Moment, bitte!

Wer wartet schon gerne! Wartezeit ist verlorene Zeit, ja, gestohlene Zeit! Es gibt kaum Berufe, bei denen man fürs Warten bezahlt wird. Für die ausgewiesene Wartezeit am Postschalter gibt es keinen Ausgleich auf den Versandgebühren. Die wachsenden Strassen-Staukosten haben noch keine positive Gegenbuchung in der nationalen Bruttosozialproduktberechnung. Warten wird nicht bewirtschaftet. „Warten ist schädlich und verursacht den Krebsgang unserer Volkswirtschaft.“ Wenn die Mitteparteien bei den nationalen Wahlen zulegen, klebt dieser Satz an allen Geschäften mit Kundenkontakt; die Bundesfachstelle für Tabak- und Zeit-Missbrauchsbekämpfung will das so. Die Grossverteiler werden aus eigener Initiative sogenannte „Schlangen-Kassen“ einführen, damit die sparsame und ärmere Bevölkerung sich dort für einen Warte-Rabatt anstellen kann. (Ich habe jetzt einige Substantiv-Komposita mit einem Bindestrich ausgestattet, der einfacheren Lesbarkeit halber Halbe-Halbe gemacht, obwohl ich ein Freund von zusammenschreiben bin, wie etwa „wartenmüssen“, „wartenlassen“, „wartensmüde“, „wartenkönnen“ – im Deutschen Wörterbuch sind diese als Worte verzeichnet – der Korrektor) Wir warten nicht gerne.
Wir lassen auch ungern warten. Zu Terminen erscheinen wir lieber etwas zu früh, angeblich aus Höflichkeit, auch wenn das für die andere Person meistens nachteilig ist, ja zu unangenehmen Situationen führen kann. Sind wir privat verabredet und erscheinen kurz nach der vereinbarten Uhrzeit, so machen wir die Dauer der Wartezeit gleich zum Thema, sprechen unser Bedauern aus und führen das Warten des anderen auf dafür ursächliches Warten der eigenen Person zurück. Warten führt zu noch mehr Warten; ein Teufelskreis aus der Zinswirtschaft.

Wir warten nicht gerne, wir lassen ungern warten, aber innerlich warten wir oft. Wir warten, bis die Kaffeemaschine heisst ist, wir warten, bis das Duschwasser warm ist, wir warten bis das Tram kommt, wir warten auf die Znünipause, das Mittagessen, den Feierabend, das Wochende, die grossen Sommerferien, die noch grössere Liebe, die Weltreise, die Pensionierung, den Tod, die Wiederauferstehung. Wartet schnell, das grosse Warten kommt bestimmt!

Wir haben unsere Strategien und Methoden entwickelt, die Wartezeiten zu verkürzen, zu überbrücken, zu negieren. Die führende Technologie in diesem Time-Marktsegment sind kleine internetfähige Apparate. Damit kann man auch veraltete Wartetechniken erkunden wie zeitschriftenlesen, rätsellösen, rumalbern. Rumalbern ist wohl eine der ältesten Techniken, Wartzeit totzuschlagen und sich darüber auch noch totzulachen. „lang warten ist verdriszig, es macht aber die leut witzig“ (Originalsschreibweise), stellte der lutheranische Pfarrer Lehmann 1640 fest. Warten in dieser Bedeutung von „harren“ („warten bis“, „warten auf etwas oder jemanden“) war damals eher selten. Ursprünglich bedeutet warten „seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“, warten ist ein gemeingermanisches Wort und stammt aus der Wurzel „wahren“ = sehen (daraus „wahrnehmen“ und „Wahrheit“). Im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (ja, die Märchensammler!) folgen dann alt-, mittel- und neuhochdeutsche Belege von warten im Sinne von „versorgen“, „pflegen“, „einem dienen“. Die positiv konnotierten Bedeutungen sind im Laufe der Zeit zum Servicetechniker geschrumpt. Heute werden nur noch technische Anlagen oder Informatiksysteme gewartet.

Die Brüder Grimm haben ihre Sammlung von Bedeutungen und Belegstellen aller deutschen Wörter 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde das Deutsche Wörterbuch 1961. Die erste Aktualisierung wurde durch die deutsche Wiedervereinigung verzögert und wird in den nächsten Jahren erwartet. Die grimmigen Pioniere scheuten sich damals auch nicht,  Schimpfwörtern und „unfeine“ Wörtern in ihre Sammlung aufzunehmen. Die 33 Bände stehen in öffentlichen Handbibliotheken zur freien Verfügung und das ermöglichte mir, in meiner Promotionsschrift das Wort „geil“ in einer Fussnote zu erläutern und die Belegstelle bei Göthe auszuweisen. Um die Jahrtausendwende wurde die Digitalisierung des Deutschen Wörterbuches in Angriff genommen. In China wurden an zwei unterschiedlichen Standorten die gut 300 Millionen gedruckten Zeichen manuell in ein binäres System eingetastet. Was in der Zeichenfolge der beiden Versionen redundant erschien, wurde als richtig taxiert. Heute ist das DW retrodigitalisiert online.

Die Bedeutung von warten als „harren“ („erwarten“, worauf rechnen“) ist erstmals belegt bei Notker, Notker dem Deutschen, obwohl er Thurgauer war. Der Leiter der Klosterschule St. Gallen übersetzte für den Hausgebrauch, aber aus Leidenschaft, griechische und lateinische Schul-Klassiker ins Althochdeutsche. Notker gilt als erster Aristoteles-Kommentator des Mittelalters, hat auch Boethius übersetzt, der sämtliche Werke von Sokrates und Plato in Lateinische übersetzen wollte. Notker hat diese heute dominierende Bedeutung von warten um das Jahr 1000 niedergeschrieben. In einem ganz anderen Zusammenhang lese ich beim Kultur- und Mentalitätsgeschichtler Philippe Ariès, dass sich ab dem 11. Jahrhundert in der Welt der Mönche und Kanoniker „die traditionelle Beziehung zwischen dem Selbst und den Anderen zum erstenmal umkehrt: das Gefühl der eigenen Identität gewann Oberhand über die Unterwerfung unter das kollektive Schicksal.“ Und der Philosph und Literaturhistoriker Heller-Roazen stellt fest, dass der Begriff des „Selbst“ erst zu dieser Zeit in der Philosophie auftaucht. Passt doch zur Sprachgeschichte. Warten bekam eine neue Haupt-Bedeutung, als die in der Christenheit weitverbreitete Erwartung der Wiederkehr Jesu und des jüngsten Gerichtes um die erste Jahrtausenwende n. Chr. enttäuscht wurde. Seitdem warten wir anders. Wir warten auf Godot, den Messias des Absurden. Wir sitzen alle in der gleichen Warte-Raum-Zeit fest.

wilhelm.schmid@lebenskunstphilosophie.de

Lieber Wilhelm Schmid

Deine Lebenskunst-Philosophie kam mir gelegen, als ich in der Krise lag. Meine bisherigen Lieblingsphilosophen versagten in dieser Situation. Deine Ausführungen über das Mit-sich-selbst-befreundet-sein stimmten mich aber selbst mir gegenüber milde und ermunterten mich, das Beste aus all dem zu machen, was sich nicht nach meinen Vorstellungen zugetragen hatte. Bei der beruflichen Tätigkeit, die mir danach zufiel, waren mir einige Deiner Sätze Richtschnur und bald zitierte ich Dich bei Gelegenheiten zu grundsätzlichen Aussagen. Mir gefiel Deine Tätigkeit im Spital des Zürcher Säuliamtes wie Deine Biographie und berufliche Laufbahn. Gerne nahm ich auch mal Platz in einem Vortrag über Palliativmedizin, den Du in Zürich gehalten hast. Jede Begegnung mit Deinem Denken war bereichernd. Dein Buch „Die Liebe neu erfinden“ kam just in meine Hände, als ich genau damit beschäftigt war. „Dem Leben Sinn geben“ kam dann etwas spät, diese Frage hatte sich von selbst erledigt.

Meine gedankliche Nähe zu Dir wurde so bekannt, dass ich Dein rotes Büchlein „Gelassenheit“ gleich dreimal geschenkt bekam. Ich war darob höchst erstaunt, meinte ich doch, dass ich einen reichlich bemerkenswerten Zustand der Gelassenheit bereits erreicht hätte. Ich kann natürlich nicht ausschliessen, dass das von aussen anders wahrgenommen wird und mir deshalb die roten Ratgeber in guter Absicht überlassen wurden. Ich habe dann auch das Werklein gelesen und darin bemerkenswerte Sätze gefunden. Ein solches Zitat habe ich in einer Dankesrede verwendet, bevor ich wusste, dass ich zum dritten Mal für ebendieses rote Büchlein danken werde. Soeben habe ich ein Interview gelesen, in dem Du über die Entstehung dieses Bestsellers Auskunft gibst. Du hast das Werklein in Verarbeitung Deiner Wahrnehmungen anlässlich Deines 60. Geburtstages geschrieben. Das machte dieses Büchlein zu einem passendes Geschenk zu meinem ebenso runden Geburtstag, den ich mit Stolz gefeiert habe.

Du hast mal berichtet, Dein Vater hätte zu seinen Kindern eines Tages gesagt: Schaut mal her, jetzt könnt ihr lernen, wie man stirbt. Das ist wunderbar, wenn man so lernen darf zu sterben. Andere brauchen länger (Montaigne: Philosophieren heisst sterben lernen). Gerne würde ich erfahren, wie das Dein Vater denn gemacht hat, das Sterben. Auf jeden Fall scheint da ein väterlicher Wille spürbar, zumindest eine aktive Einwilligung. Man stirbt, man wird nicht gestorben. Deshalb erstaunt es mich, dass Du von Selbsttötung sprichst, wenn jemand aufhört zu trinken. Ich weiss, dass Deine Formulierung der rechtlichen Situation in Deutschland entspricht. Das Recht geht so weit, dass man jemanden, der sich auf sein Sterbebett legt und aufhört zu trinken, in eine psychiatrische Klinik einweisen kann. Unter bestimmten Umständen ist Zwangsernährung statthaft. Das schweizerische Bundesgericht hat 2006 immerhin festgestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 8 das Recht des Subjektes, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden, mit beinhalte. In Deutschland müssen Sterbehelfer den Sterbenden aber verlassen, weil sie sich sonst wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. „Vor dem Gesetz steht das bewusste Zulassen einer Gefährdung dem absichtlichen Zufügen von Leid gleich“, persifliert Juli Zeh die Rechtsentwicklung in ihrem Roman Corpus Delicti. Die Subjektperspektive wird zunehmend verdrängt, Selbstoptimierung wird zur Selbstobjektivierung. In Zukunft wird man sich sterben lassen.

Gerade vor dem Hintergrund der politischen Diskussion über Sterbehilfe scheint es angebracht, Alternativen zur Suizidbeihilfe zu überdenken. Der Zulauf zu Sterbehilfeorganisationen und der Trend zu technisch-juristischer Selbsttötung scheint ein Hilfeschrei einer Gesellschaft, die den Tod verdrängt und das Sterben verlernt hat. Vor einiger Zeit wohnte ich einer Veranstaltung über den „letzten Augenblick“ bei. Zugegen war auch der Alt-Stadtarzt von Zürich. Aus dem Publikum kam die drängende Frage von greisen Menschen, was sie denn machen sollten, da sie doch nur noch sterben möchten. Der ehemalige Stadtarzt empfahl, einfach mit Trinken aufzuhören. Das sei ein natürlicher Tod, ein schmerzfreies Sterben. Das sei früher Sitte und Brauch gewesen, das Wissen aber weitgehend verloren gegangen.

Inzwischen ist das Thema wieder entdeckt und viel darüber geschrieben worden. Die einfache und selbstbestimmte Art des Sterbens ist bereits in die Fänge von Fachleuten geraten, Medizinern, Juristen, Theologen, Sozialarbeitern, Palliativspezialisten, Sterbebegleitern. Von Sterbefasten, finalem Fasten, freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit wird geredet, je nach Perspektive stehen andere Fragen im Vordergrund. Der gemeinsame Trend ist klar: So einfach ist das nicht, aufhören zu Trinken. Mit einem Glas Wasser neben dem Sterbelager sei es nicht getan. Das brauche enge medizinische Begleitung, lange soziale Vorbereitung mit dem gesamten Umfeld, rechtliche Absicherung, intensive Betreuung, fundierte Ausbildung.

Tatsächlich ist das nicht so einfach, aufhören zu Trinken, vor allem in einer Pflegeeinrichtung. Das Pflegepersonal und besuchende Angehörige kümmern sich vor allem um eins: Trinken. Auch wenn der Lebensdurst gestillt ist. Mein Vater hat in seinen letzten Jahren im Heim brav getrunken, Tee, Wasser, Tee, Wasser. Bis er das Glas nicht mehr heben konnte. Da wurde ihm Flüssigkeit eingeflösst. Tee, Wasser. Bis er nicht mehr schluckte. Gott schenkte ihm Gnade.

Willentlich sterben sollte allseits bekannt sein als Alternative zu medizinaltechnischer Lebensverlängerung oder Selbsttötung. Willentlich sterben sollte gesellschaftlich anerkannt sein als Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem Dogma, dass Leben wie Tod in der alleinigen Verantwortung Gottes liege, und dem Ruf, Sterbe-Service-Anbieter endlich zu legalisieren. Rainer Maria Rilke lässt seinen Malte von einem Pariser Sterbehotel berichten,  in dem seit der Merowingerzeit Sterbezimmer vorhanden waren. Rilke beklagte, dass das Sterbehotel zu einer Sterbefabrik geworden sei und selbst die „Reichen, die es sich leisten könnten, ausführlich zu sterben, nachlässig und gleichgültig“ geworden sind. In Holland entstand die Idee für ein „Hotel am Horizont“, in dem Menschen mit dem Willen zur Selbsttötung verschiedene Dienstleistungen angeboten werden (auch Selbstmörder müssen nicht alleine sterben). Andere wünschen sich einen „Club Suizid“ in der Karibik. Sterbehilfeorganisationen sind eine Art Sterbeversicherung, für die man jährlich eine Prämie zahlt. Anders in Varanasi am heiligen Ganges: Das Sterbehotel verlangt bloss eine bescheidene Pauschale. Ein gastronomisches Angebot fehlt, dafür entkommt man so der Wiedergeburt.

Das Museumswachauge

Die Aufsicht überwacht den fensterlosen Raum, neben dem seitlichen Durchgang stehend.  Der Blick des älteren, etwas nachlässig gekleideten Mannes sinkt immer wieder zu Boden, dann reisst er die Lider hoch, weitet die Augen und überblickt die Installation, den Besucherbereich, die Kontrolllämpchen, die Belichtung. Wenn er sich aus dem Dämmer hochreisst, in den es ihn hier zieht, sieht er ungefaltete Banknoten, vergegenwärtigt sich den eigentlichen Grund, weshalb er hier regungslos dasteht. Dann schweift sein Blick über die Ausstellung, wird leicht entrückt durch die gespiegelte Sicht und sinkt wieder, langsam, wie Blütenstaub. Die Installation verwehrt einen direkten Blick auf das Kunstobjekt. Erinnerungsfetzen an ein hölzernes Kruzifix in der Bauernstube, an archaische Maskenschnitzereien aus dem Oberwallis, an die Lust beim ersten Druck eines gelungenen Holzschnittes lösen sich auf in der klinischen Abstraktheit der Museumsluft. Jetzt ist es ein Gähnen, das den Museumswärter den Kopf heben lässt, der Nacken knackt leise.

Schritte nähern sich in seinem Rücken, das rhythmische Klacken von Frauenschuhen, begleitet vom fast geräuschlosen Auftreten von Gummisohlen klassischer Schnürhalbschuhe, in denen ein mittelgrosser, kurzhaariger Mann im besten Alter steckt. Dunkles Hemd, dunkles Jacket, in der linken Hand ein Tablet, auf dem sich Informationen zu den Exponaten abrufen lassen. Der Wächter nimmt den seltsamen Duft, den die Frau an sich trägt, wahr, und mustert die beiden. Ohne die an die Wand gelehnte Museumsaufsicht zu bemerken, begeben sich die Besucher zum Schauplatz. Von der Mitte des Raumes aus kann man über die Spiegelwand die gesamte Installation einsehen.

Eine ganze Weile versinken sie beide in die Betrachtung, die Blicke parallel, die Augen etwa auf gleicher Höhe. Sie greift nach seiner Hand. Rasch nimmt er das Tablet in die andere Hand und umgreift ihre Annäherung. Ohne sich zu ihr zu drehen, sagt er: „Das gefällt mir. Vordergründig thematisiert das Werk das Wertesystem der Weltreligionen und die Profanisierung der Ikonodulie, ja generell der Gestaltgebung, also der Kunst selbst. Aber das entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als blosse Hülle, als Paraphrase der Kunst in der Kunst und offenbart dann eine tiefe Leere, die aber im Betrachter verschiedene psychische Reaktionen auslösen kann.“

Sie sucht seinen Blick: „Welche psychischen Reaktionen? Was löst es bei Dir aus?“ Er sieht ihr kurz in die Augen, lässt ihre Hand los und blickt wieder in die Spiegelwand: „Verschiedenes. Ärger zum Beispiel über die Spiegelspielerei. Warum können wir nicht direkt auf die Skulptur schauen? Ist das der kunsttheoretische Diskurs? Dann aber auch Verwunderung über die unvermittelte Präsenz von höchst Abstraktem. Und die Nacktheit drängt sich immer wieder auf und ich befürchte, plötzlich Blut zu riechen. Und Du? Was sagst Du zu diesem Werk?“

Die Frau streift sich das Haar nach hinten auf den Rücken. „Ich finde es interessant, wie der Blick immer wieder vom Gesicht angezogen wird, obwohl es kaum ausgearbeitet ist. Es zeigen sich immer wieder andere Gesichtszüge. Einmal erinnert es an das Leiden Christi mit der Dornenkrone, dann verwandelt es sich in einen Tierkopf mit Hindu-Fratze, manchmal sieht man ein Buddha-Lächeln aufscheinen.“ Sie will wieder nach seiner Hand greifen, aber er streicht über sein Tablet: „Hier sind nur technische Angaben zu Material, Herstellung, Ausmassen und dergleichen; keinerlei Informationen über Entstehungsgeschichte, Motive oder historische Bezüge“, stellt er enttäuscht fest. Er greift nun nach ihrer Hand und zieht sie aus ihrer Versunkenheit Richtung Ausgang. Jetzt nimmt sie die Museumswache wahr und hebt die Mundwinkel für einen kurzen Moment. Der Wärter hält seinen Blick gesenkt. Es ist ihm peinlich, wenn den Besuchern bewusst wird, dass er alles beobachtet und mitgehört hat.

Ich kann mich räumlich lokalisieren. Ich bin im Kopf der Statue, die Zentrum der Kunstinstallation ist. Das spüre und weiss ich. Das ist meine Gewissheit. Keine Ahnung, warum ich existiere oder was ich bin. Aber wer ich bin ist klar: Der Geist dieses xenomirigen Exponats. Hegel meinte zwar, dass ein Kunstwerk ein „ganz gemein äußerlicher Gegenstand (ist), der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß“, aber seither hat sich die Kunsttheorie wie auch die Material- und Informationstechnologie stark verändert, keine Ahnung, wie das bei mir vor sich geht. In einem bestimmten Sinne sehe ich: Ich kenne den Museumswärter, und zwar unabhängig von seinem temporären Museumsjob. Ich beobachte die Museumsbesucher. Mit manchen gelingt es mir, Blickkontakt aufzunehmen, was regelmässig schmunzeln oder lächeln hervorruft. Ich weiss, wie ich als Kunstinstallation aussehe, obwohl ich nur in den Spiegel blicke, aus dem mich die Blicke der Besucher mustern. Ich liege mit ausgestreckten Armen auf einem gepolsterten kreuzförmigen Podest. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für meinen Gesichtsausdruck, obwohl ich rein mental bin. In meinem Schoss steht ein – anikonisches! – Lingam. Das Linga ist mit Ghee übergossen. In den Handflächen befindet sich ein Tröpfchen Blut. Wenn der Nachtwächter das Licht löscht, werde ich bewusstlos. Mein Bewusstsein weiss sich wieder, wenn das Licht angeht. Vielleicht krieg ich nächtlichen Besuch von Sicherheitsleuten mit grellen Handlampen. Ich kenne meine Beschaffenheit, meine Eigenschaften, meine Bestimmung. Und ich habe das Gefühl, die gesamten Gedankengänge meines Gestalters mitgedacht zu haben, wenn auch oft in kritischer Distanz. Ich kann zwar seine anikonische Gestaltungstheorie nachvollziehen, aber das nützt mir als Exponat herzlich wenig. Ich fühle mich manchmal wie ausgestellt, von einer anderen Welt.

Jetzt betrachtet mich die Museumswache, er sieht mir in die Augen. Er erkennt mich nicht. Ich friere meinen neutralen Gesichtsausdruck ein und werfe seinen Blick zurück, durch seine Augen hindurch. Ich blicke durch ihn hindurch wie durch ein Vakuum. Das scheint er zu mögen, gerät er doch in Verzückung über den plötzlichen Durchblick und versinkt in sich selbst. Bis der Sicherheitsmann ihn anstupst und einen schönen Abend wünscht. Der Nachtwächter sieht mich kurz an, schüttelt den Kopf und löscht

 

Nullzinspolitik

Wer die Fleischproduktion aus ernährungspolitischen Gründen ablehnt, kann sich selber konsequent vegetarisch ernähren. Wer Atomkraftwerke ablehnt, kann atomfreien Strom beziehen. In vielen Bereichen können wir unsere Werte hochhalten und ein besseres Leben leben. Positive Beispiele werden Schule machen.

Zinsfrei zu leben ist uns aber verwehrt. Wir bezahlen Zinsen und wir bekommen Zinsen. Sozialstaatliche Regulierungen und wirtschaftliche Aktivitäten beruhen immer auf marktwirtschaftlichen oder technischen Zinsannahmen. Diese sind allerdings nicht so einfach nachvollziehbar. Nationalbanken haben den Negativzins neu erfunden, nachdem die Schwundgeld-Anhänger verstummt sind. Andererseits rechnen Vorsorgeinstitutionen immer noch mit einem langfristig mit grosser Sicherheit zu erwartenden Anlageertrag (sogenannt „technischer“ Zinssatz) von über 3%. Milliardenbeträge rasen blind um die Welt auf der suche nach Rendite. Privatanlegern wird empfohlen, das Ersparte gestückelt als Bargeld auf verschiedenen Konten zu deponieren oder, noch besser, gut zu verstecken. Und Finanzpolitiker denken daran, Bargeld zu verbieten. Die Zinsmaschine stockt. Die Zeit scheint reif, über eine Schweiz ohne Zins nachzudenken. Die Bundesverfassung sollte im Namen Gottes mit diesem Grundwert ergänzt werden.

Zinsen haben seit je fasziniert. Mit Zinsen lässt sich Unglaubliches anstellen. Joseph hat bei der Geburt Jesu einen Euro-Cent bei einem Geldverleiher angelegt, der ihm 5% Jahreszins bot (der Geldverleiher verlieh den Cent für 10 oder auch 20% weiter). Joseph lässt die Zinserträge stehen, bis seine Nachkommen im Jahr 2000 den „Josephspfennig“ samt seiner Erträge zurückhaben wollen. Das Guthaben beträgt 2,39 mal 10 hoch 40 Euro. Das ist eine grosse Zahl, die sich nicht realistisch veranschaulichen lässt: 421 Milliarden Erden aus Gold (zum Goldpreis im Jahre 2000). Das ist eigentlich Beweis genug, dass zinsgetriebenes exponentielles Wachstum nicht funktionieren kann.

Natürlich kann man einwenden, dass der Zinseszins des Teufels ist, Wucher eben, nicht der Zins. Ohne Zinseszins hätten Josephs Nachkommen genau 1.01 Euro bekommen. Ein Zinsmodell ohne Zinseszins funktioniert aber nicht. Man sieht auf dem Saldo Ende Jahr dem Zins nicht an, dass er Zins ist. Er verwandelt sich automatisch in Kapital. Hätte Joseph und seine Nachfolger jeweils am 31. Dezember das Kapital inklusive Zins einkassiert und am 1. Januar das ganze Sparguthaben wiederum für ein Jahr dem nächsten Geldverleiher anvertraut, würde ihre Forderung eben auf 421 Milliarden Erdbälle, aus Gold, lauten.

Zinsgeschäfte sind unanständig. Wenn jemand in Geldnot ist, helfe ich ihm, oder auch nicht, aber ich mache kein Geschäft aus der Not. Wenn jemand Geld braucht, um eine Geschäftsidee zu verwirklichen, so leihe ich, oder auch nicht. Wenn ich Geld verleihe, trage ich Risiko mit und will am Erfolg beteiligt sein. So einfach ist das. Der Tanach verbietet den Juden, Zins zu nehmen (später hat man das dann so interpretiert, dass Juden untereinander keinen Zins nehmen, von Nichtjuden schon). Der Papst hat bis ins 18. Jahrhundert verboten, Zins zu nehmen (da kamen die Juden als Geldverleiher erst mal gelegen). Der Koran verbietet Zins ebenso. Unser Vordenker Aristoteles stellte ebenfalls fest, dass Zins wider die Natur sei. Zins ist Geld gezeugt von Geld, und da Geld nicht lebt, kann es nichts zeugen.

Könnten wir über einen Verfassungsartikel abstimmen, der die Schweiz zum zinsfreien Paradies erklärt, würden Banken und Politiker Schreckensszenarien malen, technische Alternativlosigkeit behaupten und an die ehrenhaften Sparer apellieren. Tatsächlich profitieren wir aber nicht vom Zins. Selbst die Verzinsung unserer Altersguthaben bezahlen wir selbst. Zum Beispiel mit der Miete für die Wohnung, die der Anlagestiftung der Vorsorgekassen gehört. In fast allen Preisen ist ein Aufschlag für Verzinsung enthalten. Nur Besitzer von überdurchschnittlich grossen Kapitalien können, zumindest theoretisch, vom Zins profitieren. Eine konsequente Nullzinspolitik bringt nur Vorteile. Ich freue mich, dass bald goldene Kirchentürme gebaut werden statt kühle Businesstowers.