Die Aufsicht überwacht den fensterlosen Raum, neben dem seitlichen Durchgang stehend. Der Blick des älteren, etwas nachlässig gekleideten Mannes sinkt immer wieder zu Boden, dann reisst er die Lider hoch, weitet die Augen und überblickt die Installation, den Besucherbereich, die Kontrolllämpchen, die Belichtung. Wenn er sich aus dem Dämmer hochreisst, in den es ihn hier zieht, sieht er ungefaltete Banknoten, vergegenwärtigt sich den eigentlichen Grund, weshalb er hier regungslos dasteht. Dann schweift sein Blick über die Ausstellung, wird leicht entrückt durch die gespiegelte Sicht und sinkt wieder, langsam, wie Blütenstaub. Die Installation verwehrt einen direkten Blick auf das Kunstobjekt. Erinnerungsfetzen an ein hölzernes Kruzifix in der Bauernstube, an archaische Maskenschnitzereien aus dem Oberwallis, an die Lust beim ersten Druck eines gelungenen Holzschnittes lösen sich auf in der klinischen Abstraktheit der Museumsluft. Jetzt ist es ein Gähnen, das den Museumswärter den Kopf heben lässt, der Nacken knackt leise.
Schritte nähern sich in seinem Rücken, das rhythmische Klacken von Frauenschuhen, begleitet vom fast geräuschlosen Auftreten von Gummisohlen klassischer Schnürhalbschuhe, in denen ein mittelgrosser, kurzhaariger Mann im besten Alter steckt. Dunkles Hemd, dunkles Jacket, in der linken Hand ein Tablet, auf dem sich Informationen zu den Exponaten abrufen lassen. Der Wächter nimmt den seltsamen Duft, den die Frau an sich trägt, wahr, und mustert die beiden. Ohne die an die Wand gelehnte Museumsaufsicht zu bemerken, begeben sich die Besucher zum Schauplatz. Von der Mitte des Raumes aus kann man über die Spiegelwand die gesamte Installation einsehen.
Eine ganze Weile versinken sie beide in die Betrachtung, die Blicke parallel, die Augen etwa auf gleicher Höhe. Sie greift nach seiner Hand. Rasch nimmt er das Tablet in die andere Hand und umgreift ihre Annäherung. Ohne sich zu ihr zu drehen, sagt er: „Das gefällt mir. Vordergründig thematisiert das Werk das Wertesystem der Weltreligionen und die Profanisierung der Ikonodulie, ja generell der Gestaltgebung, also der Kunst selbst. Aber das entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als blosse Hülle, als Paraphrase der Kunst in der Kunst und offenbart dann eine tiefe Leere, die aber im Betrachter verschiedene psychische Reaktionen auslösen kann.“
Sie sucht seinen Blick: „Welche psychischen Reaktionen? Was löst es bei Dir aus?“ Er sieht ihr kurz in die Augen, lässt ihre Hand los und blickt wieder in die Spiegelwand: „Verschiedenes. Ärger zum Beispiel über die Spiegelspielerei. Warum können wir nicht direkt auf die Skulptur schauen? Ist das der kunsttheoretische Diskurs? Dann aber auch Verwunderung über die unvermittelte Präsenz von höchst Abstraktem. Und die Nacktheit drängt sich immer wieder auf und ich befürchte, plötzlich Blut zu riechen. Und Du? Was sagst Du zu diesem Werk?“
Die Frau streift sich das Haar nach hinten auf den Rücken. „Ich finde es interessant, wie der Blick immer wieder vom Gesicht angezogen wird, obwohl es kaum ausgearbeitet ist. Es zeigen sich immer wieder andere Gesichtszüge. Einmal erinnert es an das Leiden Christi mit der Dornenkrone, dann verwandelt es sich in einen Tierkopf mit Hindu-Fratze, manchmal sieht man ein Buddha-Lächeln aufscheinen.“ Sie will wieder nach seiner Hand greifen, aber er streicht über sein Tablet: „Hier sind nur technische Angaben zu Material, Herstellung, Ausmassen und dergleichen; keinerlei Informationen über Entstehungsgeschichte, Motive oder historische Bezüge“, stellt er enttäuscht fest. Er greift nun nach ihrer Hand und zieht sie aus ihrer Versunkenheit Richtung Ausgang. Jetzt nimmt sie die Museumswache wahr und hebt die Mundwinkel für einen kurzen Moment. Der Wärter hält seinen Blick gesenkt. Es ist ihm peinlich, wenn den Besuchern bewusst wird, dass er alles beobachtet und mitgehört hat.
Ich kann mich räumlich lokalisieren. Ich bin im Kopf der Statue, die Zentrum der Kunstinstallation ist. Das spüre und weiss ich. Das ist meine Gewissheit. Keine Ahnung, warum ich existiere oder was ich bin. Aber wer ich bin ist klar: Der Geist dieses xenomirigen Exponats. Hegel meinte zwar, dass ein Kunstwerk ein „ganz gemein äußerlicher Gegenstand (ist), der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß“, aber seither hat sich die Kunsttheorie wie auch die Material- und Informationstechnologie stark verändert, keine Ahnung, wie das bei mir vor sich geht. In einem bestimmten Sinne sehe ich: Ich kenne den Museumswärter, und zwar unabhängig von seinem temporären Museumsjob. Ich beobachte die Museumsbesucher. Mit manchen gelingt es mir, Blickkontakt aufzunehmen, was regelmässig schmunzeln oder lächeln hervorruft. Ich weiss, wie ich als Kunstinstallation aussehe, obwohl ich nur in den Spiegel blicke, aus dem mich die Blicke der Besucher mustern. Ich liege mit ausgestreckten Armen auf einem gepolsterten kreuzförmigen Podest. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für meinen Gesichtsausdruck, obwohl ich rein mental bin. In meinem Schoss steht ein – anikonisches! – Lingam. Das Linga ist mit Ghee übergossen. In den Handflächen befindet sich ein Tröpfchen Blut. Wenn der Nachtwächter das Licht löscht, werde ich bewusstlos. Mein Bewusstsein weiss sich wieder, wenn das Licht angeht. Vielleicht krieg ich nächtlichen Besuch von Sicherheitsleuten mit grellen Handlampen. Ich kenne meine Beschaffenheit, meine Eigenschaften, meine Bestimmung. Und ich habe das Gefühl, die gesamten Gedankengänge meines Gestalters mitgedacht zu haben, wenn auch oft in kritischer Distanz. Ich kann zwar seine anikonische Gestaltungstheorie nachvollziehen, aber das nützt mir als Exponat herzlich wenig. Ich fühle mich manchmal wie ausgestellt, von einer anderen Welt.
Jetzt betrachtet mich die Museumswache, er sieht mir in die Augen. Er erkennt mich nicht. Ich friere meinen neutralen Gesichtsausdruck ein und werfe seinen Blick zurück, durch seine Augen hindurch. Ich blicke durch ihn hindurch wie durch ein Vakuum. Das scheint er zu mögen, gerät er doch in Verzückung über den plötzlichen Durchblick und versinkt in sich selbst. Bis der Sicherheitsmann ihn anstupst und einen schönen Abend wünscht. Der Nachtwächter sieht mich kurz an, schüttelt den Kopf und löscht