Ich kann Selbstmordattentäter irgendwie verstehen. So aus der Subjektperspektive. Wenn ich jetzt lebensmüde wäre und mich selbst aus dem Leben katapultieren möchte, würde ich es vorziehen, mich in Knall und Rauch aufzulösen, statt vor den Zug zu klatschen und vermatscht vom Triebwagen zu tropfen. Ob noch etwas mehr Leben von diesem serbelnden Drecksplaneten verschwindet, spielt keine Rolle. Der Vorteil eines Selbstmordattentats gegenüber einer ordinären Selbsttötung ist offensichtlich: Ich kann das Vorhaben in die Tat umsetzen, ohne selbst zur Tat schreiten zu müssen. Ich kann die andern dazu bringen, die Tat geschehen zu lassen, weil sie nicht zu verhindern ist. Der Auslösemechanismus übernimmt die göttliche Regie und ich führe das Endspiel auf.
Natürlich sind das heikle Aussagen, aus der Objektperspektive. Der christliche Kodex der Nächstenliebe spricht klar gegen den technisch assistierten und erweiterten Suizid. Bei uns im Abendland gibt es ja dergleichen auch nicht, und wenn doch, dann heisst das Amok (aus dem Malaiischen, nichts wirklich Heimisches). Aber stell Dir vor, Du bist Araber, Muslim, Du bist männlich, Du bist jung. Du hast die besten Jahre bei Mama schon hinter Dir und genug von dieser Welt und diesem Leben. Keine Lust, länger neben Deiner vom Papa ausgesuchten Ehefrau vor der Glotze zu sitzen und noch mehr Kinder zu füttern. Da soll doch der ältere Bruder mal dazuschauen, der kriegt eh keine eigene Familie hin. Und die Söhne und Töchter werden wissen, wo Du bist: Im paradiesischen Himmel! In einer solchen Situation ist es doch naheliegender, einen Sprengstoffgürtel zu kaufen statt einer Schwimmweste fürs Mittelmeer.
Es ist politisch korrekt, den Muslimen den Satz: „Ihr liebt das Leben, wir den Tod“ in den Mund zu legen. Aber das sind keine nekrophilen Thanatisten. Ich denke, die sind einfach nur scharf auf das Jenseits. Die lieben den ewigen Gott; die Seligkeit, in ihm zu leben. Und dies ist nun mal einfacher im Jenseits als im Diesseits. Blutzeuge seines Glaubens zu sein ehrt den Zeugen und den Erzeuger. Den Schlaf der Gerechten geniessen, wenn möglich Capri sehen und dann den verdienten Märtyrertod erleben und sterben. Das kann man doch niemandem verwehren.
Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, wir haben hier Redefreiheit. Zumindest im Rahmen einer Verbotsliste von Wörtern und Worten, welche obrigkeitlich unter Strafe stehen. Oder politisch solchen Begriffen oder Aussagen gleichgestellt werden. Wie der Eingangssatz diese Abschnittes. Hinter der Redefreiheit lauert das Böse, verkleidet als mutloser Staatsfeind. Man muss höllisch aufpassen, dass man das richtig versteht, wenn man solche Sachen hört oder liest. Das tönt alles schnell skandalös & richtig bös. Sprachliche Sorgfalt ist geboten. Der japanische Kulturwissenschafter Arata Takeda zichtigt die Verwendung des Begriffs Selbstmorattentat der Verharmlosung, da der Ausdruck die Aufmerksamkeit von der menschenverachtenden Praxis ab- und dem schreckenerregenden Subjekt zuwende. Korrekter sei der Begriff Opferattentat, allerdings nicht, weil das den Fokus auf die Opfer richtet (unschuldig, kommen wohl direkt in den Himmel. Wahrscheinlich Märtyrerhimmel), sondern weil das ganze Phänomen im Kern ein regressives Menschenopfer sei. Gebratene Ungläubige für Gottes feinen Riecher. Allerdings wird die Sache mit den Opfern und Tätern durch den Begriff des Opferattentäters noch verwirrlicher. Rituelle Tötungen von Familienangehörigen und anderen Mitmenschen sind seit der prähistorischen Zeit gang und gäbe und kommen in allen Kulturen vor. Das gehörte zur Menschwerdung wie der Gebrauch des Feuers und später der Schrift. Ob gottgewollt oder zufällig: Das steckt alles in uns. Mit Montaigne: Jeder Mensch trägt das ganze Menschsein in sich. Auch die ganze Geschichte des Menschseins, möchte man ergänzen.
Beim einem der ältesten und gut dokumentierten Selbstmordattentat war das Attentat und der Selbstmord allerdings keine Koinzidenz, sondern eher das zweite, der Selbstmord, die Konsequenz: Die olympische Göttin Athene interveniert und beschlägt Ajax mit Wahnsinn, als er ein Attentat auf die Armeeführung plant, weil diese Odysseus zu Achilles Nachfolger ernannt hat und nicht ihn. In seiner Verblendung schlachtete Ajax einige Herdentiere statt der Heerestiere. Ein Attentat im lateinischen Wortsinn: Das Beabsichtigte, das lediglich Versuchte. Das war Ajax dann so peinlich, dass er sich ins eigene Schwert stürzte. In Griechenland machte sowas keine Schule.
Christliche Jihadisten tauchen dann im 4. Jahrhundert in Nordafrika auf. Sie nannten sich selbst Heilige und bekämpften unter Einsatz ihres Lebens die Regierung, die Geldverleiher, Sklavenhalter, Grossgrundbesitzer, die besitzende Klasse und den Lieblingsfeind, die katholisch-orthodoxe Kirche. Die Rede ist von den Agonistikern, nicht zu verwechseln mit den Agnostikern, welche die Frage nach Gott für unentscheidbar halten. Die Agonistiker tanzten nachts an den Gräbern ihrer Märtyrer. Jeder hoffte und betete, selbst den Märtyrertod erleiden zu dürfen. Gelegentlich stürzten sie sich auch einfach so von einem Felsen. Weder Römer noch Vandalen konnten dieser frühkommunistischen Glaubensgemeinschaft beikommen. Die Spuren verlieren sich erst in der Islamisierung. Das wahre Vorbild der Selbstmordattentäter ist aber die biblische Figur Simson (Buch der Richter): Er brachte einen Tempel zum Einsturz und hat so 3000 Philister zur Hölle geschickt. Das ganze hat sich in Gaza abgespielt, wo diese Art des Märtyrertodes und Selbsmordattentates seither gang und gäbe ist.