(Weil dieser Text von der Arbeit handle und auch politisch sei wurde er vom Herausgeber bis am Montag morgen zurückgehalten. Ich vermute aber andere Gründe – d.Vf.)
Ich lebe jetzt als Privatier im Sinne von „nicht angewiesen sein auf ein in der Öffentlichkeit zu führendes Erwerbsleben“. Ich habe mich selbst privatgesagt. Das war eine Gelegenheit, sich selbst wieder mal neu zu definieren. Privatier & Author steht in gestanzten, kursiven und übergoldeten Lettern auf meiner Visitenkarte.
Der Wechsel vom öffentlichen Berufsleben ins Privatleben ist ein bemerkenswertes Phänomen. Bei einem Teil dieser Art Wechsler kann sich dieses Phänomen in Form von Glücksgefühlen zeigen, bei einem anderen Teil stehen Verlustgefühle im Vordergrund. In der Menschheitsgeschichte ist dieses Wechsel-Phänomen erst vor kurzem aufgetaucht. Bei Hannah Arendt ist das Gegenstück der Privatheit die politische Öffentlichkeit, das Berufsleben zählte zum Privatleben. Die politische Öffentlichkeit ist die objektivierende Sozialinstanz. Heute ist die Berufswelt stark politisiert. Das Fundament des Politischen und des Staates ist nicht der Einzelne, die Familie oder irgendwelche Clans, sondern die Berufswelt. Im Berufsleben reproduziert sich das kapitalistische Wachstumsmodell, sowohl in der privaten wie in der öffentlichen Wirtschaft: Staatssozialpolitikmonopolkapitalismus, kurz Stasopomokap (ausführliche theoretische Ausführungen s. Kerlchen Marxer; Strategien zur Überwindung des Stasopomokap s. Leni Trotziger). In der Berufswelt sind Privatmensch und wirtschaftliche Rolle eigentlich eins, der einzelne ist Subjekt und Objekt zugleich. Nicht ständig diese Seins-Modi zu wechseln oder diese unterschiedlichen Perspektiven einzunehmen verlangt eine hohe Kompetenz an integriertem Work-life-balanceing. Nach Ansicht der jüngsten psychologischen Forschung gehört die systematische Förderung dieser Kompetenz zum Kernauftrag der Schuleingangsstufe. War gar nicht so einfach, eine Kontrollgruppe von schlecht ausgewogener oder desintegrierter Work-life-Balnce bei Vorschulkindern zu bilden. Das schwierigste war aber die Abgrenzung des integrierten Work-life-balanceings gegenüber dem desintegrierten Vorgänger, aber auch gegenüber dem Sprössling namens Work-life-blending. Ich gebe gerne zu, dass ich da eine, zwei neue statistische Definitionen der bisherigen Lehre hinzufügen musste, um der Logik genüge zu tun. Aber dieses Blending ist einfach ein stilloser sprachlicher Abklatsch eines soziologischen Phänomens. Ich würde nach der Arbeit eher einen Single Malt vorzischen
Jetzt hab ich mich verloren, in den Figuren, dem Erzähler und so. Ich aktiviere gleich wieder den auktorialen Modus, der die Welt beschreibt (der Herausgeber mischt sich in alles rein, aber solche Sätze lässt er stehen – d. Vf.)
„Privatmensch“ ist ein tautologisches Kompositum, doppeltgemoppelt in einem Wort. Jeder Mensch hat qua seines Subjekt-Seins ein inneres Privatleben und schafft sich zusätzlich eine äussere Privatspäre. Die Privatsphäre umfasst schliessbare Räumlichkeiten, ist aber nach heutiger Auffassung eine Art energetische Aura, die es vor Überwachungskameras und Datenstaubsaugern sorgfältig abzuschirmen gilt. „Privatperson“ tönt zwar juristisch, wird aber in der Jurisprudenz als „natürliche Person“ bezeichnet, im Gegensatz zur juristischen Person, einer sprachlich befremdenden Schöpfung der Rechtswissenschaften, welche insbesondere wirtschaftlichen Organisatinen einen personalen Subjektstatus zubilligt. Den Status einer natürlichen Person kann man dank seiner Konstruiertheit nicht verlieren, Privatpersonen hingegen wurden aus Sicht der Staatlichkeit im Sterbebuch mit „Klostertod“ registriert und verloren alle personalen Rechte, wenn Sie sich für ein Klosterleben entschieden. So war das.
Ganz so trennscharf sind Privates und Beruflich-Öffentliches nicht, aber die Regeln gehen von einer klaren Trennbarkeit aus. Privates darf in einem Bewerbungsgespräch nicht thematisiert werden. Niemand fragt beim Networking-Stehlunch den Nachbarn, was er denn privat so mache. Privates und Persönliches lässt man zu Hause oder hängt sie in den Garderobenschrank. Man zieht sich die neutrale Funktionsuniform über und stellt seine Ratio in den Dienst der beruflichen Sache. Man arbeitet mit gesicherten Methoden, Techniken, Skills und komplexen Instrumentarien an objektiv messbaren Zielen. Der eigene Umgang mit seiner Persönlichkeit wird dank Selbstkompetenz-Training professionalisiert und optimiert. Wir machen uns selbst als Subjekt ersetzlich. Die Selbstoptimierung unterminiert das Selbst selbst.
Auf der anderen Seite ist man im Beruf als ganzer Mensch gefordert. Auf der psychischen Ebene werden Identifikation und Leidenschaft als berufliche Tugenden gepriesen, Empathie und angemessene Emotionalität, Selbstreflexivität, Authentizität, Ganzheitlichkeit, Achtsamkeit, gesteigerte Präsenz, nachhaltige Wachstumsorientierung (ökonomisch) und Nachhaltigkeitswachstumsorientierung (ökologisch) sollen wir an den Tag legen. Die Ars laborandi entwickeln. Philosophen werden an Meetings zitiert. Spiritualität überflutet die Managementlehre, die patentierbaren Techniken füllen Leadership-Seminare. Auch psychisch und geistig sieht sich das Subjekt mit einer Selbsoptimierungsanforderung konfrontiert, welche die Selbstobjektivierung normalisiert. Das Selbst ist nichts Gegebenes. Das Selbst kann man nicht aus dem Nicht-Selbst ableiten. Aber auch Selbstreflexion und Metakognition taugen nicht als Leitplanken. Wir müssen, folgerte Foucaut, unser Selbst stets neu begründen, herstellen, anordnen. Jeden Tag eine neue Gelegenheit, sich zu definieren. Heute bin ich Montag.