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Lieber Wilhelm Schmid

Deine Lebenskunst-Philosophie kam mir gelegen, als ich in der Krise lag. Meine bisherigen Lieblingsphilosophen versagten in dieser Situation. Deine Ausführungen über das Mit-sich-selbst-befreundet-sein stimmten mich aber selbst mir gegenüber milde und ermunterten mich, das Beste aus all dem zu machen, was sich nicht nach meinen Vorstellungen zugetragen hatte. Bei der beruflichen Tätigkeit, die mir danach zufiel, waren mir einige Deiner Sätze Richtschnur und bald zitierte ich Dich bei Gelegenheiten zu grundsätzlichen Aussagen. Mir gefiel Deine Tätigkeit im Spital des Zürcher Säuliamtes wie Deine Biographie und berufliche Laufbahn. Gerne nahm ich auch mal Platz in einem Vortrag über Palliativmedizin, den Du in Zürich gehalten hast. Jede Begegnung mit Deinem Denken war bereichernd. Dein Buch „Die Liebe neu erfinden“ kam just in meine Hände, als ich genau damit beschäftigt war. „Dem Leben Sinn geben“ kam dann etwas spät, diese Frage hatte sich von selbst erledigt.

Meine gedankliche Nähe zu Dir wurde so bekannt, dass ich Dein rotes Büchlein „Gelassenheit“ gleich dreimal geschenkt bekam. Ich war darob höchst erstaunt, meinte ich doch, dass ich einen reichlich bemerkenswerten Zustand der Gelassenheit bereits erreicht hätte. Ich kann natürlich nicht ausschliessen, dass das von aussen anders wahrgenommen wird und mir deshalb die roten Ratgeber in guter Absicht überlassen wurden. Ich habe dann auch das Werklein gelesen und darin bemerkenswerte Sätze gefunden. Ein solches Zitat habe ich in einer Dankesrede verwendet, bevor ich wusste, dass ich zum dritten Mal für ebendieses rote Büchlein danken werde. Soeben habe ich ein Interview gelesen, in dem Du über die Entstehung dieses Bestsellers Auskunft gibst. Du hast das Werklein in Verarbeitung Deiner Wahrnehmungen anlässlich Deines 60. Geburtstages geschrieben. Das machte dieses Büchlein zu einem passendes Geschenk zu meinem ebenso runden Geburtstag, den ich mit Stolz gefeiert habe.

Du hast mal berichtet, Dein Vater hätte zu seinen Kindern eines Tages gesagt: Schaut mal her, jetzt könnt ihr lernen, wie man stirbt. Das ist wunderbar, wenn man so lernen darf zu sterben. Andere brauchen länger (Montaigne: Philosophieren heisst sterben lernen). Gerne würde ich erfahren, wie das Dein Vater denn gemacht hat, das Sterben. Auf jeden Fall scheint da ein väterlicher Wille spürbar, zumindest eine aktive Einwilligung. Man stirbt, man wird nicht gestorben. Deshalb erstaunt es mich, dass Du von Selbsttötung sprichst, wenn jemand aufhört zu trinken. Ich weiss, dass Deine Formulierung der rechtlichen Situation in Deutschland entspricht. Das Recht geht so weit, dass man jemanden, der sich auf sein Sterbebett legt und aufhört zu trinken, in eine psychiatrische Klinik einweisen kann. Unter bestimmten Umständen ist Zwangsernährung statthaft. Das schweizerische Bundesgericht hat 2006 immerhin festgestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 8 das Recht des Subjektes, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden, mit beinhalte. In Deutschland müssen Sterbehelfer den Sterbenden aber verlassen, weil sie sich sonst wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. „Vor dem Gesetz steht das bewusste Zulassen einer Gefährdung dem absichtlichen Zufügen von Leid gleich“, persifliert Juli Zeh die Rechtsentwicklung in ihrem Roman Corpus Delicti. Die Subjektperspektive wird zunehmend verdrängt, Selbstoptimierung wird zur Selbstobjektivierung. In Zukunft wird man sich sterben lassen.

Gerade vor dem Hintergrund der politischen Diskussion über Sterbehilfe scheint es angebracht, Alternativen zur Suizidbeihilfe zu überdenken. Der Zulauf zu Sterbehilfeorganisationen und der Trend zu technisch-juristischer Selbsttötung scheint ein Hilfeschrei einer Gesellschaft, die den Tod verdrängt und das Sterben verlernt hat. Vor einiger Zeit wohnte ich einer Veranstaltung über den „letzten Augenblick“ bei. Zugegen war auch der Alt-Stadtarzt von Zürich. Aus dem Publikum kam die drängende Frage von greisen Menschen, was sie denn machen sollten, da sie doch nur noch sterben möchten. Der ehemalige Stadtarzt empfahl, einfach mit Trinken aufzuhören. Das sei ein natürlicher Tod, ein schmerzfreies Sterben. Das sei früher Sitte und Brauch gewesen, das Wissen aber weitgehend verloren gegangen.

Inzwischen ist das Thema wieder entdeckt und viel darüber geschrieben worden. Die einfache und selbstbestimmte Art des Sterbens ist bereits in die Fänge von Fachleuten geraten, Medizinern, Juristen, Theologen, Sozialarbeitern, Palliativspezialisten, Sterbebegleitern. Von Sterbefasten, finalem Fasten, freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit wird geredet, je nach Perspektive stehen andere Fragen im Vordergrund. Der gemeinsame Trend ist klar: So einfach ist das nicht, aufhören zu Trinken. Mit einem Glas Wasser neben dem Sterbelager sei es nicht getan. Das brauche enge medizinische Begleitung, lange soziale Vorbereitung mit dem gesamten Umfeld, rechtliche Absicherung, intensive Betreuung, fundierte Ausbildung.

Tatsächlich ist das nicht so einfach, aufhören zu Trinken, vor allem in einer Pflegeeinrichtung. Das Pflegepersonal und besuchende Angehörige kümmern sich vor allem um eins: Trinken. Auch wenn der Lebensdurst gestillt ist. Mein Vater hat in seinen letzten Jahren im Heim brav getrunken, Tee, Wasser, Tee, Wasser. Bis er das Glas nicht mehr heben konnte. Da wurde ihm Flüssigkeit eingeflösst. Tee, Wasser. Bis er nicht mehr schluckte. Gott schenkte ihm Gnade.

Willentlich sterben sollte allseits bekannt sein als Alternative zu medizinaltechnischer Lebensverlängerung oder Selbsttötung. Willentlich sterben sollte gesellschaftlich anerkannt sein als Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem Dogma, dass Leben wie Tod in der alleinigen Verantwortung Gottes liege, und dem Ruf, Sterbe-Service-Anbieter endlich zu legalisieren. Rainer Maria Rilke lässt seinen Malte von einem Pariser Sterbehotel berichten,  in dem seit der Merowingerzeit Sterbezimmer vorhanden waren. Rilke beklagte, dass das Sterbehotel zu einer Sterbefabrik geworden sei und selbst die „Reichen, die es sich leisten könnten, ausführlich zu sterben, nachlässig und gleichgültig“ geworden sind. In Holland entstand die Idee für ein „Hotel am Horizont“, in dem Menschen mit dem Willen zur Selbsttötung verschiedene Dienstleistungen angeboten werden (auch Selbstmörder müssen nicht alleine sterben). Andere wünschen sich einen „Club Suizid“ in der Karibik. Sterbehilfeorganisationen sind eine Art Sterbeversicherung, für die man jährlich eine Prämie zahlt. Anders in Varanasi am heiligen Ganges: Das Sterbehotel verlangt bloss eine bescheidene Pauschale. Ein gastronomisches Angebot fehlt, dafür entkommt man so der Wiedergeburt.