Aurig, Nonseq – zwei Schlüsselbegriffe in Clemens Setz‘ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“: Aurig (abgeleitet von Aura) bezeichnet ein Gefühl, das die Hauptfigur Nathalie vor dem Neuronenfeuer der Epilepsie verspürt. Non sequitur ist Nathalies Lieblingskommunikationsform: Dialogbeiträge, am liebsten in Chat-Form, haben keinen Bezug zum Vorhergehenden. Nonsens ist das nicht, da die Sinnfrage keine Rolle spielt.
Nathalie hat soeben eine erste Ausbildung als Betreuerin im Gesundheitswesen abgeschlossen, sich von ihrem langweiligen Freund getrennt und tritt ihre erste Stelle in einem Wohnheim an. Dort wird sie mit den aufwändigen Verhaltens- und Gesprächsregeln der professionellen Bezugsbetreuung konfrontiert, aber vor allem Teil eines undurchschaubaren Arrangements zwischen einem ihrer Beziehungs-Klienten, Herrn Dorn, und dessen wöchentlichen Besucher, Hollberg. Dorn himmelt seinen Chris Hollberg an und unterwirft sich ihm, nachdem er ihn vor Jahren so sehr mit Liebesbriefen und allerlei misogynen Provokationen bedrängt hatte, dass Hollbergs Frau sich das Leben nahm. Dorn, schon damals im Rollstuhl, wurde als Stalker verurteilt und schliesslich in das Wohnheim eingewiesen. Nach einigen ruhigen Jahren beginnen die Besuche Hollbergs, dessen Auftritte, Geschichten und Sprachbilder das Arrangement, das Heimpersonal und auch Nathalie dominieren. Hollberg kann sich alles erlauben. Nach Grenzüberschreitungen entschuldigt er sich, wechselt auf eine Meta-Ebene und stellt die Glaubhaftigkeit des Arrangements wieder her: Opfer und Täter verschwimmen, hier gibt es nur Gewinner. Nathalie ekelt sich vor Dorns abgründiger Besessenheit und seiner Schminkerei vor jedem Besuch, aber noch mehr widert sie Hollberg an, der ihren Klienten immer mal wieder demütigt und auch ihr gegenüber keine Grenzen oder Privatsphäre akzeptiert. Nathalie verstrickt sich in einen subtilen Machtkampf, der sie zur methodischen Komplizin macht. Nach 900 Seiten bricht sie in Hollbergs Haus ein und nimmt eine lebende Labormaus mit, nachdem sie im Schlafzimmer unter einer Glasglocke eine tote Labormaus entdeckt hatte. Hollberg hat Dorn Pralinen verfüttert, in denen Mäusefleisch versteckt war. Nathalie kündigt ihre Stelle im Wohnheim, aber am letzten Arbeitstag explodiert das ausgeweitete Arrangement: Hollberg überfährt Nathalies Kollegen Frank, der ihr zu Hilfe eilt, als Hollberg ausfällig wird. Die Polizei wird gerufen und nimmt Hollberg mit. Frank stirbt im Krankenhaus. Nathalie geht mit einem weiteren Kollegen, Lothar, in Franks Wohnung – und verprügelt ihn tüchtig. Das musste einfach sein, lässt sie ihn wissen und verschwindet.
Epilog, zwei Jahre später: Nathalie besucht den verurteilten Hollberg in einem Heim. Hollberg bietet sich an für eine Neuauflage des Arrangements.
Wegen diesem Plot liest niemand den überlangen Roman, auch wenn die Geschichte spannend ist und auch Kino im Kopf bietet. Vielleicht wirkt die Erzählhandlung etwas konstruiert, durchzogen von sich wiederholenden Mustern. Das eine gibt sich aus dem anderen, aber nicht einer Logik nach, ohne Ursache-Wirkungszuammenhänge, eher formal. Gewalt wird weitergegeben als eine Geste. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit. Der Roman geht aber über den Konstruktivismus hinaus. Wirklichkeit ist zwar eine Konstruktionsleistung, aber eine äussere objektive Wirklichkeit wird damit nicht obsolet. Äussere Wirklichkeit ist ein Baustein des eigenen Selbst-Konstruktes. Nathalie moduliert ihr Bewusstsein und ihre Stimmungen mit chemischen Wirkstoffen und realen Menschen, überlässt das Kommando aber ihren sinnlichen Wahrnehmungen und ihrem Assoziationsvermögen. Die Neurophysiologie hat ihren Platz im Ich-Konzept; Psychologie ist Illusion und kein Thema mehr.
Bei den Kritikern fällt der Roman durch, auch wenn dies und jenes gelobt wird: Synästhetische Gehirnmassage, dystopische Science-Fiction, nerdhafte Kryptokommunikation, Intertexting, Porno als Erkenntnismethode, binäres Erzähl-System erweitern die literarische Postmoderne. Aber das Werk sei eine Zumutung, die FAZ berichtet von der Qual des Lesens und der „Wut über die Aufzeichnung noch der letzten kuriosen Beobachtung, aus der nichts hervorgeht“. Das Buch ist das Gegenteil eines Entwicklungsromans und verstört durch die Auslassung psychologischer Motive und das Fehlen einer moralischer Richtschnur. Hier wird das Leben einfach abgewickelt. Das Innere der Figuren und ihre äussere Welt sind kommunizierende Wirklichkeiten, welche ineinander fliessen. Die psychische Entwicklung wird nicht zur zeitgemässen transhumanistischen Selbstoptimierung, sondern zum universalen Streaming. Wenn man sich in einen Life-Stream einloggt, spürt man Gemeinschaft und kosmische Verbundenheit. Die Vielfalt der Phänomene übersteigt das Vermögen der Vernunft und gebiert eine Selbstverständlichkeit von abgekühlter Metaphysik und symbolschwangeren Wundern.
Der Roman kann auch als literarische Version des Krankheitskatalogs ICD gelesen werden. Alle Figuren haben Attribute, welche man als Borderline-Symptome deuten kann. Ein Kritiker hält fest, dass die Krankenpflegerin Nathalie gewiss die Kränkste unter Kranken ist. Dem widerspricht aber der Verlauf und das Ende der Geschichte. Die Vermessung des Individuums nach den ICD-Kriterien ist fehl am Platz. Diese Etiketten zementieren die Zustände, die Arrangements. Nathalie aber ist provozierende Dynamik und sprengt immer wieder die Konventionen normaler Wirklichkeit. Statt auf psychologischen Realismus setzt Setz auf internetgetriebene Formen feinstofflicher Phänomene. ASMR, Synästhesie, Cleverbot, luminous details sind Begriffe aus dem Roman, welche sich nachzuschlagen lohnt! Im Roman werden diese Realitäten nicht nur beschrieben, sondern sind selbst literarische Methode. Der Roman greift damit über seine Fiktionsebene hinaus in die Wirklichkeit, direkt in unser Hirn. Wir können uns selbst bei einem Serotonin- und Dopaminschub erleben und beobachten. Das Belohnungszentrum im Gehirn kann ohne Umwege über Inhalte direkt stimuliert werden. Alle können sich einen Kopf-Organsmus bescheren. Entspannung in der Selbstreferenz.
Clemens J. Setz, “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”, Suhrkamp 2015. Wer das Buch lesen will, kann sich bei mir melden. Ich gebe mein Exemplar gerne weiter.
P.S.
Die Einreihung von Setz‘ Roman in die Tradition des österreichischen Empiriokritizismus ist kreuzfalsch. Diese positivistische Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften grenzt alles Metaphysische und Transzendente aus. Durch den Subjektivismus erhält die Theorie aber idealistische Untertöne. W. I. Lenin hat den reaktionären Charakter in einem Aufsatz bekämpft. Damit stellte er sich an die Seite der katholischen Kirche, welche den Fideismus bekämpfte und immer noch verurteilt. 1840 forderte Papst Gregor XVI. vom Theologen L.E.M. Bautin, seine Unterschrift unter einen Text zu setzen, welcher behauptete, in Wahrheit gebe es neben der Offenbarung auch „auf dem Weg einer rein natürlichen Erkenntnis Gewissheit über das Dasein Gottes.“