Die Zeit der Zönästhopathen

Wer kennt es nicht? Das Gefühl der Leere, das unter dem Schädel entsteht. Das kühle und kühne Gedanken aufsteigen lässt. Der Anflug, dass alles eine absurde Illusion ist. Oder Projektion. Sicher keine feststehende Realität. Ich weiss, dass ich lebe, aber ich schwebe über dem Leben.

Das Gefühl der Leere kennen wir alle, die der tierhaften Kindheit entwachsen sind. Wir haben uns über die Zeit einen pragmatischen Umgang damit zugelegt. Wir wenden uns einfach anderen Dingen zu. Wir akzeptieren das Gefühl und praktizieren Rituale, um in der Leere die Fülle zu finden. Wir klatschen das bad feeling mit unserem supramentalen Kraftwerk zurück in die bedeutungslose Ursuppe. Andere befreunden sich mit dem Nichts in meditativen Übungen. Einige können lächelnd durch die Leere ins Alles, ein einziger winziger Gedankensprung, der vielleicht eher ein Gefühl ist. Eher Perzeption als Reflexion.

Wir haben das Gefühl der Leere durch unser Selbst domestiziert, obwohl wir nicht wissen, was die Leere ist und wo das Gefühl der Leere herkommt. Wir wissen nicht einmal, ob es ein Gefühl oder ein Gedanke ist. Es kommt vielleicht aus dem Bauch, also ein Gefühl, aber es offenbart sich unter der Schädeldecke, also ein Gedanke. Aber ist es eine Vorstellung aus dem Fundus des Selbst oder ist es eine Reflexion einer sinnlichen Wahrnehmung? Wie soll ich die Leere überhaupt sinnlich wahrnehmen können? Ein blosses Hirngespinst also, das aus mir gelegentlich aufsteigt, seit ich unter dem Sternenhimmel nicht nur die Unendlichkeit wahrnahm, sondern auch die bedeutungslose Zufälligkeit jeglicher Existenz aus dem kosmischen Hintergrund rauschte. Cartarescu hat den passenden Satz gefunden: Du bist das Würmchen im eigenen Anus. Vor zweihundert Jahren hätte man dem Rumänen anästhetische Melancholie diagnostiziert.

Menschen, die in sich das Gefühl der Leere entdeckten und dadurch in eine ungewohnte reflexive Selbstentfremdung stolperten, tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals auf. Zönästhesie wurde dieses Phänomen nun benannt, immer noch nach der aristotelischen Auffassung und Begriffstradition, dass diesen Menschen der allen Sinnen gemeine, innere Sinn abgeht, die Wahrnehmung mit der Reflexion so zu verknüpfen, dass wir wahrnehmen, was und dass wir wahrnehmen, und denken, dass wir denken. Aber genau dieser innere Sinn, der seit Aristoteles das zentrale menschliche Seelenvermögen darstelle, war hundert Jahre zuvor aus der Philosophie verschwunden. Descartes hatte das Konzept des Selbstbewusstseins entwickelt, welches nicht mehr auf dem sinnlichen Wahrnehmungsapparat beruhte. Cogito, ergo sum. Erst der Gedanke, dann die Existenz. Die einzige Gewissheit ist, dass ich denke.

Der Siegeszug des Selbstbewusstseins in der Aufklärung führte das Denken in gewagtere Bahnen. „Ich denke, also bin ich“ wurde experimentell und evolutionär um die Variante „Ich denke, also bin ich nicht“ erweitert. Ich denke, also bin ich weiss wer war. Ich weiss nichts, also denk ich irgend was. Die Geschichte des abendländischen Denkens drohte aus dem Ruder zu laufen. Im Fin de siècle standen Patienten bei den Ärzten Schlange und sagten: „Ich bin ein anderer.“ (Rimbauds vorbildliche Formulierung: „Ich ist ein anderer“ war noch nicht allgemein bekannt, der Satz steht in einem privaten Briefwechsel). Der Begriff Depersonalisierung wurde geprägt. Die Leute waren nicht verrückt, sondern glasklare Denker. Nicht mehr ganz bei Sinnen, aber ganz im Bewusstsein zu Hause, selbstverloren. Hirnis, cartesianische Nerds.

Heute stehen die Leute zu Hauf im Internet und sagen: „Ich bin Charlie“ oder „Ich bin Paris“. Wir sind nicht wirklich wir selbst, aber nehmen das auch nicht mehr so wichtig. Und irgendwie sind wir doch auch alle einer, auch wenn der eher ein Melancholiker ist. Zönästhesie und Melancholie sind im Weltgesundheitsorganisationskrankenkatalog WHO-ICD nicht aufgenommen, wir können uns aber problemlos mit den kategorialen Ausprägungen von Depression und dissoziativer Persönlichkeitsstörung abgleichen, um unsere objektive Verfasstheit zu reflektieren.

Auf dem Höhepunkt des psychosozialen Zönästhesie-Booms notierte der Genfer Autor H.-F. Amiels in seinen 17’000 Seiten umfassenden „Fragments d’un journal intime“ unter dem 8. Juli 1880: „Nunmehr kann ich die Existenz beinahe wie von jenseits des Grabes, wie aus dem Jenseits betrachten; alles ist mir fremd; ich kann ausserhalb meines Körpers und meines Individuums sein, ich bin depersonalisiert, unbeteiligt, abgehoben.“ Amiels nahm den wissenschaftlichen Diskurs auf und stellte der objektiven Diagnose Wahnsinn den Satz gegenüber: „Mir scheint jedoch, dass meine geistigen Transformationen nichts anderes sind als philosophische Experimente.“

Die Forscher forschten weiter, auch breiter. Mit der Demontage des cartesianischen Konzeptes des Selbstbewusstseins durch die Könästhopathologie wurde auch der unbewusste Teil des Selbst interessant, jener Teil des Selbst, der sich um nichts und niemanden schert. Es gab genug Beispiele, dass der Geist auch ohne irgend ein Bewusstsein eines Selbst fortbesteht: Ohmachtsanfälle, Bewusstseinstrübungen, hypnotischer Schlaf, Nervenzusammenbrüche. Alexander Herzen beschrieb den hypnotischen Schlaf als das Gegenstück zur könästhetischen Kopflandung. Totale Abwesenheit von Bewusstsein. Dann setzt ein vages Gefühl ein, das Gefühl von Existenz, ohne irgendeine Abgrenzung der eigenen Individualität, ohne Spur einer Unterscheidung zwischen dem Ich und Nicht-Ich. Philosophische Experimente.

Weisse Mentholzigaretten

Der lebendige Beweis, dass hohes Alter und Rauchen ganz vorzüglich zusammen passen, ist tot. Als Raucher finde ich das schade. Helmut Schmidt hatte das Rauchen als Privatsache behandelt, die man bitte tolerieren solle. In der Toleranzzone nur wächst langsam Kultur. Er rauchte überall und nirgendwo versuchte jemand, ihm das auszureden oder gar zu verbieten. Nur im Bundestag ordnete er sich dem schon langjährigen Rauchverbot unter und experimentierte mit Kautabak. Vielleicht war das nur politische Räson. Der Kanzler steht im deutschnationalen Organigramm nicht nur unter dem Bundespräsidenten, sondern auch unter dem Bundestagspräsidenten.

Da fehlt uns Rauchern nun eine Galionsfigur, welche dem deutschen Kulturbereich die Welt erklärte und dazu rauchte. Der uns vorführte, wie lächerlich diese Verbotskultur ist, welche den Menschen vor sich selber beschützen soll. Der Schmidt rauchte diese weissen Mentholzigaretten, auch der Filter ist weiss. Irgendwie weibliche Zigaretten. So hübsch, wohriechend, erfrischend, leicht. Und doch glühend, vollmundig, Atmung pur. Vielleicht waren diese Zigaretten das Geheimnis, das ihn seine Loki ein Leben lang lieben liess. Als mir im Frühling ein Nichraucher weis machen wollte, nun hätte sogar Schmidt mit dem Rauchen aufgehört, konnte ich seine Ehre retten, des Schmidts, nicht des Nichtrauchers Ehre: Er würde sicher gerne auch auf der Intensivstation rauchen, wenn er nicht so blödsinnig bewusstlos wäre. Auch wenn sich die eine oder andere Krankenpflegerin vielleicht mit ihm anlegen würde, weil sie den alten Schmidt nicht kennt. Aber dann ein Auge zurdrücken würde, weil die Zigaretten so schön weiss sind und eigentlich ganz gut riechen, auch wenn man hinterher lüften muss. Schmidt lag kurze Zeit mit Nikotinpflaster im Spital. Geraucht hat er dann wieder bis in seine letzten Tage.

Das mit dem Menthol kann ich schon nachvollziehen. Ich liebe es, Menthollutschtabletten zwischen rauchender Zigarette und Mundwinkel einzuschieben und die beiden Gaumenfreuden zu vermählen, neuronaler Doppelbeschuss. Aber das mit dem NATO-Doppelbeschluss kam mir damals unsinnig vor. Amerikanische Atomraketen in Europa sollen den Frieden sichern? Mir machte das Angst. Der kalte Krieg begann zu brodeln. Die Militärs unter der Führung der Amis (Dankeschön-an-die-Kriegsgewinner, ihr werdet es wohl wissen) massten sich das Sagen in Westeuropa an. Auf der anderen Seite Breschnew, ein Wrack im atheistischen Gottesstaat: Erstmals war der Boss der Kommunisten auch formaljuristisch Staatsoberhaupt. Der Kaiser hat sich selbst gekrönt. Kann man ihm nicht verübeln. Ihm wurde mitten im Höhepunkt seiner Karriere von sowjetischen Vertrauensärzten starke Hirnverkalkung diagnostiziert, da nützte auch das probate Gläschen Essig nichts mehr. Er steckte mehrere Herzinfarkte und Hirnschläge weg, bezwang seinen Ärger über die Pechserie mit reichlich Vodka und dominierte seine Entourage wie Hof und Heer und Geheimpolizei. Breschnews intellektuelle Fähigkeiten stark eingeschränkt, wertneutral formuliert. Alle hielten ruhig, bis er eines nachts die Machtinsignien fallen liess und morgens tot ins Mausoleum zügelte. Im Seniorenheim der polnischen Kommunisten munkelt man, nur der Papst Johannes zwei habe ähnlich Grossartiges erreicht.

Nein, neue Atomraketen in Europa brauchten wir nicht. Dank der Initiative und dem handwerklichen Geschick unser WG-Kindergärtnerin bauten wir an der Demo vor Ort eine riesige Rakete zusammen, die wir über unseren Köpfen trugen und auf der wir mit gemeinsam ausgeheckten Kurznachrichten die Welt mit unserer Meinung bedienten. Prompt wurden wir in den politischen Medien zum Bild-Sujet der Gesinnungspresse erkoren. Schliesslich wurden die Menschen scharenweise von den Raketenstartplätzen weggetragen und die Atombomben stationiert und startklar gemacht. Die umgekehrte Kuba-Krise, aber diesmal blieben die Atomraketen. Das Privatleben nahm  wieder Beschlag.

Schmidtchen Schmaucher stand hinter dem Stationierungsbeschluss, aber er setzte den zweiten Teil des Doppelbeschlusses durch: Die Drohkulisse wird aufgebaut, aber gleichzeitig das Gespräch mit dem Ziel der gegenseitigen Abrüstung intensiviert. Die politischen Begriffe „Aufrüstung“ und „Nachrüstung“ bekriegten sich und hielten sich in Schach, eine der vielen Formen von Tit-for-tat, nur war unklar, wer am Zuge ist. Schmidt hat tatsächlich zusammen mit Breschnew die spätere Abrüstung vorbereitet und eingeleitet. Dank seiner habituellen Raucherei behielt der Hamburger in der heissesten Phase der Weltgeschichte seit dem Amoklaufen der Nationen im World War two gekühlten Kopf. Meerluft, Mentholrauch.

Schmidt war der einzige, der so rauchen konnte, dass sich die Argumente in den ausgeblasenen Wölkchen auflösten. Seine dilettantische und anarchistische Seite lebte er beim Schach aus, da attackierte er den Gegner ohne jede vernünftige Strategie. Ich weiss nicht, was er von den Rauchverbots-, Raucheinschränkungs- und Rauchpräventionsprogrammen gehalten hat, ich nehme an, er hat dazu rauchend geschwiegen und den Überblick behalten, mal amüsiert, mal kopfschüttelnd. Im Schweizer Parlament liegt  wieder einmal ein Verschärfungspaket gegen das Rauchen vor. Rauchwaren nur noch an Volljährige. Die Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention Schweiz argwöhnt, dass die Verkaufseinschränkungen wenig nützen, was sie aus der Haltung der Tabakindustrie ableitet, welche das Verbot unterstützt. Und trotz der Behauptung, der leichte Trend zu mehr Rauchern unter den 15- bis 25-Jährigen sei ganz stark auf die Tricks der Werbung zurückzuführen, ist niemand für ein Werbeverbot. Da beschäftigt sich eine eidgenössische Amtsstelle mit ihrem Lieblingsthema und beliefert gelegentlich die politische Bühne mit Zündstoff. Zigaretten sollen zukünftig in neutralen grauen Schachteln zum Verkauf gelangen. Wie komm ich dann zu meinen Lieblingszigaretten? Und der Schmidt lässt mich in dieser Situation ganz allein: Der Unsinn wird von der SP als zu harmlos kritisiert, von der SVP als zu einschneidend. Hätten wir einen Vertreter der Raucherpartei, so könnte der wenigstens dem Parlament von lins bis rechts vorführen, wie sich solcherlei Reglementierungen in Rauch auflösen lassen.

Mir kann das alles ganz egal sein. Meine erste Ernte aus Tabakeigenanbau konnte ich diese Woche fumieren. Wunderbar. Die Süsse des Virginia schmeckt hervorragend auf der Zungenspitze. Der türkische Samsoun liefert leicht salzige und bittere Noten im Gaumen. Im Rachen verflüssigt der Aufruhr und steigt ins Hirn. Nächstes Jahr werde ich einen Viertel meines Gartens für den Anbau des Schamanenkrautes Tabak reservieren und damit über meinen Eigengebrauch hinaus produzieren. Natürlich voll öko und bio, wenig eso. Die Schweizer haben im zweiten Weltkrieg die Tabakproduktion verdoppelt und ins Ausland verkauft. Vielleicht hat Schmidt damals Schweizer Tabak geraucht. Das hat ihm dann wahrscheinlich geholfen zu erkennen, dass die Nazis doof waren. Hätte er schon früher merken können, die haben ihn ja zur Hitlerjugend rausgeschmissen. In der Wehrmacht diente er sich zum Kompaniekommandant hoch und kämpfte an der Ostfront gegen Breschnews Vorgänger. Er geriet rechtzeitig in britische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er Sozi und begann zu studieren. Und rauchte dabei.

 

Auriger Nonseq – jetzt die Buchbesprechung!

Aurig, Nonseq – zwei Schlüsselbegriffe in Clemens Setz‘ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“: Aurig (abgeleitet von Aura) bezeichnet ein Gefühl, das die Hauptfigur Nathalie vor dem Neuronenfeuer der Epilepsie verspürt. Non sequitur ist Nathalies Lieblingskommunikationsform: Dialogbeiträge, am liebsten in Chat-Form, haben keinen Bezug zum Vorhergehenden. Nonsens ist das nicht, da die Sinnfrage keine Rolle spielt.

Nathalie hat soeben eine erste Ausbildung als Betreuerin im Gesundheitswesen abgeschlossen, sich von ihrem langweiligen Freund getrennt und tritt ihre erste Stelle in einem Wohnheim an. Dort wird sie mit den aufwändigen Verhaltens- und Gesprächsregeln der professionellen Bezugsbetreuung konfrontiert, aber vor allem Teil eines undurchschaubaren Arrangements zwischen einem ihrer Beziehungs-Klienten, Herrn Dorn, und dessen wöchentlichen Besucher, Hollberg. Dorn himmelt seinen Chris Hollberg an und unterwirft sich ihm, nachdem er ihn vor Jahren so sehr mit Liebesbriefen und allerlei misogynen Provokationen bedrängt hatte, dass Hollbergs Frau sich das Leben nahm. Dorn, schon damals im Rollstuhl, wurde als Stalker verurteilt und schliesslich in das Wohnheim eingewiesen. Nach einigen ruhigen Jahren beginnen die Besuche Hollbergs, dessen Auftritte, Geschichten und Sprachbilder das Arrangement, das Heimpersonal und auch Nathalie dominieren. Hollberg kann sich alles erlauben. Nach Grenzüberschreitungen entschuldigt er sich, wechselt auf eine Meta-Ebene und stellt die Glaubhaftigkeit des Arrangements wieder her: Opfer und Täter verschwimmen, hier gibt es nur Gewinner. Nathalie ekelt sich vor Dorns abgründiger Besessenheit und seiner Schminkerei vor jedem Besuch, aber noch mehr widert sie Hollberg an, der ihren Klienten immer mal wieder demütigt und auch ihr gegenüber keine Grenzen oder Privatsphäre akzeptiert. Nathalie verstrickt sich in einen subtilen Machtkampf, der sie zur methodischen Komplizin macht. Nach 900 Seiten bricht sie in Hollbergs Haus ein und nimmt eine lebende Labormaus mit, nachdem sie im Schlafzimmer unter einer Glasglocke eine tote Labormaus entdeckt hatte. Hollberg hat Dorn Pralinen verfüttert, in denen Mäusefleisch versteckt war. Nathalie kündigt ihre Stelle im Wohnheim, aber am letzten Arbeitstag explodiert das ausgeweitete Arrangement: Hollberg überfährt Nathalies Kollegen Frank, der ihr zu Hilfe eilt, als Hollberg ausfällig wird. Die Polizei wird gerufen und nimmt Hollberg mit. Frank stirbt im Krankenhaus. Nathalie geht mit einem weiteren Kollegen, Lothar, in Franks Wohnung – und verprügelt ihn tüchtig. Das musste einfach sein, lässt sie ihn wissen und verschwindet.

Epilog, zwei Jahre später: Nathalie besucht den verurteilten Hollberg in einem Heim. Hollberg bietet sich an für eine Neuauflage des Arrangements.

Wegen diesem Plot liest niemand den überlangen Roman, auch wenn die Geschichte spannend ist und auch Kino im Kopf bietet. Vielleicht wirkt die Erzählhandlung etwas konstruiert, durchzogen von sich wiederholenden Mustern. Das eine gibt sich aus dem anderen, aber nicht einer Logik nach, ohne Ursache-Wirkungszuammenhänge, eher formal. Gewalt wird weitergegeben als eine Geste. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit. Der Roman geht aber über den Konstruktivismus hinaus. Wirklichkeit ist zwar eine Konstruktionsleistung, aber eine äussere objektive Wirklichkeit wird damit nicht obsolet. Äussere Wirklichkeit ist ein Baustein des eigenen Selbst-Konstruktes. Nathalie moduliert ihr Bewusstsein und ihre Stimmungen mit chemischen Wirkstoffen und realen Menschen, überlässt das Kommando aber ihren sinnlichen Wahrnehmungen und ihrem Assoziationsvermögen. Die Neurophysiologie hat ihren Platz im Ich-Konzept; Psychologie ist Illusion und kein Thema mehr.

Bei den Kritikern fällt der Roman durch, auch wenn dies und jenes gelobt wird: Synästhetische Gehirnmassage, dystopische Science-Fiction, nerdhafte Kryptokommunikation, Intertexting, Porno als Erkenntnismethode, binäres Erzähl-System erweitern die literarische Postmoderne. Aber das Werk sei eine Zumutung, die FAZ berichtet von der Qual des Lesens und der „Wut über die Aufzeichnung noch der letzten kuriosen Beobachtung, aus der nichts hervorgeht“. Das Buch ist das Gegenteil eines Entwicklungsromans und verstört durch die Auslassung psychologischer Motive und das Fehlen einer moralischer Richtschnur. Hier wird das Leben einfach abgewickelt. Das Innere der Figuren und ihre äussere Welt sind kommunizierende Wirklichkeiten, welche ineinander fliessen. Die psychische Entwicklung wird nicht zur zeitgemässen transhumanistischen Selbstoptimierung, sondern zum universalen Streaming. Wenn man sich in einen Life-Stream einloggt, spürt man Gemeinschaft und kosmische Verbundenheit. Die Vielfalt der Phänomene übersteigt das Vermögen der Vernunft und gebiert eine Selbstverständlichkeit von abgekühlter Metaphysik und symbolschwangeren Wundern.

Der Roman kann auch als literarische Version des Krankheitskatalogs ICD gelesen werden. Alle Figuren haben Attribute, welche man als Borderline-Symptome deuten kann. Ein Kritiker hält fest, dass die Krankenpflegerin Nathalie gewiss die Kränkste unter Kranken ist. Dem widerspricht aber der Verlauf und das Ende der Geschichte. Die Vermessung des Individuums nach den ICD-Kriterien ist fehl am Platz. Diese Etiketten zementieren die Zustände, die Arrangements. Nathalie aber ist provozierende Dynamik und sprengt immer wieder die Konventionen normaler Wirklichkeit. Statt auf psychologischen Realismus setzt Setz auf internetgetriebene Formen feinstofflicher Phänomene. ASMR, Synästhesie, Cleverbot, luminous details sind Begriffe aus dem Roman, welche sich nachzuschlagen lohnt! Im Roman werden diese Realitäten nicht nur beschrieben, sondern sind selbst literarische Methode. Der Roman greift damit über seine Fiktionsebene hinaus in die Wirklichkeit, direkt in unser Hirn. Wir können uns selbst bei einem Serotonin- und Dopaminschub erleben und beobachten. Das Belohnungszentrum im Gehirn kann ohne Umwege über Inhalte direkt stimuliert werden. Alle können sich einen Kopf-Organsmus bescheren. Entspannung in der Selbstreferenz.

 

Clemens J. Setz, “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”, Suhrkamp 2015. Wer das Buch lesen will, kann sich bei mir melden. Ich gebe mein Exemplar gerne weiter. 

 

P.S.
Die Einreihung von Setz‘ Roman in die Tradition des österreichischen Empiriokritizismus ist kreuzfalsch. Diese positivistische Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften grenzt alles Metaphysische und Transzendente aus. Durch den Subjektivismus erhält die Theorie aber idealistische Untertöne. W. I. Lenin hat den reaktionären Charakter in einem Aufsatz bekämpft. Damit stellte er sich an die Seite der katholischen Kirche, welche den Fideismus bekämpfte und immer noch verurteilt. 1840 forderte Papst Gregor XVI. vom Theologen L.E.M. Bautin, seine Unterschrift unter einen Text zu setzen, welcher behauptete, in Wahrheit gebe es neben der Offenbarung auch „auf dem Weg einer rein natürlichen Erkenntnis Gewissheit über das Dasein Gottes.“

Cardiocrinum: Eine Songbesprechung

Das Flimmern zu Schlägen gebündelt, Teigballen balancieren auf der Kundalinie: eine tiefviolette Schokoladenfontäne in Zeitlupe, rückwärts gespielt. Die schwedischen Abzählreime recken sich Staubblättern gleich zur rotsamten Pollenwaage – Bindestriche im  schwankunglosen Lifestream des flottierenden Selbst. Die Stimme hallt und wiederhallt im Stirnchakra, Das Herz verleiht dem diffusen Sprühnebel den erdigen Geruch und die Wärme, welcher der digimetallenen Oberfläche Struktur und Raumhaftigkeit zuwenden. Die Maschine ist ein menschliches Organ, das die Allhaftigkeit, Gleichzeitigkeit und den Online-Status der Realität der Virtualität entreisst (ach dieser Genitiv! versaut alles! Wes-Fall und Wessen-Fall, wer weiss wes, was da wessen fällt oder gefällt, der ganze Stammbaum vor dem sein Dativ). Und einverleibt in die konstruktive Möglichkeit des blossen Daseins. Die Musik entströmt dem Hirn und kühlt es. Adjektive lassen sich zulegen.

Elephanten herdern tobend lautlos, die Unterlippe der Schnabelfische serviert die Pollenschleuder als Stecknadelkissen der Sozialbetreuerin. Im wässrigen Vakuum, eingeknotet mit dem akustischen Datenerguss und der kehligen Ursprünge. Sphärenkühle über dem Höllenherd. In Trab gehalten durch die Unvermeidlichkeit der Wiederholung, wenn die Zeit zur Abwicklung oder Aufführung gelangt. Als wäre die Wahrheit Taktgeber der Wirklichkeit! Die Wirklichkeit hält die Wahrheit intakt! White stick with a red light Floats past her on the right. Bist Du hungrig? Die Haare flattern und füttern die Wellenteilchen mit rötlicher Masse, gewandeltem Blut. Beidseitiges Cinch-head-docking. Die Sonne wandelt sich nachts in ausfliessenden Strom. Never ending loops. Living in space. On. Dirty epic.

Die faltigen Blüten legen sich schlafen wie eine versengte Hühnerherde. Aufgespannte Sehnen, kruzifixierte Trigger, durchbohrte Astralzonen; ein Spirallabyrinth von Obertönen und maschinengesteuerten Drohnen. Ein qualitätsgesicherter Urnenbepackungsautomat in lila, umnächtigt durch masselose Substanzen. Die Vergesellschaftung des Menschen (der Pastor: Der Mensch ist ein Wesen in Beziehung; in Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott) geschieht durch lokale und temporale Koinzidenzen. Lifestreaming eben.

 

Bird 1 von Underworld. https://www.youtube.com/watch?v=RR98qq9iHmw . Nathalie hört den Song auf S. 281 in Clemens Setz‘ neuem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, der auf der Kandidatenliste 2015 für den Deutschen Buchpreis stand, aber wegen seiner Überlänge (mehr als 1000 Seiten) auf der Shortlist keinen Platz fand. Nathalie ist dünn („ein Sack voller Geweih“) und der Roman in einer Selbsthilfegruppe für Dicke.