Götter, Geschlechter und Bigotte

Nicht Nicken oder Kopfschütteln erwartet Dich in Indien, sondern Kopfwackeln. Es sieht manchmal ziemlich dämlich aus, vor allem wenn dazu der Mund halb offen steht. Keine Ahnung, wovon Du redest, aber ich höre Dir zu, scheint das Wackelgesicht auszudrücken. Auf jeden Fall ist es nett gemeint. Aber so klar, wie wir das manchmal gerne hätten, ist die Mimik nicht, auch wenn das Kopfwackeln durch verbale Zustimmung begleitet wird. Die Zustimmung und Bejahung ist auch nett gemeint, aber wer weiss schon, wie das alles weitergeht. Manche Männer lassen nach dem grossen Wackeln die Zunge raushängen, einfach so, ohne zu hecheln.

Händeschütteln muss auch zwischen Männern nicht sein. Eine leichte Verneigung zum Gegenüber, ein gemeinsamer Augenblick des Lächelns lässt Respekt und Zuneigung erfahren. Frauen die Hand entgegenzustrecken ist unverschämt und übergriffig, auch wenn die Frau höflich die reine rechte Hand hebt und ergreifen lässt. Dann beschämt und konsterniert den Blick senkt. Die menschlichen Geschlechter leben in verschiedenen Welten mit gegenseitigen Verhaltenserwartungen, die sich beidseitig bedingen und durchaus etwas Patriarchalisches haben. Die Funktionen Familienoberhaupt, Grossfamilienoberhaupt, Sippenoberhaupt und Dorfoberhaupt sind traditionell dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Frauen sind auch von bestimmten nichtfamiliären Rollen ausgeschlossen, z.B. gibt es Tempel, deren innerstes Heiligtum nur durch Männer betreten werden darf. Genauer: Nur durch den vom obersten Tempeldiener auserwählten Sohn, dem legitimen Nachfolger. Einige Frauen wollten den Zutritt zum Allerheiligsten eines solchen Tempels gerichtlich durchsetzen. Der Fall war nun vor dem obersten Gericht anhängig und wurde auch in den Zeitungen diskutiert. Die ausgeschlossenen Frauen berufen sich auf den politischen Glaubenssatz des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes als Grundlage ihres politischen Feminismus. Auf der anderen Seite erklärt der angeklagte Tempelpriester, das Männervorrecht sei blosse lokale Tradition und unpolitisch. Der Ursprung sei darin zu finden, dass das innerste Heiligtum von einer derart starken Energie sei, dass das weibliche Geschlecht wohl Schaden nehmen könnte. Die Women Warriors of Mother Earth bekamen vorm Gericht die Zutrittserlaubnis zum Shani-Tempel. Ungeachtet des Gerichtsurteils haben dann hunderte aufgebrachte Dorfbewohner die etwa 30 Aktivitinnen am Betreten des Tempels gehindert. Die Polizei schritt ein, es gab Festnahmen. Um die Lage zu beruhigen, hatte die Tempelverwaltung daraufhin vorübergehend sowohl Frauen als auch Männern den Zugang zum Tempel untersagt. Schliesslich wurden die Aktivistinnen zum Heiligtum vorgelassen. Danach reinigten die Priester und Diener ihren Tempel mit einem aufwändigen Ritual. Die Frauen aus dem Dorf werden das Innere des Tempels sicher nicht betreten, die halfen ja in der Vorwoche, den Frauenrechtlerinnen den Zutritt zu verwehren.

Das Geschlechterverhältnis scheint eher einseitig, ist aber vor allem widersprüchllich. Es gibt in Madurai einen fast tausendjährigen und quadratkilometergrossen Tempel, in dessen Innerstem Minakshi trohnt. Sie ist die Göttin der Fischer und gleichzeitig die Schwester von Vishnu und Gefährtin von Shiva, der im Tempel das etwas entfernte Nebenzimmer bewohnt. Die Griechen nannten ihre Minakshi Hera. „Ist bei euch zu Hause Madurai oder Chidambaram?“ ist die tamilische Frage danach, wer zu Hause die Hosen anhat. Es gibt Frauen, die tragen unter ihren Röcken oder Saris Hosen, wie auch Männer, die unter ihren Lendentüchern oder Beinkleidern Hosen tragen. In Chidambaram haben die zweihundert Priester seit zwei Jahren wieder das Sagen, nachdem sie in einem jahrelangen Rechtsstreit das alleinige Recht auf Verwaltung und Betrieb des Tempels vom Staat zurückerkämpfen konnten – wie die Frauenrechtlerinnen vor dem obersten Gericht in Mumbai. Diese Priester gehören zur tausendköpfigen endogamen Gemeinschaft der Dikshitar, die alle gleich um den Tempel wohnen. Die Priesterfamilien verheiraten ihre Töchter mit sieben, ihre Söhne mit zwölf Jahren. Sie öffnen den Tempel morgens um sechs, schliessen ihn während der Hitze und Siesta zwischen 13 und 17 Uhr und feiern dann wieder bis 22 Uhr. Es gibt nirgends Zutrittskontrollen oder Sperrzonen für Ungläubige. Im Tempel wohnt Nataraja. Er ist kein anderer als Shiva, der hier in Chidambaram seinen legendären Tanz aufgeführt hat. Dazu gibt es zwei Versionen. Einmal hat Shiva an ebendem Ort seine Partner-Göttin Kali angetroffen, wie sie blutverspritzt wie wild auf den Leichen der Besiegten tanzte. Shiva hat sich totgestellt und als die rasende Göttin auf Shivas Brustkorb hüpfte und es nicht knackte, erkannte sie ihren Göttergatten und soll die Zunge herausgestreckt und sich geschämt haben. Ob sie rot geworden ist vor Scham, lässt sich nicht sagen, weil Kali tiefschwarze Haut hat. In der anderen Version trifft Shiva auf einem seiner göttlichen Streifzüge eben hier in Chidambaram eine Schar scheinheiliger Priester. Er rief seinen Götter-Kumpel Vishnu in Gestalt der Mohini herbei, welche die Weisen bezirzte. In dieser Zeit beschlief Shiva die Frauen der Weisen. Die Scheinheiligen wurden rot vor Wut und hetzten wilde Tiere auf Shiva, der diese tötete, sich deren Haut um die Lenden schlang und mit dem Finger Richtung Himmel zeigte. Die Weisen riefen den zwergenhaften Dämon Apasmara zu Hilfe, doch Shiva stieg auf dessen Schultern und führte seinen kosmischen Tanz auf, so dass die Häretiker den Glauben wiederfanden. Der tanzende Shiva, Nataraja, war der Familiengott der mittelalterlichen Königsdynastie der Chola, die jahrhundertelang über ganz Südindien herrschte und viele monumentale Bauwerke errichten liess. Vor tausend Jahren hat einer dieser Könige von einer Reise dreitausend vor langer Zeit ausgewanderter Dikshitar mitgebracht haben, um den erweiterten Tempel mit persönlich ausgewähltem Personal auszustatten. Die Dikshitar sind wahrlich stattlich: Sie verrichten ihren Tempeldienst mit sichtlichem Stolz, nur mit etwas Tuch umschlungen, mit grossen segensreichen Zeichen auf der Stirn und der Brust, das Kopfhaar hochrasiert und das lange Bündel Haar links auf dem Kopf verknotet, geschmeidig in ihren Bewegungen wie Raubkatzen oder Yogi.

Unverheiratete Frauen schlafen neben ihrer Mutter. Nicht nur die kleinen Mädchen bei den Dikshitar, sondern auch Gayatri, die vierzigjährige Hausvorsteherin im Shanti-Gebäude. Schwarz und rund wie Kali und mit deren Kraft, aber meist lächelnd und viel lachend. Sie hat sich dem Shanti-Projket verschrieben und gewidmet, nachdem ihre Familie ihren selbst auserwählten Bräutigam ablehnte. Das nimmt sie ihrer Mutter nicht übel und schläft weiterhin neben ihr. Die Mutter ihrerseits gibt ihr manchmal was Gekochtes mit nach Shanti, um den Mittagstisch anzureichern. Hindus lieben Hausrezepte und ihre Hausgötter.  Da sind die Muslime, die ihren Glauben bis nach Südindien ausgebreitet haben, strenger. Sie lieben nur den Einen und essen nur nach Rezept des Einen. Das ist für die muslimische Familienköchin eine Verdinglichung im Namen Gottes, zumindest nach aufgeklärter Analyse. Amnesty international ist deshalb begeistert von einem saudischen Wissenschaftsrat, der die Frau rechtlich nicht mehr als Ding bezeichnet, sondern als Säugetier. Sie müssen also artgerecht gehalten und dürfen nicht mehr gesteinigt werden, sondern müssen vorschriftsgemäss geschlachtet werden.

Fünf Schwestern um die vierzig und deren Eltern stiegen bei Pondicherry ins Meer, um ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen. Zwei Mädchen und die Mutter wurden tot aus dem Wasser gefischt, die anderen wurden lebend in ein Fischerboot gezogen. Hermalata, welche die Geschichte vor gut zehn Jahren ins Rollen brachte, lebt, auch nach einem weiteren Selbsmordversuch. Die ganze Familie lebte seit langer Zeit im Ashram, das auf Aurobindo Ghosh und Mirra Alfassa zurückgeht. Letztere hat 1968 Auroville gegründet, ein von der UNO anerkanntes internationales Selbstverwaltungsprojekt, das ursprünglich für 50’000 Personen geplant war. Heute leben dort rund 2000 Aurovillianer (zufällig die Grösse des Dikshitar-Clans?) und bezahlen sich selbst eine monatliches Grundeinkommen von 6000 Rupies. Auroville wird durch einen Hippie-Rat regiert und durch Kooptation beschränkt. Auroville bäckt das beste Brot, hat frischen Salat, produziert exquisite Räucherstäbchen und bietet herrliche Ferienwohnungen im Palmenwald am Meer. Hermalas Familie lebte im alten Ashram. Wer im Geist der Gründer und in Gemeinschaft derer Verehrer leben will, gibt sein ganzes Eigentum der Gemeinschaft und wird dafür vom Ashram mit Essen, Bildung, Sportmöglichkeiten und Aufgaben oder Beschäftigung versorgt. Der Aurobindo-Trust ist der grösste Immobilienbesitzer in Pondy und betreibt dutzende Verkaufsläden, Spitäler, Gästehäuser und eine eigene Poststelle. Die wichtigsten Regeln dieser spirituellen Bewegung sind: Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex, keine Politik. Aurobindo hatte nicht weniger als sieben Bewusstseinsstufen ausgemacht. Er selbst hat im November 1926 das zweithöchste Overmind verwirklicht, das zum göttlichen Supramental führt. Hermalata aber wurde erwischt, als sie eine der heutigen Regeln übertrat, teilte der Sprecher des Ashram mit, ohne weitere Präzisierung. Das Gericht unterstützte die Ashram-Führung: Es sei notwendig, solche Verletzung der Verhaltensregeln streng zu sanktionieren, um deren Glaubwürdigkeit und Durchsetzung zu garantieren. Nun warf Hermalata der bigotten Gegenpartei vor, im Rahmen des Verfahrens sexuell missbraucht worden zu sein. Die Ashram-Leitung bot der Familie die Übernahme der Existenzkosten ausserhalb des Ashrams an, doch die Familie Prasad lehnte das Angebot ab und Hermalatas Schwestern brachten weitere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs vor. Das Gericht sprach die Aurobindo-Trustees von diesen Vorwürfen frei und setzte nach zehnjährigem Streit die polizeiliche Räumung durch. Danach drohten die Ausgewiesenen mit Selbstmord und stiegen am Tag darauf ins Wasser. Noch ein Tag später treffen gegen Mittag Dutzende von Schwarzhemden auf ihren Motorrädern vor dem Ashram auf und versuchen sich mit Steinwürfen und Eisenstangen Zutritt zu verschaffen. Sie verlangen die Verstaatlichung des Ashrams und die Einziehung aller Besitztümer. Lokale Politiker fordern bessere Polizeiarbeit. Christen zünden Kerzen an und schweigen.