Pathos“ zu übersetzen, was neben Ethos und Logos als emotionaler Appell eines der klassischen Überzeugungsmittel in der Rhetorik war und üblicherweise mit „Leidenschaft“ übersetzt wird. Aber das ist psychologisch entweder ein metakognitiver Kraftakt, wenn man das als Selbststeigerungskompetenz betrachtet, oder biochemisches Ausserbewusstsein, wenn man darin erotische Konnotationen wahrnimmt.

Den Affekten und Emotionen liegen in objektiver Wirklichkeit Afferenz und Efferenz zu Grunde, eine biochemieelektrische und wahrscheinlich quantengesteuerte Interaktion von Nervenzellen, die untereinander irgendetwas austauschen und bildgebend feuern. Dabei wird a) in zuführend unterteilt, und e) in ausgehend. Sprachlogische Männchen und Weibchen. Im Hals gehen Wahrnehmungs- und Verarbeitungssystem ineinander über. Wehe dem, der Halsweh hat! Die Götter des Körpers und des Hirnis mögen ihn beschützen vor Dummheiten!

Die griechische Philosophie unterschied zwei Basisgefühle: Lust und Unlust. Alle anderen Gefühle sind davon abgeleitete Unterklassen. Aristoteles hat dann alles begrifflich analysiert und systematisiert und damit eine langwährende Ordnung im Sinne einer weitgehend dualen Systematik und Entweder-oder-Sprachlogik in das Abendland gebracht. Die christlichen Einwände betreffend der Rangfolge von Einigheit und Dreifaltigkeit konnte dem alten Griechen wenig anhaben. Aristoteles ist unser Zuchtmeister der Kognition. Darwin geht in seinen Fussstapfen, indem die Gesetze der Sprachlogik auf die Genesis übertragen werden. Behavourismus, aber auch spätere Methodikimperative wie Empirie, Pragmatik, Theoretik sind Folgesysteme in der als Wissenschaft bezeichneten  Erkenntnis- und Textform. Wahre Literatur ist das nicht.

Grundemotionen scheinen eine mimische Spiegelung, objektiv, körperlich. Grundkategorie der folgenden Handlung: Flucht oder Angriff beim Männchen, beim Weibchen sich interessiert nähern oder abwenden. Manchmal sind die Rollen auch vertauscht. Freude und Trauer, sowie Überraschung und Furcht gelten als kulturunabhängige Emotionen. Da hätten wir zwei Gegensatzpaare. Ein zweidimensionales System. Das wurde dann ausgeweitet in mathematisch höhere Kategorien, Verdoppelungen, Verdreifachungen, Potenzierungen, exponenziale und differentiale Beschreibungen bis zur infinalen Empirie. Nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis unterscheidet man in Europa die Basisemotionen Freude, Interesse-Neugier, Überraschung, Ekel, Ärger, Traurigkeit, Furcht, Scham und Schuld. Der abendländisch-christliche Kanon des Leidens ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Emotions-Guru Martin Domes an der Frankfurter Uni als Psychoanalytiker zuerst Soziologie studiert hat und darum eher empirischer Forschung zugetan ist. Einer dieser Kategorien würden bestimmt 90% der Pendlerinnen und Pendler zustimmen, wenn man „Interesse-Neugier“ durch „Langeweile“ ersetzen würde.

Emotionale Intelligenz ist seit gut zwanzig Jahren ein geläufiger Begriff, der gerne gebraucht wird, um ihn der kognitiven Intelligenz gegenüberzustellen und meist auch darüberzustellen. Alleswisser, Nichtsvergesser, Immernachdenker können ganz hilfreich sein, aber der Stil, wie sie sich geben und wie ich behandelt werde, prägt die Qualität meiner mitmenschlichen Verbindung. Ein gescheites Haus zu sein ist noch keine menschliche Qualität, es kommt darauf an, wer darin wohnt. Ein gescheites Haus anzusehen aber ist weit angenehmer als in ein dummes Loch zu starren. Der Feldzug gegen die kognitive Intelligenz wird durch die Dummheit angeführt. Der pädagogische Lebensimperativ heisst dich, eine Emotion zu haben, deine Emotion wie auch immer auszudrücken, zu beobachten, was du für Eindrücke hinterlässt, dann wieder deine Emotion auszudrücken und so weiter. Dabeisein, Kommunikation machen. Ist es nicht wundervoll, wieviele Emoticons es gibt?

Die Psychologen sind da weiter. Emotionale Intelligenz ist unterdessen genauso ausgemessen wie der IQ. Und die Anbieter von EQ-Tests sind stolz darauf, dass die beiden Quotienten weder auf der individuellen noch auf der gesellschaftlichen Ebene korrelieren. Der wahre Grund dafür ist, dass Leute mit hohem IQ meist die EQ-Tests korrigieren und die Statistik irreführen, indem sie nicht die pädagogisch nahegelegte Antwort ankreuzen, sondern den ganzen Fragebogen nach einem rein rechnerischen Formsystem ausfüllen. Wie gläubige Ästheten ihren Lottozettel.

Angefangen hat der aktuelle Begriffsschlamassel mit dem EQ-Bestseller. Das Buch hat ein Journalist und guter Schreiberling verfasst, der von der Sache wenig verstand, kognitiv und so. Die Emotionstheorie, die dahintersteckt, ist ganz einleuchtend: Du sollst die Emotionen von daseienden oder kooperierenden Individuen wahrnehmen und erkennen, um selber gut kooperieren zu können und dazusein. Du sollst Bescheid wissen über die Zusammenhänge von Emotionen zwischen Menschen einerseits und zwischen Emotion und Gedanke sowie gedanklichen Fähigkeiten andererseits, so dass Du vorhandene Emotion und gedanliches Zutun selber abmischen kannst. Drittens solltest Du die Emotion analysieren, um deren Veränderbarkeit sicher einzuschätzen. Viertens und letztendlich geht es darum, deine Emotionen zu beinflussen, so wie es dir passt. Wenn Du das auch ganz rational mit Deiner Kognition bewältigen willst, kannst du deine Gefühle an deinen individuellen Zielen und Wünschen ausrichten, mit deinem Selbstbild und dem sozialen Bewusstsein in Übereinstimmung bringen, indem Du entweder Gefühle vermeidest oder deren Bewertungen korrigierst. Alle diese emotional glaubwürdigen Gebote beschreiben kognitive Akte. Wer seinen EQ verbessern will, muss seinen IQ stärken. Da ist mir jetzt natürlich etwas Emotion eingerutscht, aber vielleicht gefällt das ja.