Sie selbst nennt einen anderen Namen, den sie bei der Geburt als Zusatz bekam: Einen männlichen Vornamen, der auf einen vielleicht aus Irland stammenden Wandermönch zurückgeht, der den süddeutschen Raum christianisierte und der durch einen Skirennfahrer aus dem Wallis erneut in die Welt ging. Schwester Jessica passt besser: Der unbestreitbar weibliche Vorname stammt aus der hebräischen Bibel und heisst so viel wie „Gott schaut zu dir“. Immerhin hat sie ein mirables Mirakel erlebt. Jessica erinnert auch an die Interjektion Jesses! oder Jessesgott!, mit der noch immer Verwunderung, Erstaunen oder Bestürzung ausgedrückt wird. Die in der geschlechterverwirrten Namensfrage mitschwingende sexuelle Konnotation bleibt erhalten, wenn wir die tschechische Pornodarstellerin Jessica May mitdenken.
Das Wunder fusst im Unglück. Als Jessica dreizehn Jahre alt war, starben innert kurzer Frist Mutter und Vater, Nierenschrumpfung und Lungenfellentzündung. Am Krankenbett der Mutter schwörte sie, später ins Kloster zu gehen. Ihre Pubertät wurde durch die Verantwortung gezeichnet, die sie als Vollwaise für ihre drei jüngeren Kinder zu übernehmen gewillt war. Jessicas Verwandtschaft tauchte im Trauerhaushalt auf, durchwühlte alle Schubladen und beriet vor versammelter Kinderschar über deren Schicksal. Da fiel der Vorschlag, die „Goofen“ in ein Waisenhaus zu geben, eine Institution, die für derartige Fälle die notwendige Fürsorge und Vormundschaft bieten könne. Doch für Jessica hörte sich das an wie die Androhung von Abschiebehaft und sie wandte sich an den Pfarrer, der ihr auf der Stelle versprach, dass weder Jessica noch deren Geschwister gegen ihren Willen in ein Waisenhaus eingewiesen würden.
Jessica übernahm gemäss ihrem Altersrang das Kommando über die verwaiste Geschwistergemeinschaft. Vor allem die jüngste Schwester hat ihr Fett abgekriegt und musste als liebenswürdige Darstellerin jene Rolle spielen, die ihr von Jessica zugewiesen wurde, und jene Worte sprechen, welche ihr vorgesagt wurden. Sie übernahm den Part, die dem Pfarrer zugeneigte Geburtshelferin als Ersatzmutter ins Haus zu holen, nachdem der Pfarrer die Vormundschaft wie versprochen persönlich übernommen hatte, weil die Kinderschar unter Jessicas Anleitung alle Verwandten auf der Liste gestrichen hatte, aus der die Kinder einen Vormund auswählen durften. Jessica dankte der jüngsten Schwester, indem sie ihr bei ihrem Klostereintritt das Bankbüchlein mit dem finanziellen Erbe abtrat, um nach der soeben bestandenen Matur ein Studium angehen zu können. Jessica hatte bis dahin als Kindergärtnerin gejobbt, auch im Ausland. In Frankreich hatte sie den Entschluss erneuert, so bald wie möglich für immer im Kloster zu leben, nachdem sie in einer Don Bosco-Einrichtung algerische und ungarische Waisenkinder betreut hatte. Ihr Vormund aber, den sie in ihre Pläne einweihte, verbot ihr diesen Schritt, weil er als Pfarrer um seinen Ruf als unabhängiger Erzieher fürchtete: „Wenn es eine Berufung ist, so gehst Du auch in zehn Jahren noch in’s Kloster“.
Ihre erste Stelle als Kindergärtnerin trat sie im heimatlichen, aber stockprotestantischen Sarganserland an. Sie wurde einstimmig gewählt, unterrichtete 50 Buben und bekam an katholischen Feiertagen frei. Die zweite Arbeitsstelle war beim Rheinfall, wo Hans um sie warb und Jessica bekniete. Mehr als einen Handkuss gab es aber nicht, und beim Tango informierte sie Hans über ihre Absicht, in ein Kloster einzutreten. Sie reiste ab, vorerst ins Ausland. Später sass sie an einer Kirchenfeier zufällig neben Hans. Er hatte einen Rausch, voll besoffen. „Warum bist Du betrunken?“ – „Warum bist Du weggegangen?“. Noch viel später trifft sie Hans noch einmal, nun als Tagungs-Referent mit Doktortitel. „Grüezi Herr Brunnschwyler“ – „Den Tonfall kenn‘ ich.“ Beide haben die gleiche Mission: Sie unterrichten Pädagogik und Kinderpsychologie. Aber Jessica ist gesundheitlich angeschlagen, sie geht am Stock. Genau zehn Jahre nach der Anordnung des Pfarrers besucht sie ihren Vormund. Dieser lächelt und bemerkt: „Früher wolltest du doch ins Kloster?“. „Ja, das will ich immer noch“. Der Pfarrer sucht in seinen Papieren und zeigt ihr einen Prospekt von St. Ursula in Brig. „Genau da habe ich mich angemeldet“.
Die jüngste Schwester berichtete Jessica, dass sie im Internat so viel gebetet habe, dass das locker für den Rest des Lebens reiche, begleitete sie ins Kloster und hat sich aufgeführt wie auf einer Beerdigung. Der Bruder meinte, ins Kloster komme man nur mit einem psychiatrischen Gutachten. Kurz nach dem Klostereintritt, Jessica war unterdessen Ende zwanzig, versuchte sie, Jesus in der berühmten Leidensgeschichte zu folgen. Im ersten Winter litt sie an Schwellungen, Frostbeulen und Vereiterungen. Dazu kam die Leichenfinger-Krankheit, Polyarthritis, der rechte Arm stirbt langsam ab. Sie wird behandelt mit Spritzen ins Zentralnervensystem, chemischen Präparaten, Operationen, Nervendurchbrennungen ohne Narkose. „Ich will diese Behandlungen nicht mehr“. Der Arzt entgegnet: „Ich übernehme keine Verantwortung. Ich muss das tun“. Jessica zu Gott: „Wenn Du mein Leiden brauchst für Jemand oder Etwas, kannst Du es haben.“ Ergänzen, was an Leiden Christi noch fehlt. Noch schlimmer wird’s. „So habe ich das nicht gemeint, sterben will ich nicht“.
Nach zwanzigjähriger Krankheitsgeschichte wiegt Jessica keine 30 Kilo mehr. Willentlich kann Jessica nichts mehr steuern. Die Spezialärzte im Insel-Spital strecken ihre medizinischen Instrumente und bitten die Ursulinen, Schwester Jessica für den letzten Schritt zu sich zu nehmen. Soll der oberste Chef schauen. In Brig hängten ihr die Therapeutinnen Gewichte an die Glieder, um den Körper aus der Embryostellung zu zwingen. Jessica hadert und zweifelt, ob es richtig war, den lieben Gott zu bitten, den klaren Verstand nicht anzutasten. Gottvater und Gottmutter haben ein Gestürm, und die kleine Schwester Jessica stürmt auch. Dann packt sie Jemand in der Nacht, schüttelt sie kräftig wie einen verstaubten Teppich und kehrt sie. Jessica denkt im tiefen Schlaf, das ist nun die Passage, vor der ich mich immer gefürchtet habe. Herrgott, wenn Du mir noch Zeit zu leben gibst, so gehört sie Dir. Am morgen stellt sie fest, dass sie die Hände bewegen kann. Sie greift sich mit der Hand von hinten über den Kopf und staunt. Frisch regenerierte Zehennägel, wie Infant Jesses. Sie kann stehen. Sie kann gehen. Sie ist völlig gesund.
Das Wunder ist geschehen. Mehr als ein Handkuss gibt’s trotzdem nicht. Ist das die Totenbesserung vor dem endgültigen Aus? Der Geiltrieb der todgeweihten Natur? Furcht und Schrecken überschatten die Freude. Sie vergisst, dass sie die zusätzliche Lebenszeit Gott versprochen hat, und bewundert ihre Zehennägel. Das geschah vor bald dreissig Jahren. Heute ist Sr. Jessica immer noch gesund, psychisch wohlauf und ihrer Seele geht es den Umständen entsprechend ganz gut.