Die Zeit der Zönästhopathen

Wer kennt es nicht? Das Gefühl der Leere, das unter dem Schädel entsteht. Das kühle und kühne Gedanken aufsteigen lässt. Der Anflug, dass alles eine absurde Illusion ist. Oder Projektion. Sicher keine feststehende Realität. Ich weiss, dass ich lebe, aber ich schwebe über dem Leben.

Das Gefühl der Leere kennen wir alle, die der tierhaften Kindheit entwachsen sind. Wir haben uns über die Zeit einen pragmatischen Umgang damit zugelegt. Wir wenden uns einfach anderen Dingen zu. Wir akzeptieren das Gefühl und praktizieren Rituale, um in der Leere die Fülle zu finden. Wir klatschen das bad feeling mit unserem supramentalen Kraftwerk zurück in die bedeutungslose Ursuppe. Andere befreunden sich mit dem Nichts in meditativen Übungen. Einige können lächelnd durch die Leere ins Alles, ein einziger winziger Gedankensprung, der vielleicht eher ein Gefühl ist. Eher Perzeption als Reflexion.

Wir haben das Gefühl der Leere durch unser Selbst domestiziert, obwohl wir nicht wissen, was die Leere ist und wo das Gefühl der Leere herkommt. Wir wissen nicht einmal, ob es ein Gefühl oder ein Gedanke ist. Es kommt vielleicht aus dem Bauch, also ein Gefühl, aber es offenbart sich unter der Schädeldecke, also ein Gedanke. Aber ist es eine Vorstellung aus dem Fundus des Selbst oder ist es eine Reflexion einer sinnlichen Wahrnehmung? Wie soll ich die Leere überhaupt sinnlich wahrnehmen können? Ein blosses Hirngespinst also, das aus mir gelegentlich aufsteigt, seit ich unter dem Sternenhimmel nicht nur die Unendlichkeit wahrnahm, sondern auch die bedeutungslose Zufälligkeit jeglicher Existenz aus dem kosmischen Hintergrund rauschte. Cartarescu hat den passenden Satz gefunden: Du bist das Würmchen im eigenen Anus. Vor zweihundert Jahren hätte man dem Rumänen anästhetische Melancholie diagnostiziert.

Menschen, die in sich das Gefühl der Leere entdeckten und dadurch in eine ungewohnte reflexive Selbstentfremdung stolperten, tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals auf. Zönästhesie wurde dieses Phänomen nun benannt, immer noch nach der aristotelischen Auffassung und Begriffstradition, dass diesen Menschen der allen Sinnen gemeine, innere Sinn abgeht, die Wahrnehmung mit der Reflexion so zu verknüpfen, dass wir wahrnehmen, was und dass wir wahrnehmen, und denken, dass wir denken. Aber genau dieser innere Sinn, der seit Aristoteles das zentrale menschliche Seelenvermögen darstelle, war hundert Jahre zuvor aus der Philosophie verschwunden. Descartes hatte das Konzept des Selbstbewusstseins entwickelt, welches nicht mehr auf dem sinnlichen Wahrnehmungsapparat beruhte. Cogito, ergo sum. Erst der Gedanke, dann die Existenz. Die einzige Gewissheit ist, dass ich denke.

Der Siegeszug des Selbstbewusstseins in der Aufklärung führte das Denken in gewagtere Bahnen. „Ich denke, also bin ich“ wurde experimentell und evolutionär um die Variante „Ich denke, also bin ich nicht“ erweitert. Ich denke, also bin ich weiss wer war. Ich weiss nichts, also denk ich irgend was. Die Geschichte des abendländischen Denkens drohte aus dem Ruder zu laufen. Im Fin de siècle standen Patienten bei den Ärzten Schlange und sagten: „Ich bin ein anderer.“ (Rimbauds vorbildliche Formulierung: „Ich ist ein anderer“ war noch nicht allgemein bekannt, der Satz steht in einem privaten Briefwechsel). Der Begriff Depersonalisierung wurde geprägt. Die Leute waren nicht verrückt, sondern glasklare Denker. Nicht mehr ganz bei Sinnen, aber ganz im Bewusstsein zu Hause, selbstverloren. Hirnis, cartesianische Nerds.

Heute stehen die Leute zu Hauf im Internet und sagen: „Ich bin Charlie“ oder „Ich bin Paris“. Wir sind nicht wirklich wir selbst, aber nehmen das auch nicht mehr so wichtig. Und irgendwie sind wir doch auch alle einer, auch wenn der eher ein Melancholiker ist. Zönästhesie und Melancholie sind im Weltgesundheitsorganisationskrankenkatalog WHO-ICD nicht aufgenommen, wir können uns aber problemlos mit den kategorialen Ausprägungen von Depression und dissoziativer Persönlichkeitsstörung abgleichen, um unsere objektive Verfasstheit zu reflektieren.

Auf dem Höhepunkt des psychosozialen Zönästhesie-Booms notierte der Genfer Autor H.-F. Amiels in seinen 17’000 Seiten umfassenden „Fragments d’un journal intime“ unter dem 8. Juli 1880: „Nunmehr kann ich die Existenz beinahe wie von jenseits des Grabes, wie aus dem Jenseits betrachten; alles ist mir fremd; ich kann ausserhalb meines Körpers und meines Individuums sein, ich bin depersonalisiert, unbeteiligt, abgehoben.“ Amiels nahm den wissenschaftlichen Diskurs auf und stellte der objektiven Diagnose Wahnsinn den Satz gegenüber: „Mir scheint jedoch, dass meine geistigen Transformationen nichts anderes sind als philosophische Experimente.“

Die Forscher forschten weiter, auch breiter. Mit der Demontage des cartesianischen Konzeptes des Selbstbewusstseins durch die Könästhopathologie wurde auch der unbewusste Teil des Selbst interessant, jener Teil des Selbst, der sich um nichts und niemanden schert. Es gab genug Beispiele, dass der Geist auch ohne irgend ein Bewusstsein eines Selbst fortbesteht: Ohmachtsanfälle, Bewusstseinstrübungen, hypnotischer Schlaf, Nervenzusammenbrüche. Alexander Herzen beschrieb den hypnotischen Schlaf als das Gegenstück zur könästhetischen Kopflandung. Totale Abwesenheit von Bewusstsein. Dann setzt ein vages Gefühl ein, das Gefühl von Existenz, ohne irgendeine Abgrenzung der eigenen Individualität, ohne Spur einer Unterscheidung zwischen dem Ich und Nicht-Ich. Philosophische Experimente.