Wir warten nicht gerne, wir lassen ungern warten, aber innerlich warten wir oft. Wir warten, bis die Kaffeemaschine heisst ist, wir warten, bis das Duschwasser warm ist, wir warten bis das Tram kommt, wir warten auf die Znünipause, das Mittagessen, den Feierabend, das Wochende, die grossen Sommerferien, die noch grössere Liebe, die Weltreise, die Pensionierung, den Tod, die Wiederauferstehung. Wartet schnell, das grosse Warten kommt bestimmt!
Wir haben unsere Strategien und Methoden entwickelt, die Wartezeiten zu verkürzen, zu überbrücken, zu negieren. Die führende Technologie in diesem Time-Marktsegment sind kleine internetfähige Apparate. Damit kann man auch veraltete Wartetechniken erkunden wie zeitschriftenlesen, rätsellösen, rumalbern. Rumalbern ist wohl eine der ältesten Techniken, Wartzeit totzuschlagen und sich darüber auch noch totzulachen. „lang warten ist verdriszig, es macht aber die leut witzig“ (Originalsschreibweise), stellte der lutheranische Pfarrer Lehmann 1640 fest. Warten in dieser Bedeutung von „harren“ („warten bis“, „warten auf etwas oder jemanden“) war damals eher selten. Ursprünglich bedeutet warten „seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“, warten ist ein gemeingermanisches Wort und stammt aus der Wurzel „wahren“ = sehen (daraus „wahrnehmen“ und „Wahrheit“). Im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (ja, die Märchensammler!) folgen dann alt-, mittel- und neuhochdeutsche Belege von warten im Sinne von „versorgen“, „pflegen“, „einem dienen“. Die positiv konnotierten Bedeutungen sind im Laufe der Zeit zum Servicetechniker geschrumpt. Heute werden nur noch technische Anlagen oder Informatiksysteme gewartet.
Die Brüder Grimm haben ihre Sammlung von Bedeutungen und Belegstellen aller deutschen Wörter 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde das Deutsche Wörterbuch 1961. Die erste Aktualisierung wurde durch die deutsche Wiedervereinigung verzögert und wird in den nächsten Jahren erwartet. Die grimmigen Pioniere scheuten sich damals auch nicht, Schimpfwörtern und „unfeine“ Wörtern in ihre Sammlung aufzunehmen. Die 33 Bände stehen in öffentlichen Handbibliotheken zur freien Verfügung und das ermöglichte mir, in meiner Promotionsschrift das Wort „geil“ in einer Fussnote zu erläutern und die Belegstelle bei Göthe auszuweisen. Um die Jahrtausendwende wurde die Digitalisierung des Deutschen Wörterbuches in Angriff genommen. In China wurden an zwei unterschiedlichen Standorten die gut 300 Millionen gedruckten Zeichen manuell in ein binäres System eingetastet. Was in der Zeichenfolge der beiden Versionen redundant erschien, wurde als richtig taxiert. Heute ist das DW retrodigitalisiert online.
Die Bedeutung von warten als „harren“ („erwarten“, worauf rechnen“) ist erstmals belegt bei Notker, Notker dem Deutschen, obwohl er Thurgauer war. Der Leiter der Klosterschule St. Gallen übersetzte für den Hausgebrauch, aber aus Leidenschaft, griechische und lateinische Schul-Klassiker ins Althochdeutsche. Notker gilt als erster Aristoteles-Kommentator des Mittelalters, hat auch Boethius übersetzt, der sämtliche Werke von Sokrates und Plato in Lateinische übersetzen wollte. Notker hat diese heute dominierende Bedeutung von warten um das Jahr 1000 niedergeschrieben. In einem ganz anderen Zusammenhang lese ich beim Kultur- und Mentalitätsgeschichtler Philippe Ariès, dass sich ab dem 11. Jahrhundert in der Welt der Mönche und Kanoniker „die traditionelle Beziehung zwischen dem Selbst und den Anderen zum erstenmal umkehrt: das Gefühl der eigenen Identität gewann Oberhand über die Unterwerfung unter das kollektive Schicksal.“ Und der Philosph und Literaturhistoriker Heller-Roazen stellt fest, dass der Begriff des „Selbst“ erst zu dieser Zeit in der Philosophie auftaucht. Passt doch zur Sprachgeschichte. Warten bekam eine neue Haupt-Bedeutung, als die in der Christenheit weitverbreitete Erwartung der Wiederkehr Jesu und des jüngsten Gerichtes um die erste Jahrtausenwende n. Chr. enttäuscht wurde. Seitdem warten wir anders. Wir warten auf Godot, den Messias des Absurden. Wir sitzen alle in der gleichen Warte-Raum-Zeit fest.
Ich finde es interessant, wie der Autor verschiedene Aspekte des Wartens beleuchtet.
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