Scire suscipio, ergo credo

Habe in Cabré gelesen, das Schweigen der Sammler (katalanischer Originaltitel: Jo confesso). Der schweift immer ab. Erzählt von jemandem, macht diesen dann zum Ich-Erzähler, neuer Dialog, das Erzähl-Ich wandert weiter. Diese Erzähltechnik ist seine Erfindung, eine literaturhistorische Innovation. Ich muss manchmal nachdenken, von wem die Rede ist, und nochmals nachlesen die Stelle, wo ein Er zu einem Ich wird und umgekehrt.
Dabei zündete ich mir eine Zigarette an, um zu rauchen, wie ich das gerne zur Lektüre mache. Die Rauchutensilien liegen auf einem kleinen Tablett im Caredda-Stil, das ich bequem neben mir auf dem Sofa liegen habe. Der Ascher fehlte. Ich wusste nicht, wo er war. Ich stand auf, ging ins Bad, kam mit dem verschwundenen Utensil zurück. Mit Nachdenken hätte ich eine Liste erarbeitet von möglichen Orten, welche ich dann in einer mit weiterem Nachdenken optimierten Reihenfolge aufgesucht hätte, um im Bad auszurufen: Ja klar, oder: Na sowas. Ich habe stattdessen einfach den Körper machen lassen.
Alle kennen das Phänomen. Wir nehmen vieles wahr, das nicht bis ins Bewusstsein vordringt, das wir also nicht wissen, nicht wissen können. Als jugendlicher Kinogänger hörte ich das Gerücht, in manchen Filmen seien einzelne Bilder von Coca Cola oder anderen Konsumangeboten vom Pausenkiosk eingefügt, welche wir nicht bewusst sehen können, aber die den Umsatz steigerten. Ich hielt das für möglich, aber unwahrscheinlich: Ich und meine Kinobegleitungen hatten noch nie einen solchen Film gesehen oder waren völlig immun gegen diese Hundertstel-Sekunden der optischen Suggestion. Jetzt habe ich bei einem katholischen Geistlichen gelesen, dass das mit den einzelnen Colabildern so sei und die experimentelle Psychologie da weiter forsche und mit Tachistoskopen experimentiere.

Subceptionsphänomen, unterschwellige Wahrnehmung. Polizeipsychologen haben Techniken entwickelt, zufälligen Augenzeugen von Unfällen und Verbrechen weit mehr Informationen zu entlocken, als sie gesehen zu haben wissen. Die Autonummer des Fluchtfahrzeuges ist dort gespeichert, wo die Coca-Cola-Reklame auf die Pause wartete. Kurz Reize von Hundertstel- oder gar Tausendstel-Sekunden werden zwar von den Nerven aufgenommen, aber kommen nicht zu Bewusstsein. Andererseits wehrt der Körper subjektiv negativ konnotierte Wahrnehmungsinhalte so weit wie möglich ab und versucht das Unbewusste mit schönen Eindrücken zu beglücken. Der Körper fällt ästhetische und moralische Urteile. Ohne dass wir es wissen, noch erfahren – es geschieht uns. Auf unser Unbewusstes ist Verlass. Dort, wo das Wissen aufhört, fängt der Glaube an. Unser Körper ist so ein Glaubensorgan. Das weiss man heute. Wir glauben mehr, als wir wissen. Weil ich das weiss, glaube ich.

Von Opferattentätern & Selbstmordschläfern

Ich kann Selbstmordattentäter irgendwie verstehen. So aus der Subjektperspektive. Wenn ich jetzt lebensmüde wäre und mich selbst aus dem Leben katapultieren möchte, würde ich es vorziehen, mich in Knall und Rauch aufzulösen, statt vor den Zug zu klatschen und vermatscht vom Triebwagen zu tropfen. Ob noch etwas mehr Leben von diesem serbelnden Drecksplaneten verschwindet, spielt keine Rolle. Der Vorteil eines Selbstmordattentats gegenüber einer ordinären Selbsttötung ist offensichtlich: Ich kann das Vorhaben in die Tat umsetzen, ohne selbst zur Tat schreiten zu müssen. Ich kann die andern dazu bringen, die Tat geschehen zu lassen, weil sie nicht zu verhindern ist. Der Auslösemechanismus übernimmt die göttliche Regie und ich führe das Endspiel auf.

Natürlich sind das heikle Aussagen, aus der Objektperspektive. Der christliche Kodex der Nächstenliebe spricht klar gegen den technisch assistierten und erweiterten Suizid. Bei uns im Abendland gibt es ja dergleichen auch nicht, und wenn doch, dann heisst das Amok (aus dem Malaiischen, nichts wirklich Heimisches). Aber stell Dir vor, Du bist Araber, Muslim, Du bist männlich, Du bist jung. Du hast die besten Jahre bei Mama schon hinter Dir und genug von dieser Welt und diesem Leben. Keine Lust, länger neben Deiner vom Papa ausgesuchten Ehefrau vor der Glotze zu sitzen und noch mehr Kinder zu füttern. Da soll doch der ältere Bruder mal dazuschauen, der kriegt eh keine eigene Familie hin. Und die Söhne und Töchter werden wissen, wo Du bist: Im paradiesischen Himmel! In einer solchen Situation ist es doch naheliegender, einen Sprengstoffgürtel zu kaufen statt einer Schwimmweste fürs Mittelmeer.

Es ist politisch korrekt, den Muslimen den Satz: „Ihr liebt das Leben, wir den Tod“ in den Mund zu legen. Aber das sind keine nekrophilen Thanatisten. Ich denke, die sind einfach nur scharf auf das Jenseits. Die lieben den ewigen Gott; die Seligkeit, in ihm zu leben. Und dies ist nun mal einfacher im Jenseits als im Diesseits. Blutzeuge seines Glaubens zu sein ehrt den Zeugen und den Erzeuger. Den Schlaf der Gerechten geniessen, wenn möglich Capri sehen und dann den verdienten Märtyrertod erleben und sterben. Das kann man doch niemandem verwehren.

Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, wir haben hier Redefreiheit. Zumindest im Rahmen einer Verbotsliste von Wörtern und Worten, welche obrigkeitlich unter Strafe stehen. Oder politisch solchen Begriffen oder Aussagen gleichgestellt werden. Wie der Eingangssatz diese Abschnittes. Hinter der Redefreiheit lauert das Böse, verkleidet als mutloser Staatsfeind. Man muss höllisch aufpassen, dass man das richtig versteht, wenn man solche Sachen hört oder liest. Das tönt alles schnell skandalös & richtig bös. Sprachliche Sorgfalt ist geboten. Der japanische Kulturwissenschafter Arata Takeda zichtigt die Verwendung des Begriffs Selbstmorattentat der Verharmlosung, da der Ausdruck die Aufmerksamkeit von der menschenverachtenden Praxis ab- und dem schreckenerregenden Subjekt zuwende. Korrekter sei der Begriff Opferattentat, allerdings nicht, weil das den Fokus auf die Opfer richtet (unschuldig, kommen wohl direkt in den Himmel. Wahrscheinlich Märtyrerhimmel), sondern weil das ganze Phänomen im Kern ein regressives Menschenopfer sei. Gebratene Ungläubige für Gottes feinen Riecher. Allerdings wird die Sache mit den Opfern und Tätern durch den Begriff des Opferattentäters noch verwirrlicher. Rituelle Tötungen von Familienangehörigen und anderen Mitmenschen sind seit der prähistorischen Zeit gang und gäbe und kommen in allen Kulturen vor. Das gehörte zur Menschwerdung wie der Gebrauch des Feuers und später der Schrift. Ob gottgewollt oder zufällig: Das steckt alles in uns. Mit Montaigne: Jeder Mensch trägt das ganze Menschsein in sich. Auch die ganze Geschichte des Menschseins, möchte man ergänzen.

Beim einem der ältesten und gut dokumentierten Selbstmordattentat war das Attentat und der Selbstmord allerdings keine Koinzidenz, sondern eher das zweite, der Selbstmord, die Konsequenz: Die olympische Göttin Athene interveniert und beschlägt Ajax mit Wahnsinn, als er ein Attentat auf die Armeeführung plant, weil diese Odysseus zu Achilles Nachfolger ernannt hat und nicht ihn. In seiner Verblendung schlachtete Ajax einige Herdentiere statt der Heerestiere. Ein Attentat im lateinischen Wortsinn: Das Beabsichtigte, das lediglich Versuchte. Das war Ajax dann so peinlich, dass er sich ins eigene Schwert stürzte. In Griechenland machte sowas keine Schule.

Christliche Jihadisten tauchen dann im 4. Jahrhundert in Nordafrika auf. Sie nannten sich selbst Heilige und bekämpften unter Einsatz ihres Lebens die Regierung, die Geldverleiher, Sklavenhalter, Grossgrundbesitzer, die besitzende Klasse und den Lieblingsfeind, die katholisch-orthodoxe Kirche. Die Rede ist von den Agonistikern, nicht zu verwechseln mit den Agnostikern, welche die Frage nach Gott für unentscheidbar halten. Die Agonistiker tanzten nachts an den Gräbern ihrer Märtyrer. Jeder hoffte und betete, selbst den Märtyrertod erleiden zu dürfen. Gelegentlich stürzten sie sich auch einfach so von einem Felsen. Weder Römer noch Vandalen konnten dieser frühkommunistischen Glaubensgemeinschaft beikommen. Die Spuren verlieren sich erst in der Islamisierung. Das wahre Vorbild der Selbstmordattentäter ist aber die biblische Figur Simson (Buch der Richter): Er brachte einen Tempel zum Einsturz und hat so 3000 Philister zur Hölle geschickt. Das ganze hat sich in Gaza abgespielt, wo diese Art des Märtyrertodes und Selbsmordattentates seither gang und gäbe ist.