Vertraulich

Im Herzen war ich nie Leninist, auch wenn ich in der Pubertät in der marxistisch-leninistische Weltkarte rot geboren wurde. *Vertrauen ist gut“, soll Lenin gesagt haben und der Satzanfang tönte auch für mich völlig ok, und dann soll er „Kontrolle ist besser“ nachgeschoben haben. Wahrscheinlich war das bei Iljitsch (das hab ich jetzt kontrolliert, ich hab es im ersten Versuch richtig geschrieben, obwohl ich das Wort bisher kaum ausgesprochen und noch nie geschrieben habe) kein bösartiger Kontrollwutanfall, sondern durch seine Sozialisation bedingt. Er zitierte in seinen Reden gerne mal ein russisches Sprichwort, das sinngemäss aussagt, dass man vertrauen solle, dann aber auch prüfen solle.

Das ist ein Riesenunterschied und doch keiner. Das originale Sprichwort scheint die Gegensätze gleichwertig zu vereinen oder zumindest nebeneinander zu stellen, die deutsche (ich finde das Ausrufezeichen auf meinem neuen Mac nicht- jetzt, das ist jetzt später, hab ich das Symbol gefunden: !) Übersetzung stellt die eigenhändige empirische Verifizierung als objektives Datum über die bloss subjektive Wahrheitsfindung durch etwas Vertrauen ins Vertrauen. Vertrauen und Kontrolle sind Gegensätze, die in der Betriebspsychologie als kommunizierende Gefässe beschrieben werden. Hängt mit der Organisationskultur zusammen. Lenin meinte seinen Ausspruch wohl nur als empiristisches Bekenntnis, waren doch die Empiriker über alle politischen Grenzen hinweg historisch auf der Gewinnerseite. Er selbst gehörte ins Zentrum des Empire of Empiricism. Heute ist klar, dass Kontrolle eine Funktion ist, die der Polizei oder anderen Exekutivmächten vorbehalten ist.

Die Kennung „Vertraulich“ bedeutet, dass der Autor einer Schriftsache den Text für geeignet hält, dass er ausserhalb des abschliessenden Adressatenkreises Missverständnisse hervorrufen könnte, die jemandem Schaden zufügen könnten. Das ist politische und juristische Diktion. Empirisch und logisch sind Fehlschlüsse wohl nie auszuschliessen. Vertraulichkeit ist eine Geheimhaltungsstufe, die zwar empirisch und logisch nicht kontrolliert werden kann, aber politisch und juristisch sanktioniert wird. Der amerikanische CIA-Mitarbeiter, der später öffentlich die Folter resp. die erweiterten Verhörmethoden von Terrorverdächtigen nicht nur als unmenschlich, sondern auch als nutzlos bezeichnet hat, weil kein einziger der Gefolterten resp der unter den Umständen der erweiterten Verhörmethoden Einvernommenen eine zusätzliche Information absonderte, wurde ins Gefängnis gesteckt. Rente weg. Unten anstehen. Die Richter hielten seine Aussage für geeignet, den Glauben an die Obrigkeit zu erschüttern.

Sprachlich, genauer: lexikalisch ist „vertraulich“ das Adjektiv zu „Vertrauen“. Und da beginnt natürlich das Chaos. Vertrauen ist gut, anderes vielleicht besser. Die Psychologen versuchen sich den Begriff als empirisch nachweisbares psychisches Phänomen anzueignen als primär durch ihre Disziplin zu untersuchen und zu erklären, Theologen und Philosophen sind da mehr historisch als systematisch-analytisch noch am Futternapf, aber da kommen die Neurobilologen, die Neuro- und Bio-Chemiker dazu und bringen neben der von den Psychologen bereits als allein erkenntnisversprechend akzeptierten empirischen Methodik auch ein deterministisches Ursache-Wirkung-Weltbild ein, das als Parasit der Welt als solcher lebt. Wenn es so etwas wie Vertrauen gibt, dann muss das eine Ursache haben, eine notwendige und hinreichende Bedingung. Ein rationaler Grund oder eine systemische Begründung reichen da nicht, heutige Erkenntnis will Naturkausalitäten und Physik.

Woher kommt das Vertrauen? Nach heutiger Erkenntnis von unserer körpereigenen Wunderdroge Oxytocin. Das Neuropeptid wird mitten im Kopf, im Mittelhirn, im Hypothalamus gebildet und dann in der Hypophyse bereitgestellt. Oxytocin wirkt als Hormon und als Neurotransmitter. Vor gut hundert Jahren wurde der Stoff entdeckt und die physiologische Wirkung beschrieben: Oxytocin bewirkt eine Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur und verursacht die Milchejektion. 1955 wurde der Nobelpreis für Chemie demjenigen verliehen, der Oxytocin synthetisierte. Seitdem gibt es die Wehentropfen. Die Zusammenhänge und Kausalketten waren in der gynäkologischen Abteilung überschaubar.

Heute gibt es psychologische Forscher, die mit sozialwissenschaftlichen Methoden – in der Psychologie heisst das: formelhaft gelernter Statistik – Gruppen von tierischen und menschlichen Subjekten mit zusätzlichem Oxytocin versorgen, was sie der statistikgeschuldeten Kontrollgruppe vorenthalten. Die Tierversuche zeigen, dass die Zusatzdosis Oxytocin (sag ja nie: Oxytoxin – damit würdest Du die Wunderdroge auf die Giftliste setzen) etwas schläfrig macht. So, wie die Oxytocin-Ausschüttung beim Organsmus, da sind wir ja noch eins mit den lieben Tieren. Und die Mäuse rennen natürlich weniger schnell weg. Dem sagen dann die Psychologen „Angstreduktion“. Aber funktioniert das auch beim Menschen? fragt das Wochenblatt Die Zeit. Aber sicher schon: Die Gruppen, welche unter wissenschaftlichen Bedingungen sich regelmässig eine gehörige Portion Oxytocin auf die Nasenschleimhaut sprayten, fühlten sich vielleicht ein wenig schläfrig, aber das wurden sie nicht gefragt. Die Psychologenpolizei kontrollierte aber nicht nur die Wirkstoffzufuhr, sondern auch die Auswirkungen auf Streitverhalten bei Paaren, das Liebesleben, das Risikoverhalten in Spielsituationen, die Reaktion auf Systemfremdes, das allgemeine Lebensgefühl. Grundtenor: Nestverhalten, Nestgefühle. Das Oxytocin dockt in der Amygdala an, dem neurologische Bio-Ich. Die Amygdala mischt mit bei Atem, Herzrhythmus, Sexualleben, Angriff-Flucht-Meccano, autistischem Spektrum, Sozialverhalten. Die Sache ist verdammt kompliziert, und es ist auch unklar, ob die mitentscheidende Oxytocin-Rezptorenbildung in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung steht zur Oxytocon-Bildung und -Ausschüttzung oder ob dazu quantentheoretische Grundlagen miteinbezogen werden müssten. Ein klinischer Psychologe hat festgestellt, dass Oxytocin keine Empfindungen schafft, sondern eine Art Geschmacksverstärker sei. Es ist auch nicht feststellbar, ob das Oxytocin aus dem Nasenspray über den Riechnerv oder über die Blutbahnen das Gehirn erreicht. Zur Klärung dieser Frage würde ich einen persönlichen Beitrag leisten und an einem entsprechenden Versuch teilnehmen – für ein Mittagessen.

Auf jeden Fall scheint festzustehen, dass der Oxytocin-Spiegel durch Einnahme von MDMA erhöht wird. Nach Ansicht der Chemiker ist dies der Grund für die Beliebtheit von Partydrogen. Gute Laune und viel Liebe. Vertrauen in die Welt und Selbstvertrauen. Vertraulich werden. Nackenkraulen. Schnurren im Nest. Und das Erstaunliche ist, dass das bei fast allen so wirkt, obwohl nicht mal die Hälfte des illegalen Angebotes den entsprechenden Wirkstoff enthält. Beim Schlucken braucht es Vertrauen, sonst wirken weder Drogen noch Placebo. Madonna und andere Pop-Stars nehmen die Marken-Linie und schwören auf Dolly, als reines MDMA besungen, aber auf dem Schwarzmarkt mit beliebigen Inhaltsstoffen. Echte Kenner konsumieren nur die Kristallform. Das wäre allenfalls etwas für die Jugendfreundin von Thomas, die Gemmologin: Es braucht ein geschultes Auge, um den Ausgangsstoff optisch zu identifizieren.

Vertrauen ist die Bedingung dafür, dass wir Chancen sehen und nutzen. Das ist eher eine sprachlogische und philosophische Definition. Im Sport als axiomatische Wahrheit Alltag. Coaches und Mentaltrainer, von der Ausbildung her vielleicht Psychotherapeuten, bauen darauf Ausbilungs- und Trainingspläne. Visualisieren des gewünschten Verlaufes, Übungssequenzen zum Ablauf, psychische Emotionsfreiheit, Gelassenheit und Konzentration, Gleichgewichtsübungen und Statistikkenntnisse mit einem Schuss positivem Denken. Am wirksamsten umzusetzen und abzurufen mit Zeremonien, Ritualen, Amuletten und mit netten Gewohnheiten angereichert oder gar geschmückt. Vertrauen ist der Seele gegeben und die menschliche Freiheit in der Form der Willenskraft wirkt als Geschmacksverstärker.