Götter, Geschlechter und Bigotte

Nicht Nicken oder Kopfschütteln erwartet Dich in Indien, sondern Kopfwackeln. Es sieht manchmal ziemlich dämlich aus, vor allem wenn dazu der Mund halb offen steht. Keine Ahnung, wovon Du redest, aber ich höre Dir zu, scheint das Wackelgesicht auszudrücken. Auf jeden Fall ist es nett gemeint. Aber so klar, wie wir das manchmal gerne hätten, ist die Mimik nicht, auch wenn das Kopfwackeln durch verbale Zustimmung begleitet wird. Die Zustimmung und Bejahung ist auch nett gemeint, aber wer weiss schon, wie das alles weitergeht. Manche Männer lassen nach dem grossen Wackeln die Zunge raushängen, einfach so, ohne zu hecheln.

Händeschütteln muss auch zwischen Männern nicht sein. Eine leichte Verneigung zum Gegenüber, ein gemeinsamer Augenblick des Lächelns lässt Respekt und Zuneigung erfahren. Frauen die Hand entgegenzustrecken ist unverschämt und übergriffig, auch wenn die Frau höflich die reine rechte Hand hebt und ergreifen lässt. Dann beschämt und konsterniert den Blick senkt. Die menschlichen Geschlechter leben in verschiedenen Welten mit gegenseitigen Verhaltenserwartungen, die sich beidseitig bedingen und durchaus etwas Patriarchalisches haben. Die Funktionen Familienoberhaupt, Grossfamilienoberhaupt, Sippenoberhaupt und Dorfoberhaupt sind traditionell dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Frauen sind auch von bestimmten nichtfamiliären Rollen ausgeschlossen, z.B. gibt es Tempel, deren innerstes Heiligtum nur durch Männer betreten werden darf. Genauer: Nur durch den vom obersten Tempeldiener auserwählten Sohn, dem legitimen Nachfolger. Einige Frauen wollten den Zutritt zum Allerheiligsten eines solchen Tempels gerichtlich durchsetzen. Der Fall war nun vor dem obersten Gericht anhängig und wurde auch in den Zeitungen diskutiert. Die ausgeschlossenen Frauen berufen sich auf den politischen Glaubenssatz des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes als Grundlage ihres politischen Feminismus. Auf der anderen Seite erklärt der angeklagte Tempelpriester, das Männervorrecht sei blosse lokale Tradition und unpolitisch. Der Ursprung sei darin zu finden, dass das innerste Heiligtum von einer derart starken Energie sei, dass das weibliche Geschlecht wohl Schaden nehmen könnte. Die Women Warriors of Mother Earth bekamen vorm Gericht die Zutrittserlaubnis zum Shani-Tempel. Ungeachtet des Gerichtsurteils haben dann hunderte aufgebrachte Dorfbewohner die etwa 30 Aktivitinnen am Betreten des Tempels gehindert. Die Polizei schritt ein, es gab Festnahmen. Um die Lage zu beruhigen, hatte die Tempelverwaltung daraufhin vorübergehend sowohl Frauen als auch Männern den Zugang zum Tempel untersagt. Schliesslich wurden die Aktivistinnen zum Heiligtum vorgelassen. Danach reinigten die Priester und Diener ihren Tempel mit einem aufwändigen Ritual. Die Frauen aus dem Dorf werden das Innere des Tempels sicher nicht betreten, die halfen ja in der Vorwoche, den Frauenrechtlerinnen den Zutritt zu verwehren.

Das Geschlechterverhältnis scheint eher einseitig, ist aber vor allem widersprüchllich. Es gibt in Madurai einen fast tausendjährigen und quadratkilometergrossen Tempel, in dessen Innerstem Minakshi trohnt. Sie ist die Göttin der Fischer und gleichzeitig die Schwester von Vishnu und Gefährtin von Shiva, der im Tempel das etwas entfernte Nebenzimmer bewohnt. Die Griechen nannten ihre Minakshi Hera. „Ist bei euch zu Hause Madurai oder Chidambaram?“ ist die tamilische Frage danach, wer zu Hause die Hosen anhat. Es gibt Frauen, die tragen unter ihren Röcken oder Saris Hosen, wie auch Männer, die unter ihren Lendentüchern oder Beinkleidern Hosen tragen. In Chidambaram haben die zweihundert Priester seit zwei Jahren wieder das Sagen, nachdem sie in einem jahrelangen Rechtsstreit das alleinige Recht auf Verwaltung und Betrieb des Tempels vom Staat zurückerkämpfen konnten – wie die Frauenrechtlerinnen vor dem obersten Gericht in Mumbai. Diese Priester gehören zur tausendköpfigen endogamen Gemeinschaft der Dikshitar, die alle gleich um den Tempel wohnen. Die Priesterfamilien verheiraten ihre Töchter mit sieben, ihre Söhne mit zwölf Jahren. Sie öffnen den Tempel morgens um sechs, schliessen ihn während der Hitze und Siesta zwischen 13 und 17 Uhr und feiern dann wieder bis 22 Uhr. Es gibt nirgends Zutrittskontrollen oder Sperrzonen für Ungläubige. Im Tempel wohnt Nataraja. Er ist kein anderer als Shiva, der hier in Chidambaram seinen legendären Tanz aufgeführt hat. Dazu gibt es zwei Versionen. Einmal hat Shiva an ebendem Ort seine Partner-Göttin Kali angetroffen, wie sie blutverspritzt wie wild auf den Leichen der Besiegten tanzte. Shiva hat sich totgestellt und als die rasende Göttin auf Shivas Brustkorb hüpfte und es nicht knackte, erkannte sie ihren Göttergatten und soll die Zunge herausgestreckt und sich geschämt haben. Ob sie rot geworden ist vor Scham, lässt sich nicht sagen, weil Kali tiefschwarze Haut hat. In der anderen Version trifft Shiva auf einem seiner göttlichen Streifzüge eben hier in Chidambaram eine Schar scheinheiliger Priester. Er rief seinen Götter-Kumpel Vishnu in Gestalt der Mohini herbei, welche die Weisen bezirzte. In dieser Zeit beschlief Shiva die Frauen der Weisen. Die Scheinheiligen wurden rot vor Wut und hetzten wilde Tiere auf Shiva, der diese tötete, sich deren Haut um die Lenden schlang und mit dem Finger Richtung Himmel zeigte. Die Weisen riefen den zwergenhaften Dämon Apasmara zu Hilfe, doch Shiva stieg auf dessen Schultern und führte seinen kosmischen Tanz auf, so dass die Häretiker den Glauben wiederfanden. Der tanzende Shiva, Nataraja, war der Familiengott der mittelalterlichen Königsdynastie der Chola, die jahrhundertelang über ganz Südindien herrschte und viele monumentale Bauwerke errichten liess. Vor tausend Jahren hat einer dieser Könige von einer Reise dreitausend vor langer Zeit ausgewanderter Dikshitar mitgebracht haben, um den erweiterten Tempel mit persönlich ausgewähltem Personal auszustatten. Die Dikshitar sind wahrlich stattlich: Sie verrichten ihren Tempeldienst mit sichtlichem Stolz, nur mit etwas Tuch umschlungen, mit grossen segensreichen Zeichen auf der Stirn und der Brust, das Kopfhaar hochrasiert und das lange Bündel Haar links auf dem Kopf verknotet, geschmeidig in ihren Bewegungen wie Raubkatzen oder Yogi.

Unverheiratete Frauen schlafen neben ihrer Mutter. Nicht nur die kleinen Mädchen bei den Dikshitar, sondern auch Gayatri, die vierzigjährige Hausvorsteherin im Shanti-Gebäude. Schwarz und rund wie Kali und mit deren Kraft, aber meist lächelnd und viel lachend. Sie hat sich dem Shanti-Projket verschrieben und gewidmet, nachdem ihre Familie ihren selbst auserwählten Bräutigam ablehnte. Das nimmt sie ihrer Mutter nicht übel und schläft weiterhin neben ihr. Die Mutter ihrerseits gibt ihr manchmal was Gekochtes mit nach Shanti, um den Mittagstisch anzureichern. Hindus lieben Hausrezepte und ihre Hausgötter.  Da sind die Muslime, die ihren Glauben bis nach Südindien ausgebreitet haben, strenger. Sie lieben nur den Einen und essen nur nach Rezept des Einen. Das ist für die muslimische Familienköchin eine Verdinglichung im Namen Gottes, zumindest nach aufgeklärter Analyse. Amnesty international ist deshalb begeistert von einem saudischen Wissenschaftsrat, der die Frau rechtlich nicht mehr als Ding bezeichnet, sondern als Säugetier. Sie müssen also artgerecht gehalten und dürfen nicht mehr gesteinigt werden, sondern müssen vorschriftsgemäss geschlachtet werden.

Fünf Schwestern um die vierzig und deren Eltern stiegen bei Pondicherry ins Meer, um ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen. Zwei Mädchen und die Mutter wurden tot aus dem Wasser gefischt, die anderen wurden lebend in ein Fischerboot gezogen. Hermalata, welche die Geschichte vor gut zehn Jahren ins Rollen brachte, lebt, auch nach einem weiteren Selbsmordversuch. Die ganze Familie lebte seit langer Zeit im Ashram, das auf Aurobindo Ghosh und Mirra Alfassa zurückgeht. Letztere hat 1968 Auroville gegründet, ein von der UNO anerkanntes internationales Selbstverwaltungsprojekt, das ursprünglich für 50’000 Personen geplant war. Heute leben dort rund 2000 Aurovillianer (zufällig die Grösse des Dikshitar-Clans?) und bezahlen sich selbst eine monatliches Grundeinkommen von 6000 Rupies. Auroville wird durch einen Hippie-Rat regiert und durch Kooptation beschränkt. Auroville bäckt das beste Brot, hat frischen Salat, produziert exquisite Räucherstäbchen und bietet herrliche Ferienwohnungen im Palmenwald am Meer. Hermalas Familie lebte im alten Ashram. Wer im Geist der Gründer und in Gemeinschaft derer Verehrer leben will, gibt sein ganzes Eigentum der Gemeinschaft und wird dafür vom Ashram mit Essen, Bildung, Sportmöglichkeiten und Aufgaben oder Beschäftigung versorgt. Der Aurobindo-Trust ist der grösste Immobilienbesitzer in Pondy und betreibt dutzende Verkaufsläden, Spitäler, Gästehäuser und eine eigene Poststelle. Die wichtigsten Regeln dieser spirituellen Bewegung sind: Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex, keine Politik. Aurobindo hatte nicht weniger als sieben Bewusstseinsstufen ausgemacht. Er selbst hat im November 1926 das zweithöchste Overmind verwirklicht, das zum göttlichen Supramental führt. Hermalata aber wurde erwischt, als sie eine der heutigen Regeln übertrat, teilte der Sprecher des Ashram mit, ohne weitere Präzisierung. Das Gericht unterstützte die Ashram-Führung: Es sei notwendig, solche Verletzung der Verhaltensregeln streng zu sanktionieren, um deren Glaubwürdigkeit und Durchsetzung zu garantieren. Nun warf Hermalata der bigotten Gegenpartei vor, im Rahmen des Verfahrens sexuell missbraucht worden zu sein. Die Ashram-Leitung bot der Familie die Übernahme der Existenzkosten ausserhalb des Ashrams an, doch die Familie Prasad lehnte das Angebot ab und Hermalatas Schwestern brachten weitere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs vor. Das Gericht sprach die Aurobindo-Trustees von diesen Vorwürfen frei und setzte nach zehnjährigem Streit die polizeiliche Räumung durch. Danach drohten die Ausgewiesenen mit Selbstmord und stiegen am Tag darauf ins Wasser. Noch ein Tag später treffen gegen Mittag Dutzende von Schwarzhemden auf ihren Motorrädern vor dem Ashram auf und versuchen sich mit Steinwürfen und Eisenstangen Zutritt zu verschaffen. Sie verlangen die Verstaatlichung des Ashrams und die Einziehung aller Besitztümer. Lokale Politiker fordern bessere Polizeiarbeit. Christen zünden Kerzen an und schweigen.

Männergeschichten

Ohne Schlachten keine Hochzeit. Ein gern und oft gesprochenes Wort auf Kreta. Vielleicht aus der Zeit der osmanischen Herrschaft – der Prophet empfahl Schaffleisch zum Hochzeitsmahl. Die Bluttat geht der Vermählung voraus. Ich weiss nicht mehr, warum ich das Buch gesucht und gekauft habe. Warum ich es gelesen habe, weiss ich jetzt. Es wurde von einem Mann geschrieben, der seine Geschichte erzählt, Am 26. April jährt sich die Geschichte. Generalmajor Heinrich Kreipe, Kommandant der deutschen Wehrmacht auf Kreta, wurde an diesem Tag im Jahre 1944 von zwei Briten und einigen Kretern entführt. 1952 wurde die Geschichte als Buch, zwei Jahre später als Film publik. Autor war Moss, ein junger englischer Offizier, der an der Entführung beteiligt war. Sein Vorgesetzter war sein Landsmann Fermor, ein gebildeter Geheimdienstoffizier und weitgereister Griechenlandliebhaber. Nachdem Moss gestorben war, brachte Fermor seine Version zu Papier. Sie ist neulich in Buchform, auch auf Deutsch, veröffentlicht worden, kurze Zeit nach Fermors Tod.

28 Jahre nach der Entführung sehen sich Fermor und Kreipe zum ersten und letzten Mal wieder, im Studio des griechischen Fernsehens. Das war 1972. In diesem Jahre bin ich zum ersten Mal nach Kreta gereist. Ich war so beeindruckt, dass ich in den Folgesommern immer wieder nach Kreta fuhr, mit der Eisenbahn über Italien oder Jugoslawien nach Athen, dann mit der Fähre von Piräus in einen der kretischen Häfen. Mir hatten es die kretischen Männer angetan. Kniehohe enge Lederstiefel, Pluderhosen, schwarzes Hemd, ein Tuch um die Hüfte geschlungen. Mächtige Schnauzbärte, sonnengegerbte Haut, ein Fransentuch um den Kopf. Beim nächsten Besuch hinterliess ich bei der Ankunft in Chania meine Fussabdrücke bei einem Schuhmacher, so dass ich vor der Abreise massgefertigte Stiefel abholen konnte. Die Kreter sassen in stoischer Ruhe auf der Strasse oder gestikulierend am Spieltisch, rauchten und tranken, und wenn man einen nach seinem Namen fragte, hiess der Sophokles. Fermor und Moss trugen kretische Kleidung, bevor sie Kreipe entführten. Fermor sprach fliessend griechisch, vor Ort gelernt, der jüngere Moss musste den Mund halten.

Im Athener Studio sassen neben dem Moderator und Fermor einige gutgelaunte griechische Zeitzeugen und plauderten gestikulierend vor der Kamera. Dann wurde der zwanzig Jahre ältere Kreipe hinzugeführt. Von einem Mann, der ihn mit beiden Händen am Oberarm hielt und eng begleitete. Führt man so einen Gefangenen dem Richter vor oder macht man das aus Höflichkeit mit älteren Menschen? Der Mann wusste es wohl selber nicht. Fermor streckte ihm als erster die Hand hin und war gleich in der Rolle des Gastgebers. Der Moderator im Beatle style fragte Fermor, was Kreipe gesagt habe, nachdem diese beiden kurz in deutscher Sprache ihre Standpunkte klargemacht hatten: Kreipe befand, Fermor hätte sichtlich gealtert, Fermor versicherte Kreipe, er sehe genauso gut aus wie ehedem. Kreipe aber bekannte, dass die Beine etwas müde geworden waren. Fermor war der einzige im Studio, der nicht nur die griechische Sprache beherrschte. So war er völlig unerwartet als Dolmetscher gefordert, auf dass er griechisch wie deutsch nur noch stammelte. Der Moderator redete griechisch auf Kreipe ein, der freundlich lächelte. Fermor versuchte den Sinn wiederzugeben, irgendwas mit lange her, lange verziehen oder vergessen. Kreipe weiss schon, was gemeint ist, und antwortet mit einem knappen: „Darum sind wir hier!“. Nun versucht Fermor, dem Moderator und den anderen Gästen klar zu machen, was dieses kurze Staccato sinngemäss zu bedeuten hätte und er redet so lange, bis endlich alle klatschen. Nun gibt es Musik. Alle stehen auf. Niemand beginnt ein Tänzchen. Irgendwie ist’s peinlich.

Wir hatten schnell kapiert, dass es auf Kreta völlig ok war, deutsch zu reden, aber besser, nicht Deutscher zu sein. Wir Schweizer haben immerhin die griechischen Freiheitskämpfer von 1830 unterstützt. Die Deutschen kamen 1941 per Fallschirm und liessen bekanntmachen, dass jeder tote Deutsche die Erschiessung von 10 Griechen nach sich ziehe. In jedem Dorf fanden wir einen Einheimischen, der fliessend Deutsch redete und uns bei Verständigungsschwierigkeiten behilflich war. Einmal reisten wir in einer Gruppe von acht Jungs nach Kreta. Wir übernachteten im Freien oder unter Wirtshaustischen. Wir warteten viel, weil einer nicht da war oder weggeschickt wurde, um eine Erkundung zu machen. Wir spielten viel. Wir tranken viel, Wir lachten viel. Auf die Idee, einen General zu entführen, kamen wir nicht. Zu Hause trugen wir manchmal Militärjacken, die wir mit Aufschriften oder Ansteckern versahen, um dem fragenden Auge unsere Kriegsabscheu kundzutun.

Fermor und Moss trugen deutsche Militäruniform bei und einige Zeit nach der Entführung. Fermor sprach auch fliessend Deutsch. Moss wechselte mit dem gefangenen General in den folgenden Wochen nur einige oberflächliche Worte in Französisch. Die beiden Engländer stoppten zusammen mit einigen einheimischen Freunden und Helfern den Wagen des Generals, rissen Kreipe und den Fahrer aus dem Wagen, fesselten den verdutzten General und hielten ihm auf dem Hintersitz das Messer an die Gurgel, während Fermor den Generalshut aufsetzte und auf dem noch warmen Beifahrersitz Platz nahm. Der deutsche Fahrer wurde später getötet und seine Leiche versteckt, weil der völlig Benommene kaum gehen konnte und auf der Flucht nur hinderlich war. Fermors befreundete Partisanen hatten seine Gegenwehr mit einer Schlagwaffe, genannt Totschläger, unmöglich gemacht.

Moss als neuer Fahrer hatte seinen Spass, an der Villa Ariadne, dem schwerbewaffneten Wohnsitz des Generals, vorbeizufahren und das Erstaunen darüber förmlich zu greifen, dass der kräftigste und mit Standarten besetzte Opel nicht in den Hof einfuhr. Die Villa Ariadne liess der Engländer Arthur Evans bauen, der gleich nebenan die Ausgrabungen in Knossos leitete. In der Nähe des Entführungsortes gibt es ein Museum. Dort kann man einen alten Mercedes fotographieren, auf dem das Entführungsdatum und in lateinischen Buchstaben „Kraipe“ geschrieben steht. Den Opel des Generals liessen die Entführer auf der Flucht als falsche Fährte stehen, versehen mit schriftlichen Belehrungen für den Feind über angemessenes Verhalten nach einer Entführung unter britischem Kommando. Die Entführer mussten samt dem deutschen General weit und hoch über das schneebedeckte Ida-Gebirge, um hoffentlich von der Südküste per Schiff nach Kairo zu gelangen.

Einiges ist dumm gelaufen bei diese abenteuerlichen Heldentat. Eigentlich sollte Müller (Friedrich-Wilhelm) entführt werden, der seit der Besetzung Oberkommandant war und „der Schlächter“ genannt wurde. Müller kehrte nach Kreipes Entführung auf seinen Posten zurück, wurde schliesslich von den Briten festgenommen und dann von einem griechischen Gericht wegen seiner Greueltaten auf Kreta zum Tode verurteilt und erschossen. Kreipe wurde nach seiner Internierung in England mit der Diagnose „einfallsloser Gegner des NS-Regimes und schwacher Charakter“ nach Deutschland zurückgeschickt, wo er in Hannover – mit Ausnahme der besagten Athenreise – völlig zurückgezogen sein Leben zu Ende lebte. Die deutschen Führungszeugnisse waren alle exzellent („starke, energische Persönlichkeit von festem Charakter“). Kreipe war das dreizehnte Kind eines protestantischen Pfarrers und Berufssoldat. Fermor erzählte er manche Anekdote aus dem ersten Weltkrieg, der ihm besser als der zweite gefallen hatte. Kreipe und Fermor respektierten sich, weil sie die gleichen lateinischen Verse von Horaz auswendig gelernt hatten. Die BBC leistete sich einen Patzer, in dem sie die Meldung der Entführung mit dem Zusatz versah, dass der General von der Insel fortgeschafft werde, statt wie vereinbart „fortgeschafft wurde“ zu schreiben. In den niederen Rängen der deutschen Soldaten fast soviel Grinsen und Spotten über den entführten General wie bei den Einheimischen. Kreipes Adjutant wurde der Mittäterschaft beschuldigt und eingesperrt, was wiederum Kreipes Hohn heraufbeschwor: „Ein vollkommener Dummkopf“. Bei den Entführern war der General nicht beliebt, auch wenn man grössten Wert auf korrekte und dem Rang entsprechende militärische Ehrenbehandlung legte. Als es darum ging, die Deutschen mit einem kleinen Gefecht in die Irre zu leiten, wollte niemand auf den General aufpassen. Der Vorschlag fiel, die Würfel entscheiden zu lassen. Schliesslich rollten sie einen Riesenstein vor das Höhlenversteck, so dass alle an der Schiesserei teilnehmen konnten. Der General seinerseits schloss den kretischen Bewacher so ins Herz, dass dieser überzeugt war, er wolle flüchten. Kreipe fiel einmal vom Maultier und zweimal den Hang hinunter, sonst habe er sich ordentlich benommen. Auf dem Fluchtweg legten sich alle auf den Bauch und tranken aus einer kühlen Quelle Wasser, das unsterblich macht. Dem General wurde ein Becher gereicht und er wollte gleich noch einen. Seitdem fühlte er sich dem Feind noch mehr verbunden. Tagelang nachts unterwegs, tagsüber in Höhlen versteckt, manchmal mit einheimischem Besuch, so dass mit Raki und Tanz gefeiert wurde. Wenn das Glück auf ihrer Seite stand, riefen sie auf Griechisch „Gott existiert!“. Fermor bekommt jetzt körperliche Probleme, ein Arm wird fast unbeweglich. In Kairo wird er ins Krankenhaus kommen, weitgehend gelähmt. Nach drei Monaten ist der Spuk vorbei, die Ärzte zucken mit den Achseln. Moss und Fermor freuen sich auf die Offiziersmesse auf dem Schiff, Pink Gin, vielleicht Champagner. Vorerst sitzen sie aber alle noch am Ufer und zerbrechen sich den Kopf, weil niemand die Morsezeichen kennt für die vereinbarten Buchstaben, welche sie als Erkennungszeichen aussenden sollen. Das englische Schiff reagiert auf ihren optischen Dilletantismus nicht. In letzter Minute taucht einer auf, welcher den Morsecode kennt und die ganze Sache landet wie erhofft auf dem Wasser.

Die eine Bluttat findet sich in Fermors Schilderung nicht, aber im Anhang findet sich sein Original-Bericht an vorgesetzte Stelle. Fermor, der in einem Nachruf als charmante und gutaussehende Mischung von Byron und Bond beschrieben wird, hat aus Versehen seinen besten Freund Sancho erschossen, aus nächster Nähe. Sancho sass am Boden und packte seinen Sachen. Das Bein zweimal durchschossen und dann die Hüfte, mit einer Kugel, sechs Wunden, ohne viel Blutverlust, aber mit Todesfolge innert einer Stunde. „Bevor er starb, sprach er einige sehr freundliche Worte zu mir, die ich nie vergessen werde“, steht in Fermors Bericht. Anschliessend tat die ganze Gesellschaft einen feierlichen Schwur, hic et ubique, und auch die Version mit einem deutschen Schützen sollte selbst Sanchos Familie erst bekannt gemacht werden, wenn Fermor das Zeichen dazu gibt. Einige Monate zuvor hatte Sancho aus Versehen wenige Zentimeter an Fermor vorbeigeschossen. Auch damals nahmen das alle sehr gelassen. „Ich konnte und kann das nicht so sehen“, berichtete Fermor nach Kairo. In Kreta soll es immer noch deutlich mehr Schusswaffen als Einwohner geben, bei jeder Gelegenheit wird geknallt, aus einer gewissen Tradition. Insbesondere bei Hochzeiten ist balllern beliebter als böllern, und sowieso wird vorher geschlachtet.

Vertraulich

Im Herzen war ich nie Leninist, auch wenn ich in der Pubertät in der marxistisch-leninistische Weltkarte rot geboren wurde. *Vertrauen ist gut“, soll Lenin gesagt haben und der Satzanfang tönte auch für mich völlig ok, und dann soll er „Kontrolle ist besser“ nachgeschoben haben. Wahrscheinlich war das bei Iljitsch (das hab ich jetzt kontrolliert, ich hab es im ersten Versuch richtig geschrieben, obwohl ich das Wort bisher kaum ausgesprochen und noch nie geschrieben habe) kein bösartiger Kontrollwutanfall, sondern durch seine Sozialisation bedingt. Er zitierte in seinen Reden gerne mal ein russisches Sprichwort, das sinngemäss aussagt, dass man vertrauen solle, dann aber auch prüfen solle.

Das ist ein Riesenunterschied und doch keiner. Das originale Sprichwort scheint die Gegensätze gleichwertig zu vereinen oder zumindest nebeneinander zu stellen, die deutsche (ich finde das Ausrufezeichen auf meinem neuen Mac nicht- jetzt, das ist jetzt später, hab ich das Symbol gefunden: !) Übersetzung stellt die eigenhändige empirische Verifizierung als objektives Datum über die bloss subjektive Wahrheitsfindung durch etwas Vertrauen ins Vertrauen. Vertrauen und Kontrolle sind Gegensätze, die in der Betriebspsychologie als kommunizierende Gefässe beschrieben werden. Hängt mit der Organisationskultur zusammen. Lenin meinte seinen Ausspruch wohl nur als empiristisches Bekenntnis, waren doch die Empiriker über alle politischen Grenzen hinweg historisch auf der Gewinnerseite. Er selbst gehörte ins Zentrum des Empire of Empiricism. Heute ist klar, dass Kontrolle eine Funktion ist, die der Polizei oder anderen Exekutivmächten vorbehalten ist.

Die Kennung „Vertraulich“ bedeutet, dass der Autor einer Schriftsache den Text für geeignet hält, dass er ausserhalb des abschliessenden Adressatenkreises Missverständnisse hervorrufen könnte, die jemandem Schaden zufügen könnten. Das ist politische und juristische Diktion. Empirisch und logisch sind Fehlschlüsse wohl nie auszuschliessen. Vertraulichkeit ist eine Geheimhaltungsstufe, die zwar empirisch und logisch nicht kontrolliert werden kann, aber politisch und juristisch sanktioniert wird. Der amerikanische CIA-Mitarbeiter, der später öffentlich die Folter resp. die erweiterten Verhörmethoden von Terrorverdächtigen nicht nur als unmenschlich, sondern auch als nutzlos bezeichnet hat, weil kein einziger der Gefolterten resp der unter den Umständen der erweiterten Verhörmethoden Einvernommenen eine zusätzliche Information absonderte, wurde ins Gefängnis gesteckt. Rente weg. Unten anstehen. Die Richter hielten seine Aussage für geeignet, den Glauben an die Obrigkeit zu erschüttern.

Sprachlich, genauer: lexikalisch ist „vertraulich“ das Adjektiv zu „Vertrauen“. Und da beginnt natürlich das Chaos. Vertrauen ist gut, anderes vielleicht besser. Die Psychologen versuchen sich den Begriff als empirisch nachweisbares psychisches Phänomen anzueignen als primär durch ihre Disziplin zu untersuchen und zu erklären, Theologen und Philosophen sind da mehr historisch als systematisch-analytisch noch am Futternapf, aber da kommen die Neurobilologen, die Neuro- und Bio-Chemiker dazu und bringen neben der von den Psychologen bereits als allein erkenntnisversprechend akzeptierten empirischen Methodik auch ein deterministisches Ursache-Wirkung-Weltbild ein, das als Parasit der Welt als solcher lebt. Wenn es so etwas wie Vertrauen gibt, dann muss das eine Ursache haben, eine notwendige und hinreichende Bedingung. Ein rationaler Grund oder eine systemische Begründung reichen da nicht, heutige Erkenntnis will Naturkausalitäten und Physik.

Woher kommt das Vertrauen? Nach heutiger Erkenntnis von unserer körpereigenen Wunderdroge Oxytocin. Das Neuropeptid wird mitten im Kopf, im Mittelhirn, im Hypothalamus gebildet und dann in der Hypophyse bereitgestellt. Oxytocin wirkt als Hormon und als Neurotransmitter. Vor gut hundert Jahren wurde der Stoff entdeckt und die physiologische Wirkung beschrieben: Oxytocin bewirkt eine Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur und verursacht die Milchejektion. 1955 wurde der Nobelpreis für Chemie demjenigen verliehen, der Oxytocin synthetisierte. Seitdem gibt es die Wehentropfen. Die Zusammenhänge und Kausalketten waren in der gynäkologischen Abteilung überschaubar.

Heute gibt es psychologische Forscher, die mit sozialwissenschaftlichen Methoden – in der Psychologie heisst das: formelhaft gelernter Statistik – Gruppen von tierischen und menschlichen Subjekten mit zusätzlichem Oxytocin versorgen, was sie der statistikgeschuldeten Kontrollgruppe vorenthalten. Die Tierversuche zeigen, dass die Zusatzdosis Oxytocin (sag ja nie: Oxytoxin – damit würdest Du die Wunderdroge auf die Giftliste setzen) etwas schläfrig macht. So, wie die Oxytocin-Ausschüttung beim Organsmus, da sind wir ja noch eins mit den lieben Tieren. Und die Mäuse rennen natürlich weniger schnell weg. Dem sagen dann die Psychologen „Angstreduktion“. Aber funktioniert das auch beim Menschen? fragt das Wochenblatt Die Zeit. Aber sicher schon: Die Gruppen, welche unter wissenschaftlichen Bedingungen sich regelmässig eine gehörige Portion Oxytocin auf die Nasenschleimhaut sprayten, fühlten sich vielleicht ein wenig schläfrig, aber das wurden sie nicht gefragt. Die Psychologenpolizei kontrollierte aber nicht nur die Wirkstoffzufuhr, sondern auch die Auswirkungen auf Streitverhalten bei Paaren, das Liebesleben, das Risikoverhalten in Spielsituationen, die Reaktion auf Systemfremdes, das allgemeine Lebensgefühl. Grundtenor: Nestverhalten, Nestgefühle. Das Oxytocin dockt in der Amygdala an, dem neurologische Bio-Ich. Die Amygdala mischt mit bei Atem, Herzrhythmus, Sexualleben, Angriff-Flucht-Meccano, autistischem Spektrum, Sozialverhalten. Die Sache ist verdammt kompliziert, und es ist auch unklar, ob die mitentscheidende Oxytocin-Rezptorenbildung in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung steht zur Oxytocon-Bildung und -Ausschüttzung oder ob dazu quantentheoretische Grundlagen miteinbezogen werden müssten. Ein klinischer Psychologe hat festgestellt, dass Oxytocin keine Empfindungen schafft, sondern eine Art Geschmacksverstärker sei. Es ist auch nicht feststellbar, ob das Oxytocin aus dem Nasenspray über den Riechnerv oder über die Blutbahnen das Gehirn erreicht. Zur Klärung dieser Frage würde ich einen persönlichen Beitrag leisten und an einem entsprechenden Versuch teilnehmen – für ein Mittagessen.

Auf jeden Fall scheint festzustehen, dass der Oxytocin-Spiegel durch Einnahme von MDMA erhöht wird. Nach Ansicht der Chemiker ist dies der Grund für die Beliebtheit von Partydrogen. Gute Laune und viel Liebe. Vertrauen in die Welt und Selbstvertrauen. Vertraulich werden. Nackenkraulen. Schnurren im Nest. Und das Erstaunliche ist, dass das bei fast allen so wirkt, obwohl nicht mal die Hälfte des illegalen Angebotes den entsprechenden Wirkstoff enthält. Beim Schlucken braucht es Vertrauen, sonst wirken weder Drogen noch Placebo. Madonna und andere Pop-Stars nehmen die Marken-Linie und schwören auf Dolly, als reines MDMA besungen, aber auf dem Schwarzmarkt mit beliebigen Inhaltsstoffen. Echte Kenner konsumieren nur die Kristallform. Das wäre allenfalls etwas für die Jugendfreundin von Thomas, die Gemmologin: Es braucht ein geschultes Auge, um den Ausgangsstoff optisch zu identifizieren.

Vertrauen ist die Bedingung dafür, dass wir Chancen sehen und nutzen. Das ist eher eine sprachlogische und philosophische Definition. Im Sport als axiomatische Wahrheit Alltag. Coaches und Mentaltrainer, von der Ausbildung her vielleicht Psychotherapeuten, bauen darauf Ausbilungs- und Trainingspläne. Visualisieren des gewünschten Verlaufes, Übungssequenzen zum Ablauf, psychische Emotionsfreiheit, Gelassenheit und Konzentration, Gleichgewichtsübungen und Statistikkenntnisse mit einem Schuss positivem Denken. Am wirksamsten umzusetzen und abzurufen mit Zeremonien, Ritualen, Amuletten und mit netten Gewohnheiten angereichert oder gar geschmückt. Vertrauen ist der Seele gegeben und die menschliche Freiheit in der Form der Willenskraft wirkt als Geschmacksverstärker.